Feuerstöße
Der amerikanische Trompeter und Komponist Wadada Leo Smith über
die Ursprünge des Jazz in der Blasmusik, die Nähe des Blues
zur Avantgarde und die soziale Verantwortung des Musikers
Ein Interview von Christoph Wagner
“Ich spiele
keine Noten. Ich spiele Klänge. Klänge haben keine Grenzen,
Noten gibt es dagegen nur in begrenzter Zahl,” erklärt Leo
Smith. Der amerikanische Jazztrompeter nimmt im Klangdach-Studio bei
Winterthur mit Günter “Baby” Sommer, Schlagzeugprofessor
aus Dresden, für Intakt ein Album auf.
Sommer hat ein riesiges Arsenal an Schlaginstrumenten aufgebaut: Trommeln,
Becken, Tambourine, Kesselpauken und Gongs. Leo Smith sitzt Sommer direkt
gegenüber. Sein Instrumenarium besteht aus einer Trompete und einem
Flügelhorn sowie verschiedene Dämpfer, dazu eine Reihe elektronischer
Sound-Pedale. Bevor man mit den Aufnahmen beginnt, wird die Akustik
ausbalanciert. Smith hat eine genaue Vorstellung vom Sound, der ihm
vorschwebt, und lässt nicht locker, bis seine Trompete genauso
klingt.
Er setzt den Kopfhörer auf. Dann gehts ans Werk. Sommer tänzelt
übers Schlagzeug, huscht von Becken zu Trommeln, lässt es
zischen, rumpeln und rascheln - ein magischer Puls entsteht. Smith setzt
mit der gestopften Trompete ein, spielt ein paar lyrische Melodien,
bevor er in eine Serie wilder Feuerstöße ausbricht.
“Leos Flügelhorn haben wir noch zu DDR-Zeiten in Markneukirchen
im Vogtland erstanden, um das Geld der Konzertgagen zu verbraten, das
ja im Ausland nichts wert war,” erinnert sich Sommer.
Die beiden kennen sich schon lange. Ende der 70er Jahre begann ihre
Zusammenarbeit im Trio mit dem Bassisten Peter Kowald. So mitreisend,
intensiv und dicht improvisierte damals kaum jemand. Dann traf man sich
nach mehr als zwanzig Jahren wieder. “Es hat sofort geklickt und
wir beschlossen, ein Duo-Projekt zu starten,” beschreibt Sommer
die Wiederbegegnung.
Smith gilt als einer der richtungsweisenden Musiker des modernen Jazz.
In den 60er Jahren war er eine treibende Kraft der Musikerorganisation
AACM, die Chicago zu einem Brennpunkt der Avantgarde machte. Dann schrieb
Smith Jazzgeschichte, als er 1972 das erste Soloalbum für Trompete
aufnahm. Seither hat er mit vielen der namhaftesten Improvisatoren gearbeitet
von Anthony Braxton und Muhal Richard Abrams bis Oliver Lake und Henry
Threadgill.
Nach einer ruhigeren Periode gewann seine Karriere Ende der 90er Jahre
erneut an Fahrt, als er etliche Einspielungen für John Zorns Tzadik-Label
machte. Jetzt steht der schwarze Trompeter abermals im Brennpunkt aktueller
Trends mit einem Album, das er mit den Erfindern von Drum ‘n’
Bass, Spring Heel Jack, aufgenommen hat. Daneben sorgt seine Kooperation
mit Henry Kaiser im Miles Davis-Projekt “Yo Miles” für
Aufmerksamkeit.
Sie stammen aus Mississippi, dem Landstrich, wo die Bluesgitarren
förmlich aus dem Boden zu wachsen scheinen. Hat sie das geprägt?
Leo Smith: Mein Vater war Bluesmusiker. Er spielte Gitarre, sang und
schrieb Stücke. Er gehörte zur Delta-Blues-Tradition, in der
die Gitarristen normalerweise die Bandleader sind. Er machte modernen
elektrischen Blues à la B.B. King. Mit seiner Band reiste er
umher und trat auf. Oft probten sie bei uns daheim im Wohnzimmer, oder
man saß einfach nur so herum, aß, redete und machte ab und
zu ein bisschen Musik.
Wann begannen sie mit dem Musikmachen?
Leo Smith: Mit 12 Jahren fing ich in der Schule an, ein Instrument zu
lernen. Eigentlich wollte ich Schlagzeug spielen, aber als es bei der
Instrumentenausgabe keine Trommel mehr gab, bekam ich ein Waldhorn,
was mir überhaupt nicht behagte. Ich tauschte das Instrument später
gegen eine Trompete ein, was Wunder wirkte, denn bald war ich der beste
Trompeter unsere Schulkapelle. Wir traten bei Schulfeiern, Umzügen
und öffentlichen Anlässen auf. Ich nahm die Musik schon damals
sehr ernst, weil ich spürte, dass sie ein ganz besonderes Medium
ist.
