Manfred Papst
Laudatio auf Co Streiff
Kunstpreis des Kantons Aargau
Samstag, 20. Mai 2017, Alte Reithalle, Aarau
Liebe Co Streiff, sehr geehrter Herr Dr. Rolf Keller, sehr geehrter Herr Regierungsrat Alex Hürzeler, verehrte Gäste!
Es ist mir eine Ehre und Freude, Ihnen hier ein paar Worte zum Lob und Preis der Musikerin Co Streiff vortragen zu dürfen. Seit Jahrzehnten fasziniert mich ihre Persönlichkeit, seit ebenso langer Zeit beschäftigt mich ihr vielschichtiges Werk.
Co Streiff, geboren 1959 in Zürich, ist sehr früh zur Musik gekommen. Ihre Mutter brachte sie stets in die «Rhythmik»-Stunde zu Mimi Scheiblauer am Hottingerplatz in Zürich. Da kam das Mädchen mit einer starken Persönlichkeit in Kontakt und erlebte den rhythmischen Boden aller Musik, der sie auch in späteren Jahren so faszinieren sollte. Die Mutter schleppte sie drei, vier Jahre dorthin, auch als die Familie schon aus der Stadt Zürich ins Aargauer Freiamt gezogen war. Da war Co Streiff drei Jahre alt. Auch mit einer zweiten Lehrerin hatte das Mädchen Glück: Fräulein Heinrich erteilte ihr Blockflötenunterricht. Bald schon durfte die kleine Co in der Kirche Barockmusik spielen, die Lehrerin begleitete sie an der Orgel.
Als die 15-Jährige in die Kantonsschule kam, fand sie, dass sie der Blockflöte allmählich entwachsen sei, und wechselte zur Querflöte. Unglücklicherweise erwischte sie einen Lehrer, der ihr gar nicht passte. Dennoch eignete sie sich die Technik auf diesem schwierigen Instrument an.
Co Streiff hatte anspruchsvolle und pflichtbewusste Eltern. Sie hätten nie gesagt: Musik ist vielleicht doch etwas für dich, probier’s doch einfach einmal aus. Sie fanden, als Künstler müsse man vom Himmel gefallen sei, ein Wunderkind, sonst sei ein bürgerlicher Beruf gefragt. Die junge Frau machte deshalb erst einmal brav die Matura. Dann war sie ratlos, wohin es mit ihr gehen sollte. Ihr standen viele Wege offen. Zu viele! Es war, wie sie sich erinnert, eine schwierige Zeit.
Doch dann kam es, das unverhoffte Initiationserlebnis. Irgendwann lieh sie sich ein Altsaxofon aus, wie ein Zufall kam es ihr vor. Ein Zu-Fall im Wortsinn, Das Instrument fiel ihr zu, und zwar in der Bibliothek Affoltern am Albis. Sie konnte es ausleihen, und sie kann sich genau an den magischen Moment erinnern. «Es ist mir sofort in die Hände gewachsen», sagt sie, «ich wollte es gar nicht mehr hergeben, im ganzen Leben nicht. Ich fing wie wild an zu üben.»
Damals hörte die Achtzehnjährige schon sehr viel frei improvisierte Musik. Der amerikanische Free Jazz der sechziger Jahre begeisterte sie. John Coltrane, Yusef Lateef, Ornette Coleman, Archie Shepp. Später kam auch die Free-Funk-Szene hinzu. Als sie 1977 zurück kam von einem Austauschjahr in Amerika, hatte sie einen Freund, der Bassist und Tubist war. Der improvisierte frei mit seinem Trio. Und der jungen Co Streiff war sofort bewusst: Hier lag etwas, das sie in der klassischen Musik nicht gefunden hatte. «Ich habe das Saxofon gepackt», hat sie mir erzählt, «und frei improvisiert, bevor ich Tunes und Changes kannte. Ich hatte eine gewisse Technik von der Querflöte her, aber dann habe ich völlig naiv versucht, einfach alles nachzuspielen, was ich hörte. Am meisten faszinierten mich die eruptiven Klangkaskaden. Ein harmonisches Bewusstsein hatte ich noch nicht. Im Ohr natürlich schon, aber noch nicht in den Fingern.»
