PETER RUEDI
Liner
Notes
(dt + egl)
MICHAEL JAEGER KEROUAC
MEETS
GREG OSBY + PHILIPP SCHAUFELBERGER
In ‘n’ Out
In ‘n’ Out«Outdoors», draussen: Das Stück, dem
die neue CD von Michael Jaeger und der Gruppe Kerouac mit den beiden Gästen
Greg Osby und Philipp Schaufelberger ihren Titel verdankt, ist erst einmal
und ganz banal «draussen» entstanden. In Wien. Jaeger beurlaubte
sich selbst von dem Job als Musiklehrer, dem er in Winterthur zu seinem Broterwerb
nachgeht. Den empfindet er nicht als Fron. Er garantiert ihm den relativen
Luxus, in seiner Musik keine voreiligen Kompromisse eingehen zu müssen.
Und doch erlebte er im «Draussen» – in Wien, in New York,
in Berlin – eine neue Art von Freiheit. Nicht dass «Drinnen»
nur das Gegenteil bedeutete. Es meint nicht nur Gefangenschaft, sondern auch
Vertrautheit und Geborgenheit. Das eine bedingt das andere.
Aber Freiheiten muss sich einer herausnehmen (womit Schweizer zuweilen ihre
Schwierigkeiten haben). Freiräume muss einer behaupten. «Raum»
ist für Michael Jaeger ein in mehrfacher Hinsicht wichtiger Begriff.
Zunächst aber meint er etwas ebenso Einfaches wie Fundamentales. Es betrifft
die Lage des Künstlers in einer der Kunst nicht notwendig und selbstverständlich
wohlgesinnten Gesellschaft. Jaeger ist ein zurückhaltender, sensibler,
aber entschiedener Mann. Er rennt nicht mit geballter Faust gegen die real
existierenden Verhältnisse an. Aber er weiss, dass ihm Freiräume
nicht geschenkt werden. Er muss um sie kämpfen. «Wir definieren
Räume, die uns die Möglichkeiten geben, uns zu bewegen. Wenn wir
das nicht selbst schaffen, würde sie uns niemand einräumen. Die
Gesellschaft wartet nicht mit offenen Ohren auf uns. Es gibt ein Publikum
für unsere Musik, aber es ist eine Minderheit, die sich die dafür
unerlässliche Zeit nimmt.»
Es gab mal eine Zeit, da war Jazz nicht nur eine junge Musik, sondern (zumindest
in der Spezialabteilung Intellektuelle) eine Jugendmusik. Einer mit Jahrgang
1976 hat sie nicht mehr erlebt. War der im rebellischen Alter, hatte sich
selbst aus dem Rock das Protestpotential verflüchtigt. Als sich der junge
Klarinettist und Saxophonist für die Musik von Dizzy Gillespie und Charlie
Parker, dann für Coltrane zu interessieren begann, hatte Jazz «wenig
Revolutionäres» mehr. Zwar traf ihn die «Rauheit»,
die «Unbedingtheit», das, was er als Le-bensgefühl von authentischem
Jazz erst ahnte, dann erkannte, auch die Durchsichtigkeit dieser Musik, heftiger
als alle binären Rock-Grooves. Mit seinem Bruder, dem Schlagzeuger Chris
Jaeger-Brown, mit dem er schon als Kind auf der Bambusflöte improvisierte,
war er auch bald im Zürcher WIM (Werkstatt für improvisierte Musik)
Dauer-gast. Dort lernte er freiere Spielweisen kennen, als er sie von Dizzy
und (dem ebenfalls bewunderten) Santana kannte. Dass er später, als er
für seine Gruppe einen Namen suchte, «Kerouac» auswählte,
war ein Zufall: Er verfiel auf den kaum bekannten Titel einer Komposition,
welche Dizzy Gillespie schon 1941 dem damals noch ganz unbekannten Autor widmete,
der erst nach dem Krieg zur Ikone der Beat-Generation wurde («On the
Road»). Ein Zufall, aber einer, der im Nachhinein Sinn ergab.
Jaeger geht es auch in seiner Musik um Raum. Im Quartett mit dem Pianisten
Vincent Membrez, dem Bassisten Luca Sisera und dem Drummer Norbert Pfammatter
sucht er seit 2005 beharrlich und mit wachsendem Erfolg das labile Gleichgewicht
zwischen Selbstentfaltung aller Beteiligten und Kontrolle. Zwischen Freiheit
und Struktur. Zwischen Individualismus und Kollektiv. Kerouac ist heute auf
einem so fortgeschrittenen Stand des kollektiven Bewusstseins (und mehr noch
des kollektiven Unbewussten), dass sich die vier fast telepathisch gegenseitig
in Freiräume lancieren. Mehr noch: Das kollektive Verständnis entwickelt
einen solchen Sog, dass auch neue Partner resp. Gäste fast aus dem Stand
so integriert werden, als gehörten sie seit Jahren zur Band. Greg Osby,
Altsaxophonist aus St. Louis, ist seit den frühen Neunzigern ein Star
(sofern es im Jazz überhaupt noch welche gibt), mit mehr als zehn eigenen
Titeln allein beim Renommier-Label Blue Note.
