Reinhard
Kager
Liner Notes. Intakt CD 111. George
Lewis. Sequel
(dt + engl.)
Zusammenklang multipler Stimmen
George Lewis und sein Oktett beim NEWJazz Meeting 2004
MManchmal
gibt es Glücksfälle im Leben eines Producers: Freundliche
und zufriedene Musiker, reibungslos funktionierende Technik, Elektronik
ohne fatale Abstürze, ein konstruktives Miteinander aller Beteiligten,
schließlich, first of all, eine innere Harmonie zwischen den Musikern,
die sie jedoch nicht selbstzufrieden macht, sondern anspornt, ihre Sinne
aktiviert, ihre Sensibilität weit öffnet und mit solch offenem
Sensorium in musikalische Gefilde führt, die sie nie zuvor betreten
hatten. Ein solcher Glücksfall ist beim NEWJazz Meeting 2004 im
Studio 1 des Südwestrundfunks in Baden-Baden (SWR) eingetreten.
Als der amerikanische Posaunist, Komponist und Musiktheoretiker
Ge-orge Lewis im Herbst 2003 zusagte, an diesem alljährlichen Improvisatorentreffen
der SWR2-Jazzredaktion teilzunehmen, hatte er sich ausbedungen, nicht
nur Musiker aus dem Umfeld seiner Heimatstadt Chicago in seine Gruppe
zu holen, wie ursprünglich angedacht, sondern eine multinationale
Instrumentalistengruppe zusammenstellen zu dürfen. Die Grundbedingung
dieses NEWJazz Meetings, dessen Idee in die Zeiten des früheren
SWF-Jazzredakteurs Joachim Ernst Berendt zurückreicht, hatte Lewis
jedoch akzeptiert: Musiker auszuwählen, die sonst nicht miteinander
spielen, gleichwohl aber eine gemeinsame musikalische Wurzel erkennen
lassen.
Als George mir dann brieflich seinen Vorschlag unterbreitete, musste
ich mir zunächst die Augen reiben. Okay, dass Miya Masaoka, seine
Lebensgefährtin, integriert wurde in dieses Oktett, war nicht eben
überraschend. Gut ließ sich ausmalen, wie die zarten Klänge
von Miyas Koto mit den insistierenden, langen elektronischen Wellen
von Kaffe Matthews harmonieren würden, zumal die britische Elektronik-Künstlerin
früher als Geigerin selbst ein Saiteninstrument gespielt hatte.
Wie aber würde dazu die dritte Frau im Oktett-Bunde passen? DJ
Mutamassik war mir zuvor nur als quirlige Break-Beat-Artistin bekannt,
die auf ihren Turntables auch so manch knackigen Ethno-Sound drehen
lässt. Und erst recht schien Guillermo E. Brown, der Power-Drummer
von Matthew Shipps oft brachial lautem Trio, mit diesem hochsensiblen
Damen-Duo zu kollidieren. Und dann stand auf der Wunschliste zu meinem
Erstaunen auch noch Jeff Parker, dessen melancholischen Gitarrenklänge
den typischen Sound der Indy-Rock-Gruppe Tortoise prägen –
übrigens der einzige Musiker des Oktetts, für den die Musikszene
Chicagos ähnlich prägend ist wie für George Lewis. Das
Münchener Duo 48nord, Siegfried Rössert und Ulrich Müller,
das einschlägige Erfahrungen mit experimentellen Hörspielmusiken
besitzt, war für mich im Improvisationskontext schließlich
gar eine große Unbekannte.
Doch George Lewis wusste natürlich, was er wollte, als er die Besetzung
dieses Oktetts vorschlug. «Grundsätzlich sind alle Musiker
dieser Gruppe», erklärte er mir sein Konzept, «mit
beidem verbunden: mit instrumentaler und mit elektronischer Musik. Ich
möchte mit ihnen also eine Art hybrides Konzept erforschen, das
beide Bereiche kreuzen lässt. Diese scheinbare Trennung zwischen
instrumentaler und elektronischer Musik, die sich über Jahre gehalten
hat, ist heute vollkommen sinnlos geworden.» Was ihm also vorschwebte,
war eine organische Verbindung zwischen instrumentalen Klängen
und elektronischen Sounds. Weniger die Live-Elektronik, also die in
Echtzeitprozessen erfolgende Verfremdung der Instrumente, als vielmehr
die Vermischung instrumentaler Klänge mit vorbereiteten und zugespielten
Samples stand dabei im Vordergrund seines Konzepts.
