Melodie, Atem und Raum


Zum 70. Geburtstag von Pierre Favre – Ein Flaneur zwischen Trommeln und Becken, der Anregungen aus aller Welt zu seinem eigenen feinstofflichen Gewebe verdichtet. Pierre Favre spielt mit The Drummers am Schaffhauser Jazzfestival.

Von Bert Noglik

Sich mit der Sprache einem Musiker zu widmen, dessen klangliches Differenzierungspotenzial allein die Zahl der zur Verfügung stehenden Adjektive übersteigt, scheint nur als Annäherung vorstellbar. Und so bleibt, um es vorwegzu-sagen, die Magie des Klingenden dem Schlagzeuger Pierre Favre vorbehalten.
Sein Weg gleicht dem eines Musikers, der bereits in einer frühen Phase seines Schaffens alles erreicht, was man sich in seinem Metier nur wünschen kann. Er spielt mit einigen der bedeutendsten JazzmusikerInnen seiner Zeit, und zwar mit US-Amerikaner-Innen ebenso wie mit EuropäerInnen; er ist ein gefragter Big-Band-Drummer, ein Allroundtalent. Manchem hätte das genügt, doch Favre begab sich auf einen anderen, einen langen Weg - von der swingenden Selbstverständlichkeit des Jazzschlagzeugers hin zu einer hochreflektierten, zuweilen auch komponierten und dabei das Spontane keineswegs ausklammernden Klangsprache. Er hat sich und uns neue Räume erschlossen, Räume, in denen wir tanzen und nachdenken können. Tanz und Turbulenz der Gedanken. Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Spiel mit der Zeit und den Zeiten. Mit Pierre Favre auf den Spuren des Klanges. Der Perkussionist als Poet, der Schlagzeuger als Klangmaler, der Komponist als Geschichtenerzähler, der Improvisator als balancierender Artist auf dem Hochseil.

Orchestrale Perkussion
In einer Zeit, in der Europas Jazz begann, zu sich selbst zu finden, entdeckte Favre seine Chance, eine eigene Musik auszuformen. Das begann im Trio mit dem Bassisten George Mraz, dann mit Peter Kowald am Bass und Irène Schweizer am Piano, auch im Quartett mit dem Saxofonisten Evan Parker. Mit Fantasie und Vitaliät liess er die konventionelle Art des Jazzmusizierens hinter sich. Doch Favres Spiel erwies sich als viel zu sensibel und viel zu individuell, um in die Klischeevorstellungen vom Free Jazz zu passen. Darin gleicht er Irène Schweizer, mit der er bis in die jüngste Zeit immer wieder im Duo zusammengefunden hat. «Es ist», sagt Favre, «ein Glücksfall einer langen, unabhängigen und doch gemeinsamen Entwicklung.» Und er fügt hinzu: «Unser Spiel lacht.»
Der Weg zu einem neuen Klang-raum, der sich, wie von einem bildenden Künstler oder einer Literatin ersonnen, immer wieder zu einer neuen Kammer öffnet, beinahe labyrinthisch, aber sich nicht im Ungewissen verlierend - dieser Weg führte Favre zum Solospiel. Es bedurfte des Selbstbewussteins, sich mit dem Schlagzeug allein genug zu sein, um das Instrument in seinem klingenden Reichtum zu erschliessen, das Rhythmische mit dem Melodischen zu verbinden und eine orchestrale Version von Perkussion zu entwickeln. Bezeichnend schon der Titel des ersten Soloalbums von 1969: «Drum Conversation». Favre denkt von Anfang an dialogisch oder orchestral, nie egozentrisch. Was mit der Erweiterung des Schlagzeugs durch zahlreiche Klangkörper um das herkömmliche Set herum begann, führte - durchaus folgerichtig - zu einer von Favre einberufenen Versammlung mehrerer Schlagzeuger.