Allein, «Outdoors» ist definitiv nicht eine dieser Produktionen,
mit denen sich eine mehr oder weniger apokryphe lokale Band im Abglanz eines
grossen Namens sonnt. Osby ist nicht nur dem Renommee nach einer der führenden
zeitgenössischen Altsaxophonisten. Er ist seinerseits ein freier Geist
und ein strukturierter Kopf, ein Bläser mit scharfen Konturen, Wagemut
und radikaler Disponibilität. Für das Gelingen dieser CD ist er
allerdings nicht mehr und nicht weniger verantwortlich als der fabelhaft zurückhaltende,
offene und vielseitige Philipp Schaufelberger an der Gitarre auch. Nicht zu
reden von der Stammformation Kerouac.
Die macht inspirierteste improvisierte oder komponierte Musik, die nichts
verfolgt ausser sich selbst, also schon gar keine wie auch immer geartete
«Ideologie». Sie erlaubt sich gelegentlich sogar zu «swingen»,
entwickelt immer wieder eine betörende Melodik und geht doch kühn
bis an die Grenzen des Atonalen oder Geräuschhaften. Will sagen: Sie
steht innerhalb des «Jazz», aber so weit ausserhalb aller Klischees,
dass sie wirklich im Augenblick passiert. Also das ist, als was der Doyen
der Jazzkritik, Whitney Balliett, diese Musik einst bezeichnet hatte: «the
sound of surprise».
Das ist nicht unbedingt ganz bequem nachzuvollziehen (auf solche Überquerungen
von dünnem Eis muss man sich schon einlassen) und noch schwerer zu beschreiben.
Vielleicht am besten so: Die Anstrengungen von Jaeger & Partners gelten
weniger der Erfindung von musikalischen Zusammenhängen als deren Ermöglichung.
Das wichtigste an ihren Strukturen sind die Freiräume dazwischen, auf
(und aus) denen wächst, was schwer planbar ist. Das ist auch der Grund
für eine schöne Nachdenklichkeit dieser Musik. Die ist vielleicht,
als etwas grüblerische Komponente, eine schweizerische Eigenschaft (Emotionen,
Freiheiten, die sich immer wieder einpendeln ins Kollektiv, also den Andern
im Bewusstsein haben, statt «nur geradeaus zu fräsen», diese
Art von Kollektivbewusstsein, meint Jaeger, das jedem so viel Freiheit einräumt
wie möglich, sei «ja eine politische Idee»). Sie hat aber
auch eine grundsätzliche Seite. Als ob wir die Beteiligten am Prozess
der kollektiven Erfindung immer mal wieder dabei ertappten, wie sie überrascht
über das nachdenken, was ihnen gerade eingefallen ist.
«Outdoors» hat, was die Zusammenarbeit mit den beiden Gästen
betrifft, die elektrische Spannung eines coup de foudre zwischen Partnern,
die sich zum ersten Mal treffen und bedingungslos, aber mit unablässig
wacher Intelligenz selbst riskieren. Das umsichtig geplante Unvorhersehbare.
Ist das nicht die Hauptattraktion von improvisierter Musik? Nicht um die Ausschaltung,
um die Verflüssigung des Denkens geht es ihr.
Peter Rüedi, Februar 2010
In ‘n’ Out
“Outdoors”
– the piece that was namesake to the latest CD of Michael Jaeger, the
group Kerouac and guests Greg Osby and Philipp Schaufelberger was first of
all and tritely produced “outdoors”. In Vienna. Jaeger put himself
on leave from his job as a music teacher he holds down in Winterthur in order
to earn a living. He doesn’t perceive the job to be a drag. It grants
him the relative luxury that he does not have to compromise hastily. Yet he
experienced “outdoors” – in Vienna, in New York, in
Berlin – a new kind of freedom. That doesn’t mean inside to be
all the opposite. It means not only captivity, but also familiarity and comfort.
One entails the other.
But liberty is something you have to take (and the Swiss sometimes have a
problem doing so). Creative spaces though have to be claimed. “Space”
is a very important notion to Michael Jaeger, in many respects. But first
of all it means something that is as simple as fundamental. It relates to
the situation of the artist in a society that is not necessarily and naturally
sympathetic to art. Jaeger is a reserved, sensitive but determined man. He
does not attack the real existing circumstances with clenched fists. But he
also knows that you don’t get leeway for nothing. He has to fight for
it. “We define the spaces that give us the possibilities to move ourselves.