Solch musikalische Kreuzungen wollte Lewis, in Reaktion auf die zunehmende
Globalisierung unserer Lebenswelt, nicht nur hinsichtlich der téchn¯e,
also des kunstfertigen Hervorbringens von Musik verfolgen, sondern auch
auf stilistische Belange ausweiten: «Nach meiner Erfahrung mit
Improvisations-musikern dauert es lange Zeit, bis man deren persönlichen
Stil herausgefunden hat. Deshalb versuche ich, einen Zusammenhang aus
multiplen Stimmen herzustellen, was für mich etwas anderes ist
als ein Personalstil. Aufgrund dieser multiplen Stimmen und der damit
einhergehenden Instabilität werden wirklicher Austausch und neue
Ideen erst möglich.» Das klang überzeugend, wenngleich
es angesichts der Verschiedenheit der acht beteiligten Musiker nicht
vollkommen evident schien, wie sich diese multiplen Stimmen wohl zu
einer Einheit fügen lassen würden.
Dazu bedurfte es des Kommunikationstalents von George Lewis, der sich
eine äußerst effiziente Strategie hatte einfallen lassen.
Die Proben begannen zunächst mit einer kollektiven Improvisation
aller acht Beteiligten. Das nahm die Scheu, das ließ erste Berührungen
zu. Doch dann erfolgte eine jähe Reduktion auf verschiedene Duos
und Trios, die später in ähnlicher Konstellation auch bei
Lewis’ Komposition «Sequel» zusammenspielen sollten.
Das Entscheidende dabei: Auch die nicht an diesen intimen Improvisationen
beteiligten Musiker blieben im Studio, um im Zuhören die Eigenheiten
und Sounds der gerade Spielenden kennenzulernen. Auf diese Weise war
innerhalb weniger Stunden ein wacher Kontakt und ein reger musikalischer
Austausch zwischen den Musikern hergestellt.
Erst am zweiten Studiotag begannen dann die Proben für «Sequel».
Auch dafür hatte sich George Lewis etwas Eigenes einfallen lassen:
Denn das rund fünfunddreißigminütige Stück ist
nicht streng ausnotiert, sondern folgt einer verbal formulierten Partitur
entlang einer Zeitschie-ne, auf der sehr genaue Definitionen der instrumentalen
Kombinationen, der Funktionen der einzelnen Musiker und der Sounds,
die sie spielen sollten, festgehalten sind. Die Schwierigkeit, elektronische
Komponenten in Noten darzustellen, umschiffte Lewis dadurch, dass er
möglichst präzise schriftliche Anweisungen erteilte, welche
Sounds er an welcher (zeitlichen) Stelle des Stücks zu hören
bekommen wollte. Das variierte anfangs noch ein wenig, bis die Musiker
nach einigen Tagen die für die jeweiligen Stellen idealen elek-tronischen
Sounds gefunden hatten. «Die Partitur erlaubt den Musikern verschiedene
Optionen», betont George Lewis. «Sie müssen reagieren,
nicht nur auf die Partitur, sondern auch auf die anderen Musiker und
deren Interpretationen. Es scheint mir, dass die herkömmliche Notationspraxis
für diese elektronischen Instrumente ungeeignet ist; da gibt es
einfach keine Verbindung. Deshalb habe ich einen Text bevorzugt, der
in diesem Fall sogar besser funktioniert als eine Graphik. Texte entlang
einer Timeline – daraus besteht das Stück hauptsächlich.»
Auch wenn «Sequel» eine streng definierte Form hat, erhalten
die Musiker innerhalb dieser formalen Struktur die Möglichkeit,
improvisatorisch zu variieren. Durch die sehr genau definierte Form
– «Sequel» besteht aus sechs Teilen, wovon zwei kollektiv
gespielt werden –, durch die
exakt vorgeschriebenen Kombinationen der Instrumentalisten und durch
die schriftlich fixierten Klangabfolgen bewahrt das Stück jedoch
eine innere Identität. Diese Variationsbreite kalkulierend, musste
aus insgesamt vier vollständig aufgezeichneten Durchläufen
der Komposition die schlüssigste ausgewählt werden. Die öffentliche
Generalprobe in Baden-Baden schien George und mir nicht nur wegen ihrer
technischen Perfektion, sondern auch wegen ihrer musikalischen Dichte
am überzeugendsten: Ein ebenso unnahbares wie unheimliches Stück,
dessen dunkle elektronische Grundierung musikalisch ein düsteres
Bild unserer Lebenswirklichkeit zeichnet, nicht ohne diese utopisch
zu konterkarieren: durch das hoch sensible Zusammenspiel aller Akteure,
in dem sich die Idee einer gelungenen menschlichen Kommunikation verwirklicht.
