Conrad Bauer


Zug um Zug



Von Ulrich Steinmetzger, 2007


Ein lauer Sommerabend zur blauen Stunde. Das Objekt5 in der Seebener Straße in Halle an der Saale ist Mitteldeutschlands vielleicht schönster Club für handverlesene Konzerte. Ein intimer Raum für gut hundert Leute, die zuverlässig kommen. Hier in der romantischen Gegend nahe der Burg Giebichenstein haben Überzeugungstäter eine Oase der Kultur eingerichtet zwischen historischen Gärten.
Einst bemerkte vor Ort der Dichter Jean Paul, dass die Töchter des Komponisten Johann Friedrich Reichardt, der hier sein gastfreies Haus hatte, sehr viel schöner singen als sie aussehen. Ludwig Tieck schwärmte gar von den „Gesangs-Göttinnen“. Auch Goethe war im Giebichensteiner Dichterparadies, wobei er mal so und mal so zu sprechen war auf den Hausherrn, was mit Politik zu tun hatte, wie oft, wenn Männer debattieren. Diese Gegend aber ist schön fast ohne Wenn und Aber. Und der Musikclub von heute verlängert die Geschichten, indem er ihnen neue hinzufügt. Es ist ein idealer Ort für eines der immer noch und immer wieder unvergleichlichen Solokonzerte des Berliner Posaunisten Conny Bauer. Ein bisschen auch, weil der Pfarrerssohn im Juli 1943 in Halle geboren wurde, vor allem aber, weil konkrete Räume für ihn oft von besonderer Bedeutung waren.

Ein Mann neben den Verhältnissen
Im problematischen Steinkoloss des Leipziger Völkerschlachtdenkmals ist er aufgetreten, auf dem Zeus-Altar des Berliner Pergamonmuseums, im imposanten Magdeburger Dom, im unterirdischen Trinkwasserspeicher des Wasserwerks Severin in Köln oder für seine jüngste CD „Hummelsummen“ in der Alten Kirche Boswill in der Schweiz. Immer wieder war das ein Sich-Aussetzen an schwer vorhersehbare Bedingungen, ein Arbeiten mit Hall, Akustik und lokalen Dimensionen, ein kompromissloser und einsamer Gang vor ein Publikum, das er mit seinem so gar nicht fürs Solospiel prädestinierten Instrument verblüfft und in seinen Bann zieht, zumeist in dieser Reihenfolge.
Vorm Konzert treffen wir uns kurz im idyllischen Biergarten am Hang hinter der Bühne. Conny Bauer ist ein überlegter Mann. Wir reden über Plattenbauwohnungen und das Üben darin, über das Aufwachsen in einem Pfarrershaushalt, in einem Stadtbezirk ganz in der Nähe, der tatsächlich „Frohe Zukunft“ heißt, über den Umzug in den Grenzstreifen nahe des thüringischen Sonneberg, den die Ärzte dem Vater der besseren Luft wegen dringend empfohlen hatten, und darüber wie absurd es war, dass der da schon an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden studierende Sohn zum Besuch bei den Eltern einen Passierschein brauchte. Wir reden über Heidegger und die Vergesslichkeit, darüber, dass Bauer mit der Rente, die er ab nächstem Jahr bekommt, sein erstes sicheres Einkommen haben wird, über Albert Mangelsdorff, mit dem er stereotyp immer wieder verglichen wird, was ihm sichtlich unangenehm ist. Wir reden über Peitz, das einmal das Mekka des freien Jazz in einem gar nicht freien Land gewesen ist, und darüber, wie das geht, dass Luft und Lust nicht knapp werden. Conny Bauer ist konzentriert so unmittelbar vor dem Konzert. Er ist ein Mann neben den Verhältnissen. Routine sieht anders aus.