Für eine grosse Technikerin hält sich Co Streiff bis heute nicht. Ich habe zwar den Eindruck, dass sie da ihr Licht unter den Scheffel stellt, aber Co winkt ab. «Gegenüber den heutigen Absolventen von Jazzhochschulen», sagt sie, «habe ich eine sehr begrenzte Technik. Ich habe aber erfahren, dass Limiten einen nicht nur beengen, sondern dass sie auch richtungsweisend sein können. Das gilt nicht nur für die Musik, sondern auch fürs Leben. Mit absoluter Freiheit und unbegrenzten Ressourcen kann man schwer umgehen.»
Zwischen Matur und Studium ist Co Streiff viel gereist. Sie lernte einen Grafiker aus Krakau kennen, den sie oft besuchte. Es entstand eine ganz spezielle Freundschaft. Vier, fünf, sechs Jahre hatten die beiden engen Kontakt. Damals hatten die polnischen Kulturschaffenden kaum das Nötigste zum Leben und Arbeiten. Aber sie machten das Beste aus ihren wenigen Möglichkeiten. «Diese Armut hat mich zuerst schockiert», erinnert sich Co Streiff, «mir dann aber auch die Augen geöffnet. Ich habe mir gesagt: Ich werde vielleicht weniger Aussicht auf Erfolg haben, wenn ich mich für die Kunst entscheide, aber eigentlich will ich das im Innersten. Und wenn die das können und irgendwie durchkommen, dann kann ich das auch.»
Das hat ihr Mut gemacht, denn sie musste sich schon gegen Widerstände wehren. Ihre Eltern, die nur das Beste für sie wollten, waren gar nicht begeistert von ihrem Lebensentscheid für die Kunst. Ihr Vater sagte: Entweder du studierst, oder du musst selber für deinen Unterhalt sorgen.
Etwa zwei Jahre hat Co Streiff dann tatsächlich studiert, Psychologie, Ethnologie und Soziologie, aber nach eigenem Bekunden war sie nicht mit ganzem Herzen bei der Sache, weil sie daneben intensiv Musik machte. Mit Martin Schumacher, Fredi Flückiger, aber auch internationalen Musikern. Die Band Arkadash war ihre Gründung. Daneben wollte Psychiaterin werden, ging nach Königsfelden zum Arbeiten, traf dort aber Strukturen an wie vor hundert Jahren. Das nahm ihr den Mut. Sie suchte nach Alternativen. Arbeitete bei einem Bergbauern, ging wieder auf Reisen. Sie studierte nur noch bei speziellen Dozenten, so bei Mario Erdheim, dem Nestor der Ethnopsychoanalyse. Um ihre Eltern zu beruhigen, ging sie doch noch ans Schulmusikseminar, absolvierte eine berufsbegleitende Schnellbleiche von zwei Jahren und stand dann plötzlich ratlos vor einer Sekundarschulklasse, die nichts als Blödsinn im Sinn hatte.
Zum Glück wurde ihr Talent als Musikerin unterdessen weitherum erkannt und anerkannt. Zehn Jahre wirkte sie im Kollektiv Zirkus Federlos mit. «Wir haben damals so gut wie nichts verdient», erinnert sie sich, «aber wir waren glücklich. Wir waren zwei Mal fast ein halbes Jahr in Westafrika. Einmal auch zwei Monate im südlichen Afrika, vor allem in Simbabwe. Wir haben den Austausch mit den Einheimischen gesucht, mit ihnen zusammengespielt. Wir gingen ein und aus beim grossen Fela Kuti.»
Bald wurde Co Streiff von allen Seiten gedrängt, in verschiedenen Formationen mitzuspielen. 1986 traf sie Irène Schweizer, 1988 stiess sie zum legendären Vienna Art Orchestra, in dem sie eine tragende Rolle spielte. Von den frühen 1980er Jahren an war sie hauptsächlich freie Musikerin, gab aber auch immer wieder Privatstunden. Sie blieb freischaffende Künstlerin bis vor fünf Jahren. Dann verspürte sie das wachsende Bedürfnis, ihren beiden heranwachsenden Kindern eine sichere Perspektive für die höhere Schule und fürs Studium zu bieten. Mit zwei freischaffenden Musikern als Eltern war das schwierig. Ihr Partner Tommy Meier und sie hatten sich immer abgestrampelt. Workshops erfunden, Schüler gesucht, Projekte auf Tour geschickt. Es machte alles Freude, führte finanziell aber auf keinen grünen Zweig.
