Christian Broecking


A Feeling For Someone

Liner Notes Intakt CD 134 (dt + engl.)

 

Von der musikalischen Sprache her war Steve Lacy sehr narrativ, und genau das sei auf jenem kleinen Instrument extrem schwierig. Das Sopran bereitet schnell Kopfschmerzen, es braucht große Disziplin, um es zu spielen.


Die meisten dieser Aufnahmen entstanden an Jürg Wickihalders 33. Geburtstag. Zufall, sagt er. Die Titel zu den Stücken fand er meist erst nach der Komposition, es ist wichtig für ihn, dass sie stimmen. Ein Bild ergeben, eine Atmosphäre. Als er aus dem Studio kam, sei ihm bewusst geworden, dass die meisten Stücke jeweils mit einem Musiker, der einmal sehr wichtig für ihn war, verbunden sind. «Ridge Dancers» für Ornette Coleman – nichts Harmolodisches, sondern ein Bild, das passt. «Autumn Child» zu Miles Davis, «The Coach» zu Duke Ellington, «The Sun» zu Charlie Parker, «Apology» zu Stan Getz, «The Last Breath» zu Steve Lacy und «Caring» zu Coltrane: Das Tenor, die Hymne. Wie eine große Umarmung, die Liebe und Hoffnung gibt. Jürg Wickihalder kann sich vorstellen, wie diese Musiker seine Stücke gespielt hätten. Es geht ihm dabei nicht um kompositorische Details, vielmehr um Zuordnungen: Spürbares, Intuitives, Intimes auch. «A Feeling for Someone» ist der gefühlsbetonte Schnitt, fasst zusammen, was bisher war. Es ist Wickihalders erste CD mit eigener Musik. Man kann die acht Komposition dieser CD, «Lovers» ist der «slowakische Hochzeitswalzer» von Wickihalder und seiner Frau, auch als Film hören, als die Vertonung von wichtigen Begegnungen und Erfahrungen im Leben des 34-jährigen Sopransaxofonisten. Es sind besondere Lieder geworden, einfache, schöne Dinge, sehr gesanglich. «The Last Breath» ist mittlerweile schon zu einem Quartettstück mit Text und Gesang weiterentwickelt, ein Liebeslied, das Wickihalder ursprünglich jenen Menschen aus seiner näheren Umgebung gewidmet hat, die viel zu früh gestorben sind.


Die meisten Kompositionen sind während langer Spaziergänge entstanden. Ein kleiner Abschluss auch der langen intensiven Lehrzeit, ein Loslassen, Freiwerden. Ein Kreis, der sich schließt, sagt Wickihalder. Vom Glarnerland bis heute. Jetzt hört er die Meister, die er am Berklee College of Music in Boston studierte, nur noch selten. In Boston studierte er Saxofon und Improvisation, dreieinhalb Jahre lang, die Musiker seines aktuellen Quartetts kennt er aus jener Zeit. Wickihalder war damals in Berklee einer der ganz wenigen, die wirklich nur Sopran spielten. Da gab es gleich viele Auftritte und Jobs für Filmmusikaufnahmen und große Arrangements. Wenn ein Sopran gebraucht wurde, rief man ihn an. Das ging etwas schnell, nach zwei Jahren musste er erst mal eine schöpferische Pause einlegen. Wichtig in Boston waren die Studenten, mit denen man Tag und Nacht proben konnte. Im Avantgarde-Ensemble spielte er bei dem Tenorsaxofonisten George Garzone, er war auch sein Privatlehrer. Das erinnert Wickihalder als ein gutes Erlebnis – ansonsten sei die Schule wie eine Fabrik gewesen. Es zählen vor allem die Bekanntschaften, die man dort machte. Doch kein Lehrer war für Wickihalder so einflussreich wie Steve Lacy. Zum ersten Mal traf er ihn im Sommer 92, kurz bevor er nach Boston ging. Da war er 19.

Wickihalder kommt vom Glarnerland, einem Tal, das etwa siebzig Kilometer von Zürich entfernt ist. Links und rechts sieht man 2000 Meter hohe Berge, und in dem Kanton gab es eine Band, die Shasimosa tütü hieß, ein Free-Jazz-Ensemble mit jungen Musikern, das es heute nicht mehr gibt. Als 12-Jähriger hat Wickihalder die immer gehört, sie probten gerade um die Ecke vom Haus seiner Eltern. Einer der beiden Saxofonisten von Shasimosa tütü hat ihm auch beigebracht, selbst Saxofon zu spielen. Doch es war eher einsam in Glarus, zum Glück hatte Wickihalder einen Schlüssel zur Musikschule Insel und konnte dort proben, wann er wollte. Das war eine große Unterstützung, einige von seinen Insel-Freunden sind später auch Musiker geworden oder, wie Tim Krohn, Autoren. Krohn war sein erster Saxofonlehrer, der selbst studierte bei Urs Leimgruber. Und Leimgruber hat Wickihalder dann den Kontakt zu Lacy verschafft. Die Leute in Glarus haben Wickihalder wirklich sehr unterstützt, obwohl für viele Leute aus dem Tal diese Musik fremd und nur schwer zugänglich ist.