Die Welt in der Trommel
Singing Drums - was für ein faszinierend funkelnder Name für ein Ensemble, das die Kulturen dieser Welt zu umarmen begann, ohne deren Ressourcen auszurauben oder das folkloristische Kolorit als Beute nach Hause zu tragen. Favre ist erlebnisreich eingetaucht in afrikanische, indische, brasilianische und - erst jüngst wieder, nun im Dialog mit der chinesischen Pipa-Spielerin Yang Jing - in fernöstliche Klangwelten. Dabei hat er seinen eu-ropäisch geprägten Hintergrund nie verleugnet - Anregungen aus allen Himmelsrichtungen aufnehmend, das Europäische in der Welt spiegelnd und die ganze Welt in einer kleinen Trommel wiederfindend.
Von da aus betrachtet, ist alles offen, führt der Weg von einer Stufe zur nächsten, öffnet sich ein Fenster nach dem anderen: «Window Steps». Mit der gleichnamigen Produktion stellte sich der Perkussionist in das imaginäre Kraftzentrum der Band. Dann begab er sich mit wechselnden Besetzungen auf die Suche nach einer Art Arche Noah des Klanges, fand quasi in einer Soundschale zu seinem kollektiven Medium des Musizierens. Das Zarte und das Ätherische sind ebenso präsent wie das Erdige und das Schwere, das Elektrische ebenso wie das vom Wind und von den Wellen Berührte, der Gesang ebenso wie die Energie der Elemente.
Singing Drums, ursprünglich ein Quartett mit vier Schlagzeugern, erlebte eine Transformation in eine Gruppe mit zwei Schlagzeugern und zwei Bläsern. Im European Chamber Ensemble kommen Gitarre, Violine, Viola und Bass oder auch Saxofon, Tuba, Harfe, Bassgitarre und Kontrabass hinzu. Eine Welt des Klingenden, bewegt und beflügelt vom Spiel der Perkussionisten, eine orchestrale Welt, in der sich die unterschiedlichen Instrumentalfarben austauschen, gegenseitig inspirieren, komplementieren. «Es gibt Zeiten», sagte er in einem Gespräch mit Patrik Landolt, der das Schaffen von Favre seit Jahren auf dem Label Intakt Records dokumentiert, «da muss ich Stücke schmieden, ich muss mit Kraft und bei grosser Hitze die Substanz her-ausschlagen. Ich arbeite mit verschiedenen Methoden und komme improvisierend zum Ergebnis.»

Die Geschichte komponieren
«Ganzheitlich» scheint mir ein Wort, das Favre gut zu charakterisieren vermag. Ganzheitlich denkt und empfindet er - beim Komponieren und beim Improvisieren, im Umgang mit Melodischem und Rhythmischem. Und er weiss die in unterschiedlichen Bezugsfeldern gewonnenen Erfahrungen zu verinnerlichen - die mit verschiedenen Kulturen ebenso wie die mit Neuer Musik oder mit musisch-interdisziplinären Kooperationsformen. Bei alledem ist in völlig anderer Gestalt auch noch immer etwas vom Jazz enthalten. Schlagzeuger wie Baby Dodds und Big Sid Catlett, die Favre gern zitiert, haben schon in einer Frühphase des Jazz davon gesprochen, dass Swing nichts anderes bedeute, als die Melodie zu gestalten. Favre fügt hinzu: «Und wenn man von der Melodie spricht, dann meint man natürlich auch den Atem, den Raum, die innere Kraft, die Struktur.»
Für die vier Saxofonisten des Arte Quartett und für seinen Seelenverwand- ten, den Tubisten und Serpent-spie-ler Michel Godard, entwarf Favre Klangstücke, die einer Chorfantasie gleichen, einer Suite für Individualisten mit starkem Kollektivgeist. Tanz und Turbulenz der Gedanken. Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Der Perkussionist fädelt sich in die Stimmen ein, wird selbst zu einer solchen, schafft Raum, gibt das Schrittmass vor oder treibt voran. Behutsam und entschlossen. Mit einer Sensibilität, die auf innerer Kraft beruht. Da gibt es die beinahe archaisch anmutende Dimension des Trommelns ebenso wie den ätherischen Klang ferner, unbekann-ter, uns nahe kommender und wieder entschwindender Welten. Handfestes Hand-werk, das an die Schweizer Tambourentradition denken lässt und klangforschender Umgang mit den Materialien, der die Werkstatt in ein Labor verwandelt.
Wie Michel Godard wandert auch Favre durch unterschiedliche Zeitebenen. Er komponiert nicht unter Ausschluss der Vergangenheit, greift nicht nur auf Anregungen aus anderen Kulturen, sondern auch auf frühe Schichten unserer europäischen Musik zurück, bewegt sich auf einer Schiene, die vom Mittelalter und der Renaissance bis in die Gegenwart führt. Dabei zitiert er nicht einfach Vergangenes, er reflektiert und sublimiert, bedient sich des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Und er hat Mut zum Melos. Melos bedeutet Bekenntnis. Dazu der Drive körperlichen Erlebens, das Spiel mit der simultanen Existenz unterschiedlicher Zeitebenen, die bewegende Kraft der Lebenselixiere. Wer immer in solche Bereiche vordringt oder mitgeführt wird, ohne sich seinen Zustand begrifflich bewusst machen zu können oder zu wollen, kann sich wohl dem Ereignis des Plötzlichen und einer vieldeutig aufflammenden Faszination nur schwerlich einziehen. Melancholia lächelt milde von oben.