Deshalb überlegte Co Streiff sich, was sie sonst noch interessieren würde. Sie dachte an Logopädie. Singen und Sprache, wer hätte das besser vermitteln können als sie! Dort wurde sie aber wegen ihrer Zahnstellung abgelehnt, und es wurde ihr in allem Ernst nahegelegt, eine Spange zu tragen. Sie sollte zu einem Kieferorthopäden geschickt werden. Aber sie insistierte zum Glück, dass sie ihre Zähne brauchte, so wie sie waren, nämlich für ihren unverwechselbaren Ansatz als Saxofonistin. Die Haltung der Schulbehörden, meine verehrten Damen und Herren, ist für meine Begriffe ein Beispiel dafür, wie borniert die Schweizer Bürokratie auch im 21. Jahrhundert noch sein kann.
Ein Jahr nach diesen demütigenden Erfahrungen sah Co Streiff, dass bei den Schulen wegen Lehrermangels Quereinsteiger gesucht wurden. Sie absolvierte kurzentschlossen die Ausbildung, und seit fünf Jahren unterrichtet sie an der Primarschule. Es macht ihr eine Riesenfreude, und ich stelle mir vor, dass sie eine engagierte und empathische Lehrerin ist. Wenn ich fünfzig Jahre jünger wäre, würde ich mit roten Ohren zu ihr in die Mittelstufe gehen. «Diese Buben und Mädchen», sagt Co Streiff, «haben schon Pfupf, sind aber noch richtige Kinder. Die Pubertät, die sie zwangsläufig zu Qualgeistern macht, ist noch in sicherer Entfernung.»
An ihrem neuen Beruf als Primarlehrerin schätzt Co Streiff unter anderem, dass sie erstmals einen «normalen» Lohn verdient. Aber es geht ihr nicht nur ums Materielle. Sie hat zahlreiche Musiker in ihrem Alter erlebt, die den Glauben in die Zukunft verloren haben und deshalb mehr und mehr ins Klönen geraten sind. So wollte und will sie nicht werden. Sie ist eine geborene Optimistin, eine, die zupackt und in deren Wortschatz das Wort «unmöglich» nicht existiert. Doch sie räumt ein, dass das Leben nicht einfach ist. Die Erfahrung nimmt mit den Jahren zwar zu; die Kräfte aber tun es nicht. Und als Freischaffende muss man ein Stehaufmännchen sein. Ich bin mir bewusst, dass dieser Satz ein bisschen schief ist. Wie soll eine grosse starke Frau ein Männchen sein? Aber unsere Sprache kennt das Stehauffräuchen nicht, obwohl es in der Natur weitaus häufiger vorkommt als die männliche Variante. «Man muss immer 80 Prozent Absagen verkraften», sagt Co Streiff, «das ist ein riesiger Müllhaufen, den man immer wieder wegschaufeln muss.»
Co Streiff hat in vielen Formationen gespielt. Besonders gern erinnert sie sich an die Arbeit mit ihrem Sextett, und ich kann ihr nur beipflichten: Die Vielfarbigkeit, Energie und Phantasie, die hier wirkt, ist verblüffend. Zum Glück ist sie auf zwei herrlichen Alben festgehalten. Erwähnt werden muss aber auch die Gruppe Kadash, die eigentlich eine Restgruppe von Arkadash war. Sie spielte eine Art von imaginärer, innovativer Volksmusik aus aller Herren Ländern. Vom gängigen Ethnokitsch des Weltmusik-Pop war Co Streiff immer Lichtjahre entfernt. Sie kennt die Musik der arabischen Welt und Afrikas von unzähligen Reisen, von Begegnungen mit Künstlern, vom intensiven Quellenstudium, vom Austausch mit dem Musikethnologen Fredi Flückiger, der lange ihr Freund war. Da ging es um Verständigung auf Augenhöhe, ohne dass die je eigenen Positionen preisgegeben worden wären. Die Musik, die Co Streiff uns schenkt, ist Dialogik in dem Sinn, den der grosse jüdische Philosoph Martin Buber formuliert hat.