Als er die Lacy-Platte «Clangs» mit dem italienischen Perkussionisten Andrea Centazzo gehört hatte, konnte er noch nicht begreifen, wie solche Musik möglich war. Doch wollte es schnell wissen, hat dann lange versucht, Lacy telefonisch zu erreichen, und immer war dessen Anrufbeantworter angeschaltet. Bis Lacy eines Tages tatsächlich den Hörer abnahm und sagte, dass er gerne bei ihm vorbeikommen könne, allerdings schon am nächsten Tag, weil er danach wieder für längere Zeit verreist sein würde. Dann hat Wickihalder schnell den Nachtzug gebucht und am nächsten Tag stand er vor Lacys Wohnungstür in der Rue du Temple gleich um die Ecke vom Centre Pompidou. Ein heißer Sommertag und Lacy war noch nicht daheim. Er hatte sich etwas verspätet, dann haben sie den ganzen Nachmittag zusammen gespielt. Wickihalder erinnert sich, dass er damals noch gar keine Ahnung hatte, wie bedeutend Lacy war. Hätte er das früher gewusst, wer weiß, ob er sich getraut hätte anzurufen. Lacys Zimmer war ein Musiktempel, überall Musik und Bücher, schildert Wickihalder.

Lacy wollte kein Geld für den Unterricht, er habe ihn immer Baby genannt. Es gab sicher viele Musiker, die mal eine Stunde bei Lacy genommen haben, aber er kam wohl in einem sehr richtigen Moment. Lacy hatte gerade sein Lehrbuch «Findings» geschrieben und wollte nun mit Wickihalder herausfinden, ob es auch verständlich war, klar und praktisch. Insgesamt waren es vielleicht sechs Treffen mit Lacy, die ersten Male habe er ihm noch instrumentaltechnische Dinge gezeigt, später haben sie dann nur noch zusammen gespielt. Durch ihn sei er Musiker geworden, sagt Wickihalder, später musste er sich von dem Einfluss dann etwas befreien.


Der ebenfalls in Zürich lebende Pianist Chris Wiesendanger war auch einmal bei Lacy in Paris gewesen. Diese Erfahrung sei eine gute Grundlage für die gemeinsame Arbeit, glaubt Wickihalder, den die Duo-Arbeit von Mal Waldron und Steve Lacy immer sehr beeindruckt hat. Mit Chris Wiesendanger nun funktioniert die schwierige Zusammenarbeit zwischen Klavier und Sopran sehr gut, lange hat Wickihalder einen musikalischen Duo-Partner gesucht, der die Jazztradition kennt und sich auch mit der Avantgarde auskennt.


Wickihalder kannte viele Monk-Stücke schon, bevor er zu Lacy kam. Das machte die Dinge leichter, auch wenn er vorher nicht gewusst habe, dass Lacy so ein Monk-Spezialist war. Wickihalder beschreibt sich rückblickend als einen 19-jährigen Bauern aus den Alpen. Naiv und neugierig. Beim ersten Mal haben sie Monk gespielt, Lacy Klavier und Wickihalder Sopran. Lacy hat alle Monk-Stücke zunächst am Klavier gelernt, erläutert Wickihalder. Lacy ging es um eine ganz bestimmte Arbeitshaltung zur Musik, ihn interessierte die Frage, wie die Dinge weiterzutreiben sind. Vieles davon werde ihm erst heute klar, berichtet Wickihalder. Bei Lacy ging es um die kleinen Dinge, ein Intervall, eine Skala. Und das kam offenbar von Monk: Dig it! Dig it! Die Dinge von allen Seiten anschauen, so habe Lacy gearbeitet, Hauptsache, es lebt noch: Keep cookin’.

 

 

Steve Lacy’s musical language was very narrative-oriented, the very thing that was extremely difficult on such a small instrument. The so-prano saxophone can quickly become a headache; it takes great discipline to play it.


Most of these recordings were made on Jürg Wickihalder’s 33rd birthday. Coincidence, he says. He usually came up with the titles for the pieces only after composing them; it is important to him that the titles fit the music, generating an image or an atmosphere. When he left the studio, he was aware that the pieces generally had to do with a particular musician who had at some point been important to him. “Ridge Dancers,” for Ornette Coleman – nothing harmolodic, but an image that fits. “Autumn Child” has to do with Miles Davis, “The Coach” with Duke Ellington, “The Sun” with Charlie Parker, “Apology” with Stan Getz, “The Last Breath” with Steve Lacy, and “Caring” with Coltrane: the tenor, the hymn, like a great embrace offering love and hope. Wickihalder can imagine how each of these musicians would have played his pieces. The point is not the compositional details, but rather the associations: something felt, intuitive, even intimate. A Feeling for Someone is the result, emphasizing feeling, summarizing what came before – Wickihalder’s first CD with his own music.
The eight compositions on this CD (“Lovers” is the “Slovakian wedding waltz” of Wickihalder and his wife) can be understood as a movie, as the soundtrack of important encounters and experiences in the life of the 34-year-old soprano saxophonist. The results are special songs, simple, beautiful things, very melodic. In the meantime, “The Last Breath” has even become a quartet piece with words and singing, a love song Wickihalder originally dedicated to those people closest to him who died too young.