Aus der Tiefe des Raums
Und auch das Konzert dann ist nicht wie andere Konzerte. Eine dramaturgisch klug gebaute Parforce-Tour, eine ausgeschrittene Lehrstunde vollgepackt mit stupender Technik, die immer wieder in Superlativen gelobt wurde, wenn von Conny Bauers Improvisationen die Rede ist: Zirkularatmung, Überblastechniken, Mehrstimmigkeit, resultierend aus zwei Stimmen, geblasen und gesungen, die in einer Weise Obertöne verstärken, dass es die Posaune wie vier- oder mehrstimmig klingen lässt, Geräuscherzeugung und -einbeziehung, die Arbeit mit elektronisch eingefangenen prägnanten Linien, die als Samples abgerufen werden, um mit ihnen in Dialog zu treten, perkussives Lippenflattern ... „Verblüffende Blastechniken, wie mehrstimmige Multiphonics, die Bauer für seine Klangexperimente nutzt, ohne dadurch auf unverkennbar narrative Linien zu verzichten“, konstatierte die Jury des SWR-Jazzpreises, den er 2004 verliehen bekam.
Genau darum ging es in diesem wie in allen Konzerten dieses tatsächlich unvergleichlichen Posaunisten: die exorbitante, in Jahrzehnten harter Arbeit erworbene Technik sich nicht verselbstständigen lassen, sie wie beiläufig nutzen können, um Geschichten zu erzählen, weder geschwätzig werden dabei noch sich in Blenderarabesken verlieren. Und im komplizierten Areal der freien Improvisation nicht hermetisch werden, neben dem Intellekt die Seele nicht vergessen und neben dem Ernst nicht den Humor.
Bauer kam aus der Tiefe des Raums und entwickelte stringent und plausibel einen Story-Fluss fern selbstdarstellerischer Eskapaden, legte rote Fäden aus, denen er folgte, indem er sie umspielte. So verunsichert und fasziniert er, bringt Gegensatzpaare wie laut und leise, Dynamik und Schwelgen, Filigranes und Flächiges in die Synthese. So entwickelt er konzise Geschichten, lässt Choräle aufwallen, Märsche losgehen, Hummeln summen, Alphörner rufen, Ideen aufmarschieren. So grollt, grummelt, quietscht, jubiliert und swingt er, ohne die Gedanken totzureiten. So hat er seinem als spröde verschrienen Instrument die Leichtigkeit eines Saxofons antrainiert. Diese monologische Musik bleibt im Rahmen, indem sie spontan improvisiert ist und gleichzeitig souverän kontrolliert, ein Risiko für den Spieler wie für die Zuhörer, die sich für eine gute Stunde aneinander ausliefern, eine Stunde als so dichter Ideenfluss, dass kein Freiraum ist für Beifall. Das muss man auf beiden Seiten der Bühne aushalten können, und zwar als erspielten und erlebten Genuss. Dann erst brandet der Beifall auf und holt Bauer für einen ausführlichen Zugabenblock zurück aus der Tiefe des Raums.