Haben sie freiwillig geübt oder gab es Druck von den Eltern?
Leo Smith: Man hat mich nie zum Üben ermahnen müssen. Ich
folgte immer meinen eigenen Vorstellungen, und das scheint mir auch
der einzige Weg zu sein, etwas zu erreichen. Wenn man macht, was einem
Spass macht, fällt es einem leicht. Wenn man zu etwas gezwungen
wird und man sich dagegen sträubt, führt das zu nichts.
Danach sind sie dem Musikkorps der US-Armee beigetreten. Wie kam
es dazu?
Leo Smith: Die Armybands sind eine Art Musikhochschule. Dort bekommt
man eine gründliche Ausbildung. Und der Jazz ist ja nicht weit
von den Marschkapellen entfernt. Am Anfang des Jazz standen kleine Blaskapellen.
Sie spielten bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen. In ihnen
war der afrikanische Einfluss dominant. Sie haben die Blechmusik von
der Marschmusik entkoppelt. Plötzlich wurde die Marschmusik ganz
anders gespielt.
Haben sie in der Jugend auch Blues gespielt, vielleicht mit ihrem
Vater?
Leo Smith: Als ich dreizehn war, fing ich an, öffentlich aufzutreten.
Ich lernte das Musikmachen vor Publikum auf der Bühne und nicht
im stillen Kämmerlein. Weil die Delta-Blues-Tradition eine mündliche
Praxis ist, lernt man direkt beim Spielen. Man reagiert auf andere Musiker,
hört, was sie machen. Improvisation ist ein wichtiger Bestandteil
davon. Das Bluesschema ist die freiste musikalische Form. Es gibt Raum
für Kreativität, für Neuerfindungen. Das meinte Miles
Davis, als er sagte: In der Musik fängt man mit etwas an, das man
kennt, und endet bei etwas, das man nicht kennt. Das ist der Grundsatz
des Blues, ja jeder Kunst: vom Bekannten zum Unbekannten. Darin besteht
der kreative Prozess.
Wo traten sie damals auf?
Leo Smith: Ich spielte in den rauhsten Bars und Kneipen, weil das die
Orte sind, wo die Leute sind, wo das Leben pulsiert. Dort findet Live-Musik
statt. Die Musik, die dagegen in Konzertsälen gemacht wird, ist
eine bequeme Annehmlichkeit, bringt meistens wenig Neues, ist ein Museumsstück.
Die bessere Gesellschaft liebt das Hergebrachte, hat Angst vor Veränderungen.
Für lebendige Musik ist es wichtig, in Kontakt mit den Menschen
zu bleiben.
In Chicago wurden sie 1967 Mitglied der Musikerorganisation AACM,
deren Ziele über die Musik hinausreichten, die soziale und politische
Forderungen stellten. Wie wichitg war das für ihre Entwicklung?
Leo Smith: In Chicago begegnete ich einem Kollektiv von Künstlern,
die bereits in grösseren Kategorien dachten, die das Musikmachen
als kulturelle Erfahrung begriffen. Sie wollten damit ihr soziales Umfeld
beeinflussen.
Das war ein umfassender Ansatz, der sehr wichtig für mich war.
Es war der Gedanke von der sozialen Verantwortung des Musikers. Wir
gründeten eine Schule, die Bildungsarbeit für Kinder, Jugendliche
und ihre Eltern leistet. Es ging um die Rolle der Musik in der Gesellschaft.
Wir veranstalteten Konzerte und versuchten die politische und soziale
Wirklichkeit unsere “communities” zu verbessern.
Ein Markenzeichen der AACM war, dass die Mitglieder in Ensembles zusammenspielen,
daneben jeder aber auch sein eigenes Ensemble leitete. Der Grundsatz
war: Spiel deine eigene Musik, nicht die von anderen Leuten!
Wie erfolgreich war die AACM?
Leo Smith: Sehr erfolgreich was die Musik betrifft. Sie bildete eine
Plattform für Musiker, die etwas anderes machen wollten. Das wirkt
bis heute nach in der Generation, die nachwächst. Was das Soziale
und Politische anbelangt, gab es Defizite. Ferner haben wir es nicht
geschafft, eine ökonomische Veränderung zu erreichen. Es war
ein Fehler, keine Plattenfirma zu gründen.
Das haben sie dann selber gemacht. Sie haben Kabell gegründet,
ihr eigenes unabhängiges Label?