Most of the compositions were written during long walks. A bit of closure after a long, intensive apprenticeship, a way of letting go, setting oneself free. A circle that closes, says Wickihalder. From Glarnerland to today.


Today, he rarely listens to the masters he studied at the Berklee College of Music in Boston, where he studied saxophone and improvisation for three-and-a-half years and met the musicians in his current quartet. At the time, Wickihalder was one of the few students at Berklee who really played only soprano, so he quickly had a large number of gigs and jobs for soundtrack recordings and larger ensembles. When a soprano was needed, he got the call. Everything went a bit too fast; after two years, he really had to take a break. The most important thing in Boston was that he could practice day and night with his fellow students. In the avant-garde ensemble, he played with the tenor saxophonist George Garzone, who was also his private teacher. Wickihalder remembers that as a good experience – otherwise, the school was like a factory. The most important things are the people he met there. But no teacher was as influential for Wickihalder as Steve Lacy. He met him for the first time in the summer of 1992, shortly before he went to Boston. He was 19.


Wickihalder comes from Glarnerland, from a valley about seventy kilometers from Zurich. On both sides, there are 2000-meter mountains, and in the canton was a band called Shasimosa tütü, a free-jazz ensemble, with young musicians, that no longer exists. As a twelve-year-old, Wickihalder always went to listen to them; they practiced right around the corner from his parents’ house. One of the two saxophonists in Shasimosa tütü showed him how to play the saxophone. If Wickihalder was quite isolated in Glarus, he was still lucky enough to get a key to the music school, Insel, where he could go practice whenever he wanted to. That was a great help; several of his Insel friends went on to become musicians, too, or, as in the case of Tim Krohn, writers. Krohn, who himself studied with Urs Leimgruber, was Wickihalder’s first real saxophone teacher. And Leimgruber established Wickihalder’s contact with Lacy. The people in Glarus really did give Wickihalder quite a bit of support, even if many people in the valley find jazz strange, even inaccessible.


When he first heard Lacy’s album Clangs, with the Italian percussionist Andrea Centazzo, he did not yet understand how such music was possible. But he quickly wanted to know, so he kept trying to call Lacy, whose answering machine was always on. Then one day Lacy actually picked up the phone and said that Wickihalder could come by to see him, but it would have to be the next day, as he was then going to be on the road for quite a while. So Wickihalder quickly booked the night train, and the next morning he was at Lacy’s front door in Rue de Temple, right around the corner from the Centre Pompidou. A hot summer day, and Lacy was not yet home. He came back a little later, and they spent the whole afternoon playing together. Wickihalder remembers that at the time he had no idea what a major figure Lacy was. If he had known that earlier, he might not have been had the guts to call him. Lacy’s room was a music temple; music and books were everywhere, he says.


Lacy did not want any money from Wickihalder; he always called him Baby. There were surely many musicians who had occasionally had a lesson with Lacy, but Wickihalder apparently showed up at just the right moment. Lacy had just written his textbook, Findings, and he wanted to ascertain, with Wickihalder, whether it really was understandable, clear, and practical. All in all, he probably saw Lacy about six times; the first few times, they went over some technical things about the instrument, but after that they just played together. Through him, Wickihalder says, he became a musician; later, he even had to free himself a bit from his influence.


Pianist Chris Wiesendanger, who also lives in Zurich, once went to visit Lacy in Paris, too. This experience was a good basis for their work to-gether, says Wickihalder, who has always been very impressed by Lacy’s duets with Mal Waldron. Now, the difficult collaboration between piano and soprano works very well with Wiesendanger; Wickihalder spent a long time looking for a musical partner for duets, one who knows the jazz tradition as well as the avant-garde.


Wickihalder knew quite a few Monk pieces before he first met Lacy. That made things easier, even if he had not known in advance that Lacy was a Monk specialist. Wickihalder describes himself in retrospect as a 19-year-old peasant from the Alps. Naive and curious. At their first meet-ing, they played Monk, with Lacy on piano and Wickihalder on soprano. (Lacy first learned all of Monk’s pieces on piano, explains Wickihalder.) For Lacy, it was all about a specific way of working with music; he was interested in how things could be taken further. Many of these things have only now become clear to him, Wickihalder says. With Lacy, it was always about little things, an interval, a scale. And that clearly came from Monk: “Dig it! Dig it!” Looking at things from every side – that’s how Lacy worked. As long as it stays alive: keep cookin’.

Christian Broecking. Translation: Andrew Shields

 

Jürg Wickihalder-Chris Wiesendanger. A Feeling For Someone. Intakt CD 134

to Intakt home