Das Flüchtige der Musik
Die Musik von Favre ist voller Geschichten, voller Bilder. Aber es sind dies keine Gebilde, die man mit nach Hause tragen kann. Eher aufleuchtende Wasserfarben, die sich im Fluss sogleich wieder verlieren. Kein Journalist, kein Literat hätte Favres Musik trefflicher beschreiben können als er selbst mit der Bezeichnung «Poetry in Motion».
Was im Quartett mit den Perkussionisten Paul Motian, Fredy Studer und Nana Vasconcelos begann, hat Favre in unterschiedlichen Spielkonstellationen fortgesetzt. Die Trommeln gemeinsam singen zu lassen, ist dabei ebenso wichtig wie die Kollegialität, ja die Solidarität unter den Schlagzeugern. Favre gibt seine Erfahrungen gern an nachwachsende Musiker weiter und wird dabei mitunter selbst zum Lernenden. Einer der aus seinem Einflusskreis hervorging, Lucas Niggli, ist für Favre zum musikalischen Partner geworden. «Unser Verhältnis», bekennt Favre, «wird von Grosszügigkeit geprägt. Wir kennen uns so gut, dass wir auch schon mal gleichzeitig den gleichen Fehler machen.» Aus solchen Sätzen spricht nicht nur Humor, sondern auch Souveränität. Zugleich geht es ihm, dem im Juni 1937 Geborenen, darum, «ein inniges und intensives Verhältnis zur Musik zu leben, so, als hätte ich mich erst gerade in die Musik verliebt.» Diese fast jugendlich zu nennende Begeisterungsfähigkeit hat er sich erhalten, ja, ich habe gar den Verdacht, sie ist mit den Jahren stärker geworden.

Der Musiker als Nomade
Favre begreift sein Leben als von nomadischer Wesensart. Vorübergehend war er in Paris zu Hause. Mit der Sängerin Tamia entstanden Klangdialoge von erlesener Sensibilität an den Rändern der Stille. Aus der Westschweiz kommend, lebte er fast immer in anderen Kulturen. Eine Erfahrung, die nicht zur Entfremdung führen muss, sondern gelebten kulturellen Reichtum bedeuten kann, den Favre, nachdem er Mitte der neunziger Jahren nach Zürich zog, an diesen Ort mitgebracht hat. Er ist mit seiner Musik rund um die Welt gereist und mit MusikerInnen aus allen Erdteilen zusammengetroffen. Doch seine eigentliche Heimat ist wohl jener Raum, der sich öffnet, wenn er zu spielen be- ginnt. Ein Raum, in den er uns einlädt, ein Raum, der noch nicht möbliert ist, ein Raum, den er erst im Prozess des Musizierens gestaltet - kraftvoll und feinsinnig, fantasievoll und sehr human. «Heiterkeit und Traurigkeit», so Favre, «gehen ineinander über wie im wirklichen Leben.» Das Atmen ist wichtig in dieser Musik, im metaphorischen ebenso wie im buchstäblichen, im physischen Sinne. Das Atmen und die Leichtigkeit des Tänzerischen. «Tänze», sagt Favre, «haben etwas Elastisches, sie gehen mit dem menschlichen Atem. Zum Tanz kann man nicht marschieren.»

Aus: Die Wochenzeitung; 03.05.2007

 

Zu Intakt Website: www.intaktrec.ch