Zu den wichtigen Begegnungen in Co Streiffs Leben als Künstlerin gehörte natürlich auch die mit der Pianistin Irène Schweizer. Nicht weniger als 24 Jahre haben die beiden zusammengespielt, als absolut symbiotisches Duo, das in jeder Lebenslage loslegen und Neuland erkunden konnte. Diese Kombination wird jedem Jazzfan in dankbarer Erinnerung bleiben, freilich mit dem Wermutstropfen, dass sie seit nunmehr sechs Jahren ruht. Vielleicht und hoffentlich ja nicht für immer! Nicht vergessen werden darf bei der Würdigung von Co Streiffs Formationen auch ihr letztes Quartett mit Russ Johnson, der schon bei ihrem Sextett mittat. Was diese Formation geleistet hat, zählt zum Überraschendsten und Überzeugendsten, was der zeitgenössische Jazz zu bieten hat.
Co Streiff ist mit Herz und Seele eine Live-Musikerin. Wenn sie im Studio arbeitet, ist nach ihrem eigenen Bekunden meist das erste Take das Beste. Das Herumwerkeln und Nachbessern liegt ihr nicht. Es nervt sie eher. Sie liebt die Epiphanie, den schöpferischen Moment, der gleichsam aus dem Nichts entsteht. Wer sie auf der Bühne erlebt, spürt sofort ihre Präsenz. Sie setzt den Raum in Schwingung. «Ich lebe sehr stark mit dem Publikum», sagt sie denn auch. «Heute klingen die meisten Studios nicht mehr gut, weil alles sterilisiert und also abgetötet ist. Ich brauche einen Raum, der mit mir spielt» - und ich darf anfügen: Die alte Reithalle in Aarau ist so ein Ort. Wir durften es gerade erleben.
Co Streiff tritt auch besonders gern im Thik in Baden und im Theater am Gleis in Winterthur auf. Ihr gemietetes Instrument, von dem ich eingangs erzählte, konnte sie übrigens der Bibliothek in Affoltern dann abkaufen, für 300 Franken. Später hat sie es einer guten Freundin geschenkt, weil sie es nicht mehr brauchte. Ein Saxofonist, den sie an der Jazzschule Bern im Vorkurs kennenlernte, verkaufte ihr ein Selmer-Instrument der Reihe Mark 6. Keine berühmte Seriennummer, aber für sie genau das Richtige. Es hat etwas Raues, Urwüchsiges, und einen extrem farbigen Klang. Das kommt Co Streiffs Ausdruckskunst entgegen. Ihre Musik braucht Widerstand. Sie spielt das offenste Mundstück mit einem mittleren Blatt, 2 ½ oder allenfalls 2, wie ich für die Kenner anfügen darf.
Co Streiffs Ton hat einen auratischen Schmelz an der Oberfläche, vor allem aber einen festen Kern. Der ist ihr wichtig. Die ganz weichen, gleichsam knochenlosen Altsaxofonisten, wie sie uns im virtuosen Westcoast-Jazz begegnen, findet sie grässlich. Sie will, wie sie in der ihr eigenen Prägnanz sagt, weder «gäggig» tönen noch «schleimen».
Bei aller Energetik hat die Musik von Co Streiff auch etwas Meditatives. Sie ist überzeugt, dass man in der frei improvisierten Musik ganz leer werden muss, bevor man zu spielen beginnt. Man muss in einen Zustand der Durchlässigkeit kommen. Und die Musik, die dann entsteht, soll Räume öffnen und nicht alles zudecken mit monologischen Eruptionen. Co Streiff spielt gekonnt mit Intervallen, auch mit kubistischen Strukturen, mit Klangfiguren, die sich unmerklich verschieben. Der traditionellen Funktionsharmonik steht sie skeptisch gegenüber.
Im Lauf der Jahre hat sie auch einzelne Stücke aus dem Great American Songbook geübt und gern bekommen. Aber sie hat nie über ein Repertoire von 100 Fremdkompositionen verfügt wie die Absolventen heutiger Jazzschulen. Sie liebt Charles Mingus, aber auch den Soul-Jazz von Cannonball und Nat Adderley. Musical-Songs liegen ihr weniger.
Interessant für ihren Werdegang und Stil ist, dass sie sich immer viel mehr an grossen Tenorsaxofonisten orientiert hat als an Altsaxofonisten. John Coltrane, Archie Shepp, Sam Rivers, Joe Henderson gehören zu ihren Helden.