Woher–Wohin?
Für die Elemente diese imponierend aktionsreichen, gar nicht verkopften Ideenflüge hat John Corbett aus Chicago, Publizist, Programmmacher und Jazzbindeglied zwischen Amerika und Europa, die Vokabel „Conradismen“ erfunden, womit er „Dinge, die sonst niemand macht“, meint. Joachim-Ernst Berendt postulierte in seinem Standard-Jazzbuch: „Bauer spielt die wohl flüssigste Free Jazz-Posaune.“
Ein paar Wochen später, als der Sommer doch noch zurückkommt, sitzen wir in einem sonnigen Straßencafé in der Berliner Karl-Marx-Allee und reden über das Woher–Wohin eines solchen Musikerlebens. Von der Herkunft aus einem Staat, der alles nicht Stromlinienförmige beargwöhnte und in diversen Protokollen festhielt. Hier verstand sich der Jazz kaum als dezidiertes Dagegen. Als ambitioniertes Daneben aber entwickelte er ein Netzwerk quer durchs viel zu kleine Land, Biotope im Kargen, in dem es, gemessen an der Bevölkerungszahl, irgendwann die meisten Jazzclubs der Welt gegeben hat. Berlin, Peitz, Leipzig und Dresden, Eisenach, Weimar und die Burg Eldena bei Greifswald: überall Nischenkultur im Nischenland. Auftanken, Anregungen holen, unter sich sein und dabei an der Welt schnuppern.
Joachim Kühn war früh schon aus dem Osten gegangen, Peter Kowald oder Alexander von Schlippenbach aus dem Westen kamen später für diverse Konzerte. Im dubiosen Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung bedauerte man irgendwann, „die veränderte Taktik des Gegners ... nicht rechtzeitig erkannt“ zu haben. In den 70ern und 80ern wurde die Szene immer globaler. Die Stasi verzettelte sich im wahrsten Sinne des Wortes, derweil ostdeutsche Jazzer wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Günter Sommer und eben Conny Bauer die Welt bereisten und Kollegen von dort zu Konzerten mitbrachten. Das Publikum war dankbar wie nirgends und diverse Musiker auf Transitstrecken unterwegs, die längst nicht mehr nur über Peitz und Berlin führten, sondern eine größere Provinz überzogen mit Künstlern, die wie trojanische Pferde ankamen und weder für Repression noch für Integration anfällig waren.
Und heute? Was macht so einer wie Conny Bauer? Der schmunzelt: „Ich übe, was sonst, manchmal acht Stunden am Tag.“
Seine Wohnung im Plattenbau in Hohenschönhausen hat er vor allem deswegen ausgesucht, weil sie die türen- und fensterfreie Stellfläche (mindestens 2,80 x 2,80 Meter) für seine doppelt verglaste, schalldichte Kabine hatte, die einer seiner Hauptaufenthaltsorte ist. „Einfach spielen“, nennt er das, was er jeden Tag macht. Überhaupt ist das ein seltsamer und irgendwie bezeichnender Unterschied zwischen Ost und West. Solche Kabinen nämlich gab es damals nicht, weswegen er regelmäßig mit der Posaune zum Üben in den Wald fuhr – auch so eine Raum. Nie hat sein weit tragendes Instrument dort jemanden gestört, heute aber kann man die Uhr danach stellen, dass sich einer beschwert. Das ist schade, aber irgendwie passt dieser erzwungene Rückzug ins Schneckenhaus zur aktuellen Situation dieses Musikers. Mitte der neunziger Jahre erst und nicht unmittelbar mit dem Kollaps der DDR kamen die Veränderungen, als allenthalben die Kultursubventionen zurückgeschraubt wurden vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die allen Ernstes zu glauben scheint, sich über betriebswirtschaftliche Effizienz definieren zu können.


Schlüsselerlebnisse

Doch Conny Bauer ist alles andere als ein Nostalgiker. Er lebt genau dort, wo auch seine Musik entsteht: im Jetzt. „Routine gibt es auch im Free Jazz, und das mag ich nicht.“ Also ist seine gesamte musikalische Biografie auch eine der Trennungen. Das begann schon, als einst sein elf Jahre jüngerer Bruder Johannes, heute ebenfalls ein bemerkenswerter Posaunist der frei improvisierten Musik, aus der Schule kam und erzählte, im Musikunterricht sei ein Rocksong seines Bruders, der damals noch zur Gitarre sang, behandelt worden. Conny Bauer hatte tatsächlich so etwas wie einen Hit, doch ehe er in den windschnittigen Betrieb mit TV-Auftritten etc. integriert werden konnte, war er längst in einer anderen Spur.
Überhaupt war er immer bald weg, wenn seine jeweilige Band vor allem von Gewohnheiten bestimmt wurde. So war das Ende der Sechziger mit der „Modern Soul Band“ und Anfang der Siebziger mit „Exis“. Später dann war es auch nicht anders mit „Synopsis“ (die heute unter dem schön ironischen Namen „Zentralquartett“ gelegentlich wiedervereinigt sind), mit „Doppelmoppel“, dem groß angelegten „Jazzorchester der DDR“, das er 1987/88 leitete, oder dem für eine Jazzband immens erfolgreichen Quartett „FEZ“.
Conny Bauer ist ein Einzelner, der mit ruhiger Stimme am anderen Ende der Selbstdarstellerei Sätze sagt wie: „Ich war manchmal verbohrt“ oder „Komponieren ist nichts weiter, als hohe und tiefe Töne in der Zeit zu verteilen.“ Oder der von Japan erzählt, wohin er mit dem Tänzer Tadashi Endo 1985 fahren konnte. Eine komplett andere Welt war das, fremd und faszinierend, und doch sprachen die Musiker, mit denen er spielte, dieselbe Sprache: „Das sind Schlüsselerlebnisse.“ Genauso wie viel später die Begegnung mit dem fast 30 Jahre jüngeren Posaunisten Nils Wogram. „Der macht ganz andere Sachen als ich.“ Der funktionierende und anregende Dialog mit ihm war einer der schönsten Beweise dafür, wie die Geschichte dieser Musik immer weitergeht.
Überhaupt war Conny Bauer oft unterwegs und traf musikalisch auf eine Vielzahl prominenter Kollegen. Jeder andere würde an dieser Stelle zum imponierenden Namedropping ausholen, Conny Bauer nicht: „Tourneebegegnungen waren nicht unbedingt prägend.“ Ja, „irgendwo in Holland“ hatte er ein Duo mit John Zorn gespielt. Ja, Cecil Taylor wollte ihn haben für seine Band. Ja, Anthony Braxton hatte ihn hoch gelobt. Doch: „Workshops sind nicht so wichtig.“