If we don’t manage to do this by ourselves, nobody will do it for us.
The society does not wait for us ears wide open. There is a public for our
music, but it is a minority that takes the time you need essentially for this
music.”
There was a time when jazz was not only a young music but (at least in the
special department for intellectuals) also music for the young. Someone born
in 1976 has not experienced that. When they got to the age of rebelliousness
the potential for protest had vanished even from rock music. When the young
clarinetist and saxophonist began to take interest in the music of Dizzy Gillespie
and Charlie Parker, then in Coltrane, jazz had very “little revolutionary
potential”. The “roughness, the absolute” hit him, he perceived
what he first merely sensed then recognized as an authentic attitude to life
in jazz, he was struck by the translucency of this music more than by any
binary rock grooves. With his brother, the drummer Chris Jaeger-Brown, he
had improvised already as a child on the bamboo flute, now they soon were
permanent residents in the Zurich WIM (Workshop for Improvised Music). There
he got to know freer ways of playing than he knew from Dizzy and Santana (whom
he also admired). It was pure coincidence that later, looking for a band name,
he came across “Kerouac”: He found the title of a mostly unknown
composition that Dizzy Gillespie had dedicated 1941 to the author, at that
time altogether unknown, who after the war would be the icon of the beat generation
(On the Road). Mere chance, but in retrospect it does make sense.
It is all about space for Jaeger, in his music too. In the quartet with the
pianist Vincent Membrez, the bassist Luca Sisera and the drummer Norbert Pfammatter
he keeps looking since 2005 persistently and with more and more success for
the labile balance between self-fulfillment and control. Between freedom and
structure. Between individualism and the collective. Today Kerouac is on such
an advanced level of the collective consciousness (and even more of the col-lective
unconscious), that the four can launch each other almost telepathically into
creative spaces. More than that: the collective understanding generates such
a pull that even new partners or guest are integrated almost on the spot,
almost as if they were members of the band for years. Greg Osby, alto saxophonist
from St. Louis is a star since the early nineties (as much a star as anyone
can be playing jazz), with more than ten own titles at the famous label Blue
Note.
Yet Outdoors is definitely not one of these productions where a more or less
apocryphal local band basks in the glory of a big name. Osby is not only by
reputation one of the leading contemporary alto saxophonists. He himself is
a nonconformist and a structured mind, a woodwind player with a clear shape,
with derring-do and of radical disposition. Yet again he is no more responsible
for the success of this CD than Philipp Schaufelberger on the guitar, who
is marvel-ously contained, open-minded and eclectic. Not to mention the regular
cast of Kerouac.
They make most inspired improvised or composed music that does not aim to
anything but itself, let alone any ideology whatsoever. Their music is even
allowed to swing every now and again, it often develops a bewitching melodiousness
yet goes audaciously to the borders of the atonal or noise making. In other
words: It roots in the centre of “jazz” and at the same time far
outside any cliché, thus really happen-ing in the very moment. So this
is what Whitney Balliett, the doyen of jazz criticism, used to call this music:
“the sound of surprise”.
It is not necessarily easy to follow (you’ll have to engage in skating
on so thin ice) and even harder to describe. Maybe this will do: Jaeger &
Partner struggle less for musical coherence itself, they work to facilitate
it. The most important in their structures are the free spaces in between;
in and from which those things grow you cannot plan. Which is also the reason
for this beautiful reflectiveness in their music. That again is, if you take
it as a brooding component, a very Swiss trait (emotions and liberties that
settle into the collective meaning they’re always aware of the others
rather than just mill-ing along – this sort of collective consciousness
that gives to every individual as much freedom as possible is according to
Jaeger “a political idea”.) But it also has a fundamental side
to it. Just as if time and again we’d catch those involved in the process
of collective invention how they themselves contemplate surprised what they’ve
just come across.
As for the interplay with the two guests, Outdoors has the electric potential
of a coup de foudre between partners who meet for the first time and take
their chances, without reserve but with acuteness of mind, ceaselessly. The
unpredictable, planned judiciously. Now isn’t that the star turn in
improvised music? It’s not about shutting down the mind; it’s
rather about liquescent thinking.
Peter Rüedi, February, 2010 / Translation: Sigrun Andree
MICHAEL
JAEGER KEROUAC
MEETS GREG OSBY & PHILIPP SCHAUFELBERGER
OUTDOORS
Michael Jaeger: Tenor Saxophone
Greg Osby: Alto Saxophone
Philipp Schaufelberger: Guitar
Vincent Membrez: Piano, Prepared Piano
Luca Sisera: Bass
Norbert Pfammatter: Drums