Leo Smith: Ein Plattenlabel kann Künstlern ein Forum bieten, um
ihre Ideen zu präsentieren. Mir ging es darum, diejenigen Leute
zu erreichen, die sich für meine Musik interessierten. Die Firma
betrieb ich auf kleiner Flamme. Wir pressten 500 Stück, ließen
Hüllen drucken, und meine Frau und ich stellten sie dann in Heimarbeit
her. Bei Konzerten wurden sie verkauft.
Zur selben Zeit fing ich an, Essay zu schreiben, um unsere Musik und
die Rolle in der Gesellschaft aus der Perspektive der afro-amerikanischen
Künstler zu erklären. Es ging darum, den Musikern der afrikanischen
Diaspora eine intellektuelle Stimme zu geben, ihnen die Anerkennung
zu verschaffen, die ihnen versagt wurde. Es ging um Definitionsmacht.
Wer prägt Begriffe? Wer ist Teil der Macht, die über intellektuelles
Eigentum bestimmt?
In den 70er Jahren war dann die Gruppe New Dalta Ahkri das Vehikel
ihrer Visionen. Was strebten sie an?
Leo Smith: New Dalta Ahkri war eine Forschungseinheit, mit der ich neue
Ideen und Konzepte erkundete. Es ging um Alternativen zu ausnotierter
Musik.
Sie gingen dann Mitte der 70er Jahre an die Universität zurück,
um abermals ein Studium aufzunehmen. Warum?
Leo Smith: Ich wollte erforschen, wie Musik in Afrika, Indonesien und
anderen Gegenden Asiens konstruiert ist. Ich spielte an der Universität
in Ensembles, die solche Musik machten. Es ging mir um ein tieferes
Verständnis dieser Musik, ihrem sozialen Umfeld, der Bräuche
und Alltagsgewohnheiten, in die sie eingebunden ist. Diese Recherchen
waren von meinen musikalischen Aktivitäten inspiriert und sollten
wiederum in meine Musik zurückfließen. Ich wollte kein Forscher
ethnischer Musik werden, sondern mir über meinen eigenen Standpunkt
als Künstler Klarheit verschaffen, indem ich mich mit der Rolle
des Musikers in anderen Kulturen befasste.
Ich wollte auf die Frage einen Antwort finden, was Kunst in einer Epoche
bedeutet, in der die ganze Welt dein Zuhause ist. Nur ganz wenige Musiker
haben dieses Problem gelöst, zu allererst Don Cherry. Er ist der
Meister der Weltmusik, die nicht mit ethnischer Musik zu verwechseln
ist. Weltmusik ist eine musikalische Sprache, die universell ist und
jede Tradition einbeziehen kann. Daran arbeite ich.
Ende der 60er Jahren zogen viele Jazz-Avantgardisten von Chicago
nach Paris, darunter auch sie. Was waren die Beweggründe?
Leo Smith: Wir hatte genug Zeit in Chicago verbracht und wollte etwas
anderes erleben. Tapetenwechsel kann nicht schaden. Er erweitert den
Horizont. Wir erhofften uns neue Inspiration und Einflüsse durch
die Begegnung mit Europa. Ich blieb ungefähr neun Monate dort und
gab in dieser Zeit mehr Konzerte als ich in den USA hätte geben
können. Wir trafen interessante Künstler und Musiker, was
uns neue Ideen gab. Danach war die Misson erfüllt.
In den 80er Jahren wurden sie zum Rasta, ließen sich Dreadlocks
wachsen, nahmen den Rasta-Namen Wadada an. Was war die Antriebsfeder?
Leo Smith: Die Rastafaris waren eine der wenigen Gruppen, die weltweit
das Bild der Schwarzen repräsentierten. Sie redeten davon, dass
Menschen schwarzer Hautfarbe unterdrückt werden. Ihr Lebensstil
ist ein alltäglicher Protest gegen die Diskriminierung. Das war
der Hauptgrund. Und es wurde nicht nur geredet, sondern gehandelt. Bob
Marley gab Millionen den Befreiungsbewegungen in Afrika. Er unterstützte
mehr als hundert Schulen in Afrika, der Karibik und Amerika. Er handelte
als sozialverantwortliche Person, was das Leben vieler Menschen verbessert
hat.
Auswahldiskopgrafie:
Wadada Leo Smith & Günter “Baby” Sommer. Wisdom
in Time (Intakt 128).
Wadada Leo Smith & Henry Kaiser: Yo Miles! Sky Garden. (Cuneiform).
Spring Heel Jack & Wadada Leo Smith: The Sweetness of the Water.
(Thirsty Ear).
Wadada Leo Smith, Susie Ibarra, John Zorn: 50-8. (Tzadik/Sunny Moon))
Christoph Wagner, Jazzthetik, Deutschland, März 2007
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