„Ich lebe hoch – im Plattenbau“
Wichtig sind Konsequenz, Intensität und Identität der eigenen Arbeit. Und das Bewusstsein seiner selbst. Also ist es schön doppeldeutig, wenn er sich im einzigen Text einbeziehenden Stück seines Soloprogramms ironisch selbst zu feiern scheint – „Ich lebe hoch“ – um bald darauf die Zwei-Wort-Notbremse zu ziehen: „im Plattenbau“.
Von dort wachsen die Ideen und Pläne. Noch in diesem Jahr wird bei „Jazzwerkstatt“ eine CD erscheinen, die ganz in Familie bleibt, „Bauer 4“ mit den beiden Brüdern Johannes und Matthias (Bass) sowie dem sehr bemerkenswerten Pianisten Louis Rastig, der Conny Bauers Sohn ist. Bald darauf wird es dann beim gleichen Label endlich eine Solo-CD geben, auf der Bauer auch seine Loops einsetzt. Man darf gespannt sein auf das Ergebnis, denn „Electronics hat man auch, um sie zu überlisten“. Und auch das mit zwei Posaunen (Conny und Johannes Bauer) und zwei Gitarren (Joe Sachse und Uwe Kropinski) kurios besetzte Quartett „Doppelmoppel“ wird wiederbelebt. „Improvisierte Musik ist keine Musik für Instrumente, sondern eine für Personen“, sagt Bauer zur Erklärung dieser Konstellation, man kennt und schätzt sich schon lange. Kontinuität, auch im Sinne von Durchhaltevermögen, ist eine zentrale Komponente dieser Kunst. Und immer wieder Visionen, denn da sind noch ganz viele Orte und Räume, die sich Conny Bauer für seine aus Prinzip immer anderen Soloabenteuer quer zur Zeit vorstellen kann.


Equipment: Conny Bauer spielt eine Posaune „C.G.Conn LDT. – Artist Symphony USA“ aus den siebziger Jahren zusammen mit einem Bassposaunenmundstück „Vincent Bach 4G, Mega-Ton“. Seine Loops nimmt er mit einem Mikrofon „Neumann TLM 170“ auf und spielt sie über einen AD/DA Wandler „Motu Firewire 828“ in ein Mac Powerbook. Die Software „CB Live“ beinhaltet acht Sampler und wurde von Arno Kraehahn nach seinen Vorstellungen geschrieben. Bedient wird es mit einem Midi Foot Controller „FCB 1010“ von der Firma Behringer.
Zum Musizieren verstärkt er das Ganze noch. Das kann mit jeder Anlage gemacht werden, aber er benutzt meistens sein eigenes Material: einen Mackie Powermixer „808S“ (2 x 600 W) und zwei Lautsprecherboxen „EV 100“ auf Hochständern.


CD-Tipps: Conrad Bauer solo: Hummelsummen. Intakt Records 085
Conrad Bauer/Peter Kowald/Günter Sommer: Between Heaven And Earth. Intakt Records 079
Bauer Gumpert Petrowsky Sommer. Zentralquartett: 11 Songs – Aus teutschen Landen. Intakt Records 113
Website: www.connybauer.de

 

Aus: Sonic, 5.2007

 

Zu Connrad Bauers Intakt CDs

Intakt Records home: www.intaktrec.ch