Wenn Co Streiff komponiert, tut sie das oft zuerst am Saxofon, auf dem sie die Kernideen entwickelt, sodann am Klavier, auf dem sie zusätzliche Stimmen entwirft. Dem Computer als Hilfsinstrument geht sie aus dem Weg, obwohl oder vielleicht gerade weil man dort schnell sehr weit kommt. Er erleichtert vieles, birgt aber die Gefahr, dass man stereotyp zu schichten anfängt. Sie hört es sofort, wenn Aufnahmen von Kollegen diese bequeme Abkürzung genommen haben.
Ich komme zum Schluss. Co Streiff ist eine höchst vielseitige und neugierige Musikerin von höchster Spielintelligenz. Sie ist innovativ und mutig, eigenwillig und originell. Ihr Werk spricht für sich. An ihrer Kunst hätten wir schon mehr als genug. Sie wissen es alle, meine sehr geehrten Damen und Herren: Künstler dürfen schwierig sein. Manchmal müssen sie es sogar. Sie schützen sich durch Unnahbarkeit, Schroffheit, Verweigerung des Gesprächs. Das haben wir zu akzeptieren. In der Person von Co Streiff aber begegnet uns gewissermassen die Quadratur des Kreises. Sie ist eine bedeutende Künstlerin, und sie ist gleichzeitig ein Mensch von schönster Herzlichkeit. Wenn sie einen Raum betritt, dann wird es hell und warm. Man kann herzlich mit ihr lachen, und am liebsten lacht sie über sich selbst. Ihr Weg war lang und nicht immer einfach. Aber für meine Begriffe ist sie gleichwohl vom Himmel gefallen oder vielmehr geschwebt, und wunderbar sanft ist sie gelandet.
Ich beglückwünsche das Aargauer Kuratorium zu seiner klugen und umsichtigen Wahl. Dir, beste Co, wünsche ich alles Liebe und Gute; und Ihnen, meine geschätzten Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
Manfred Papst, 20. Mai 2017
Co Streiff
Dankesrede
anlässlich der Verleihung des Kunstpreises des Kantons Aargau
am 20. 05. 2017 in der Alten Reithalle Aarau
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde und Freundinnen,
Heute darf ich mit Euch ein Fest feiern zu einem Anlass, den ich in all den Jahren nie erwartet hätte.
Als ich per Telefon über meine Wahl zur Preisträgerin des Aargauer Kunstpreises informiert wurde, waren meine ersten Gedanken: Wie habe ich das denn verdient? Wie kann ich dieser Ehre gerecht werden? Was werden die anderen Musiker und Musikerinnen denken, mit denen ich so viel geteilt habe? Und wem habe ich das alles zu verdanken....?
Und es beginnt eine Reise im Kopf zurück: je länger ich in diesen Rückspiegel schaue, desto mehr Fenster in die Vergangenheit tun sich mir auf. Und Überraschung, Freude, Stolz - all die Gefühle, die sich im ersten Moment auf den Kunstpreis, die damit verbundene Ehre und natürlich auch auf die stattliche Summe richten - werden anders spürbar, haben plötzlich nicht mehr mit dem Preis zu tun, sondern mit der liebe- und vertrauensvollen Begleitung, die jeder Mensch in seinem Leben braucht, um weiterzukommen.
So wandelt sich meine anfängliche Dankbarkeit, die sich mit der erhaltenen Ehre beschäftigt, immer mehr in eine tiefe respektvolle innere Dankbarkeit an alle, die mich über all die - ja, 58 - Jahre hinweg begleitet haben.
Denn je länger ich in diesem Zeitspiegel meines Lebens zurückblicke, desto mehr fällt mir ein, wem ich all die vielen kleinen und grossen Bestätigungen auf meinem Weg zu verdanken habe. Ich denke an meine Eltern, die mich früh gefördert und gefordert haben. Sie haben mir gelehrt, grosse (manchmal fast zu hohe) Ziele zu stecken, mir gezeigt, dass Arbeit in Selbständigkeit verbunden mit Entscheidungsfreiheit ganz selbstverständlich möglich und erstrebenswert ist. Aufgewachsen in anfangs einfachen Verhältnissen in der Stadt, dann im 300-jährigen Bauernhaus mit Ofenheizung, mitten in ländlicher Naturverbundenheit, aber mit
weitem Horizont, habe ich Bescheidenheit gelernt.