Wie tief das musikalische Verständnis der acht Musiker füreinander
reichte, demonstrieren auch die drei völlig freien Improvisationen
des
Ok-tetts, die bei den Konzerten in Rottenburg und in Basel live aufgezeichnet
worden waren. Blitzartig reagieren die Musiker aufeinander, mit wohl
abgestimmten Sounds, so dass der Eindruck kleiner kollektiver Kompositionen
entsteht. Erstaunlich sowohl an «Sequel» als auch an die-sen
frei improvisierten Takes ist die Transparenz, die bewahrt wurde, obwohl
bis auf Jeff Parker alle Instrumentalisten auch elektronische Geräte
verwendet hatten. Entgegen aller Befürchtungen erwiesen sich die
acht Musiker als sensible Klangarchitekten, deren filigranen Klanggebäude
stets die Durchsichtigkeit auf die innersten Strukturen bewahren.
«Ich finde, dass die Musik extrem relaxed tönt», meinte
auch George Lewis nach dieser ungewöhnlichen Woche. «Sie
ist die meiste Zeit ziemlich leise. Man kann förmlich durch sie
durchsehen, sie ist sehr klar, obwohl jeder Elektronik-Spieler alle
anderen in den Himmel blasen könnte mit der Power, die sich auf
der Bühne befindet. Die Musiker sind eher an den kleinen Sounds
interessiert, an den Untermauerungen, an den mikroskopischen Ereignissen.
Es scheint mir wie eine Wanderung durch einen Wald – den Schwarzwald
natürlich –, bei der man eher die individuellen Blätter
betrachtet als das große Bild des Walds.» In dieser Konzentration
auf das Kleine, auf das Besondere ereignete sich plötzlich, was
von der großen Gestik vermeintlicher Macher unserer medialen und
politischen Wirklichkeit stets plattgedrückt wird: eine Einheit
des Verschiedenen, das die subjektiven Eigenheiten des Einzelnen respektiert,
um sie in ein kreatives Miteinander zu integrieren.
Reinhard Kager
In memoriam Mark Zenke
A Synergy of Multiple Voices
George Lewis and His Octet at the NEWJazz Meeting 2004
From time to time there are moments of luck in the life of a producer:
friend-ly and satisfied musicians, no technical hitches, no fatal crashes
of the electronic equipment, a constructive togetherness shared by everyone
involved, and last but by no means least, musicians working with each
other in harmony, which however does not make them complacent, but spurs
them on, activates their senses, enhances their sensitivity, thus leading
them into musical realms they have never entered before. One such stroke
of luck was definitely what happened at the NEWJazz Meeting 2004 in
Studio 1 of the Germany radio station SWR in Baden-Baden.
When in the fall of 2003 the American trombone player, composer and
music theorist George Lewis accepted the invitation to participate in
the annual improvisers’ meeting of the SWR2 jazz department, his
stipulation was that he might not only bring with him musicians from
his native city of Chicago, as initially intended, but also be allowed
to put together a multinational ensemble. In any case Lewis had accepted
the basic idea behind this NEWJazz Meeting, which goes back to the times
of the former SWF jazz producer Joachim Ernst Berendt: to select musicians
who do not usually play together, yet still seem to have common musical
roots.
When I got George’s letter with his proposal, I had to rub my
eyes at first. Okay, that Miya Masaoka, his wife, was part of this octet
was no great surprise. It was easy to imagine how the delicate tones
of Miya’s koto would harmonize with the insistent, long electronic
waves of Kaffe Matthews, since the British electronic artist has a background
as a violinist and is thus familiar with playing a string instrument
herself. But how would the third woman of the octet fit in? So far I
have known
DJ Mutamassik only as a versatile breakbeat wizard, who spins on her
turntables a tasty mix of junglistic beats and Middle-Eastern sounds.
As for Guillermo E. Brown, power drummer for Matthew Shipp’s often
raw and raucous trio, he seemed to collide all the more with this highly
sensitive female duo. Furthermore and to my surprise, the list of chosen
artists also included Jeff Parker, whose melancholy guitar is responsible
for the typical sound of the indie-rock group Tortoise – by the
way, like George Lewis he is the only musician of the octet who has
been molded by the music scene of Chicago. Finally, the list included
the Munich-based duo 48nord, and although Siegfried Rössert and
Ulrich Müller have first-hand experience with experimental radio
play musics, they were quite a big unknown variable to me in the improvisational
context.
But George Lewis knew what he wanted when he proposed the members of
this octet. «Basically, everyone in this group is connected with
both acoustic and electronic music,» he said explaining his concept
to me.
«I wan-ted to explore this hybrid conception that allows the free
flow
be-tween the two spheres with musicians that are equally at home in
the so-called acoustic and so-called electronic world. This faked binary,
which has sprung up over the years, has become completely useless today.»
What he had in mind was an organic mix of acoustic instruments and electronic
sounds. Hence his concept: rather than concentrating on the use of live
electronics, that is the real-time manipulation of instruments, he focussed
on blending instrumental sounds with prepared samples.
In response to the increasing globalization of the world around us,
Lewis not only wanted to pursue his idea of musical hybrids in regard
to téchné, that is the skillful creation of music, but
extend it to stylistic matters as well: «My experience of the
people here as well as many other people is that if they do have a personal
style, it’s going to take you a long time to figure it out, probably
as long as it took them to create it. I see people as creating more
from a sort of a multiple-voiced way. And to me that’s different
from personal style. I think, because of that multiple-voiced nature
and the inherent instability which goes along with it that’s where
interchange and these new ideas really become possible.» This
sounded convincing, although in view of the dissimilarities between
the eight participating musicians it wasn’t completely evident
how he was going to bring these multiple voices together in any semblance
of harmony.
The key was the communicative talent of George Lewis, who had come up
with an extremely efficient strategy. Rehearsals began with a collective
improvisation session with all eight participants, which did away their
awe and shyness and gave them their first opportunity for exchange.
Soon afterwards, however, the ensemble was reduced to var-ious duos
and trios, which later would be featured in Lewis’ composition
«Sequel» in similar constellations. The crucial thing was
that the musicians not involved in those intimate improvisations stayed
in the studio to listen and get to know the idiosyncrasies and sounds
of those who were playing. Within a couple of hours this way of rehearsing
had given rise to full attention, maximum contact and a lively musical
exchange between the musicians.
It was not until the second day in the studio that the rehearsals for
«Sequel» began. And again George Lewis had come up with
something special, since this piece, which lasts about thirty-five minutes,
is not strictly notated but follows a text-based score along a time
line which states exactly the instrumental combinations, the roles of
the individual musicians, and the sounds they are to play. Lewis went
around the difficulty of writing down the electronic parts in the usual
musical notation by giving written instructions that describe as precisely
as possible which sounds he wanted to hear at which point in the piece.
At the beginning this varied a little, but after a few days the musicians
had found the ideal electronic sounds for the respective passages. «The
score allows the musicians to go for various options,» George
Lewis emphasized. «They have to respond – not only to what’s
in the score, but also to the other musicians and all their interpretations.
It seems that tradi-tional common practice notation is not suitable
for people playing these electronic instruments; there is really no
connection there. Therefore I prefer texts, in these cases, which even
work better than a graphic score. A text with a time line – that’s
what the piece basically is.»
Though «Sequel» has a clearly defined form, the musicians
have the opportunity to improvise within this formal structure. Nevertheless
the piece maintains an inner identity, which is due to its precise form
(«Sequel» consists of six parts, two of which are played
collectively), its exactly specified instrumental combinations, and
the sound sequences encapsulated in a text. Taking this broad spectrum
of variations into consideration, we had to select the most conclusive
of four complete recordings of the composition. To George and me, the
public rehearsal in Baden-Baden seemed to be the most compelling –
not only because of the technical perfection but also because of its
musical density: the piece is just as enigmatic as it is eerie, with
its underlying dark electronic mood painting a gloomy picture of our
reality, yet it counterpoints these bitter facts of life with a utopian
vision: the highly sensitive collaboration of all participants, in which
the idea of effective human communication is being practiced.
This also applies to the three tracks with live recordings from the
concerts in Rottenburg and Basel, which document free improvisations
by the octet and demonstrate how deep the musical understanding be-tween
the eight musicians goes. Quick as a flash, they respond to each other
with carefully matched sounds, thus conveying the impression that they
are playing short collective compositions. The astonishing thing about
«Sequel» and these freely improvised takes is their transparency,
although with the exception of Jeff Parker every instrumentalist also
used electronic devices. Contrary to all apprehensions the eight musicians
proved to be sensitive sound architects building sonic edi-fices of
delicate textures that always let their innermost structures shine through.
«I’m finding out that the music so far has sounded extremely
relaxed,» George Lewis, too, admitted after this remarkable week.
«It’s been rather quiet a lot of the time. It’s like
you could see trough it, it’s very limpid. I think it’s
intimate music that we are making, even though every electron-ic player
could very easily blast the others to the sky with the amount of wattage
that’s on stage. But the musicians are more interested in the
small sounds, in the underpinnings, in the tiny, microscopic events.
It’s like walking through the forest – the Black Forest
to be sure – and exam-ining individual leaves rather than contemplating
the big picture of the forest.» And it is this concentration on
the small, specific details that suddenly sparks off what is always
snuffed out by the big gestures of the so-called doers of our media
world and political reality: a unity of differ-ences, which respects
the peculiarities of the individuals in order to integrate them into
a creative togetherness.
Reinhard Kager
translation: Friederike Kulcsar
In memoriam Mark Zenke
To:
George Lewis. Sequel. Intakt CD 111
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