Ich denke an meinen Mann und musikalischen Wegbegleiter Tommy Meier, der sich mit mir auf das Wagnis einer Familie mit 2 Kindern eingelassen hat, der mir Liebe, Vertrauen, Heimat, Sicherheit, und ein weites Feld der Freiheit gibt...Mit ihm habe ich die halbe Welt bereist, immer im Gepäck unsere Saxophone, getrieben von der Lust, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen in Austausch zu treten und getragen von unserer gemeinsame Leidenschaft, der improvisierten Musik.
Ich denke dabei an die Musiker meiner allerersten Band Arkadas, die mich in meinen Anfängen unterstützt haben, auch wenn ich manchmal in Tränen aufgelöst aus Proben gerannt bin, weil ich meinen Ansprüchen nicht genügen konnte, an meinen inneren Blockaden verzweifelte und unfähig war, die Soloparts zu spielen..... ja, arm an Selbstzweifeln war ich tatsächlich nie, und das bis heute nicht.
Irène Schweizer hat mich 1986 ans Canaille Festival eingeladen und damit einen Stein ins Rollen gebracht: meine Initiation in die Frei Improvisierte Musik und in die Internationale Jazzszene. Die beginnende Zusammenarbeit mit ihr hat uns während 25 Jahren auf unzählige Bühnen gebracht und als Duo fest zusammengeschweisst.
Matthias Rüegg und Uli Scherer haben mich ins Vienna Art Orchestra geholt und damit während den circa 8 Jahren Zusammenarbeit auf viele abenteuerliche Tournéen in ganz Europa.
Das Circustheater Federlos, das mir während 10 Jahren eine grosse, wenn auch nicht immer harmonische Familie war, hat mich geprägt in steter intensiver Auseinandersetzung mit der Utopie einer gleichberechtigten Gesellschaft. Das Circustheater Federlos war nicht nur Arbeit, sondern die Idee eines Lebens und Arbeitens im Kollektiv, unter einfachen aber egalitären Bedingungen, mit gleichem Lohn für alle, geteilter Arbeit für alle, es war ein politisches Statement, eine Antithese zur kapitalistischen Welt. Gleichzeitig kamen wir mit unserem uneingeschränkten Engagement zu unvergesslichen Abenteuern und Reisen in Europa und Afrika, wo sich für uns die Welt öffnete und wir - anstatt viel Lohn - vor allem viele Begegnungen mit Menschen anderer Kulturen erleben konnten.
Ich möchte all meinen treuen Wegbegleitern danken, mit denen ich in vielen meiner Projekte immer wieder und bis heute zusammenarbeiten konnte...
Dazu gehören auch Patrik Landolt und Rosmarie Meier, die mir mit dem Label Intakt Records während langer Zeit eine Identität und eine Kontinuität meiner musikalischen Werke garantiert haben.
In meinen Dank möchte ich auch meine LehrerInnen in der Schulzeit einschliessen - die Rhythmiklehrerin Mimi Scheiblauer, die Blockflötenlehrerin Annerose Heinrich, Musiklehrer Kurt Steimen, Flötenlehrerin Brigitte Bryner-Kronjäger, Pianist Art Lande, aber auch Ludwig Storz und Max Matter an der Alten Kantonsschule Aarau - sie haben meinen Horizont erweitert.
Und ich danke von ganzem Herzen dem Aargauer Kuratorium sowie dem Kanton Aargau für die Verleihung des Kunstpreises. Ich freue mich sehr.
2
Als ich Saxophon zu spielen begann, waren Frauen im Jazz entweder Sängerinnen oder Pianistinnen; der Bebop, wie er an den Jazzschulen damals gelehrt wurde, interessierte mich allerdings weit weniger als der Free Jazz und die aktuellen Strömungen der europäischen improvisierten Musik. Die starren Regeln des Bebop, das kompetitive Verhalten vieler männlicher Kollegen, schreckte mich ab. Ich suchte einen viel direkteren Ausdruck in der Musik. Ich hörte Ornette Coleman und das Art Ensemble of Chicago. Das waren zwar auch alles Männer, aber ihre Musik war viel freier, kommunikativer.
Ich habe mich schon als junge Musikerin auch intensiv mit anderen Kulturen und Musikstilen beschäftig; ich bin viel gereist und habe mit Volksmusikern aus den verschiedensten Ländern zusammengespielt. Ich hatte das grosse Glück, Arabische, Afrikanische und die Musik Zentralasiens buchstäblich am eigenen Leib zu erfahren. Vor allem hat mich das Zeitverständnis dieser Musik sehr beeindruckt: die scheinbar endlosen Wiederholungen und unmerklichen Veränderungen der Motive haben einen unglaublichen Sog; Meditation und Ekstase zugleich.
Für mich war es nur natürlich, stilistische Grenzen zu überschreiten. Es war mir immer wichtig, nicht in eine Schublade gedrückt zu werden. Meine Konzerte sollten komplexe Klangreisen sein, ein Abenteuer für die Musiker und das Publikum.
Musikmachen heisst für mich kommunizieren, ohne Vorbehalt, direkt, ohne Worte. Reine Virtuosität hat mich nie interessiert, viel mehr das Rauhe, Kantige, die Ränder der Töne, der Klang, der Ausdruck, die Energie, und die Geschichte, die ich selber erzählen will.
Mit 20 Jahren habe ich für mich viele Richtungen gesehen. Die Musik war aber das Einzige, was mir die Möglichkeit gab, meine Meinung kundzutun, vielleicht sogar einen Beitrag zur Veränderung der Welt zu leisten, ohne Schaden anzurichten, ohne
bestechlich zu werden.
Dennoch hat sich mit der Zeit die Musik in ein Geschäft verwandelt, ein Unternehmen, das Projektmanagement, Organisation, Werbung, Kompromisse erforderte. Immer mehr fühlte ich mich beschwert durch die unendliche Zunahme der Büroarbeit, immer mehr zog mich die permanente Abwertung beim sogenannten "Verkaufen" in eine tiefe Unzufriedenheit. Das ungute Gefühl stellte sich ein, bei aller Leidenschaft und Hingabe an die improvisierte Musik und dem damit verbundenen politischen Statement - doch stets am Rande der Gesellschaft zu bleiben, in einer Nische gefangen.
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Heute mache ich das, was ich am liebsten tue: ich spiele und unterrichte Musik, arbeite als Dozentin für Musikimprovisation an der ZHdK, und ich konzentriere mich auf einige wenige mir wichtige musikalische Projekte.
Mein Entschluss, mich für ein paar Berufsjahre noch ganz in die Mitte der Gesellschaft zu manövrieren und als Primarlehrerin Kinder zu unterrichten, entspringt nicht zuletzt dem Bedürfnis, meine guten Geister weiterzugeben. Wach und sensibel zu kommunizieren, das ist meine Leidenschaft. Die gleichen Voraussetzungen, die es braucht um Musik zu spielen, gelten auch für den Unterricht mit Kindern. Der Zustand, den ich beim Improvisieren suche, diese wache Aufmerksamkeit, die Durchlässigkeit, dieser Fluss der Kommunikation ist auch hier das Entscheidende. Ich hoffe, dass ich damit ein Vorbild für die Kinder sein kann; dass sie den Mut haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, an sich selbst zu glauben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich sehe es als meine Aufgabe, nicht zuletzt auch meinen beiden Kindern, die jetzt mitten im Aufbruch stehen, Mut zu machen, ihren
eigenen Weg zu gehen.
Ich bin von Grund auf ein engagierter Mensch. Am liebsten arbeite ich an Projekten, die ins Grenzenlose führen können, wenn die Ziele fast unerreichbar bleiben und der Horizont weit offen bleibt. Das birgt Risiken: ich tanze oft am Rande der Erschöpfung. Insofern habe ich mit der wichtigen Aufgabe des Unterrichtens wieder einen Sprung ins Ungewisse gewagt. Ich möchte heute deshalb auch all meinen jetzigen Berufskolleginnen und Kollegen danken, die mich immer wieder unterstützen, wenn ich einen Rat brauche oder wenn ich unsicher bin im Neuland.
Und damit komme ich dahin zurück, wo ich angefangen habe:
dass ich durch diese heutige Preisverleihung in Gedanken auch zu meinen Wurzeln, zu all den vielen Menschen zurückgefunden habe, die mir wichtig waren und sind, dafür möchte ich Ihnen ganz speziell danken. Das Wort Gedanke trägt ja den Dank bereits in sich.
Dieser Preis ist eine ganz grosse Wertschätzung für meine Arbeit als Musikerin, aber auch für mich als Mensch, für meine Suche nach dem richtigen Weg.
Im Mai 2017, Co Streiff
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