Ulrich
Gumpert
Deutscher Jazzpreis – 5.11.2005
Laudatio
Von Bert Noglik
Mein sehr geehrten Damen und Herren!
Ihnen, die Sie Ulrich Gumpert kennen, muss man ihn nicht erklären.
Und Ihnen, die Sie ihn nicht kennen, kommt er sicher am nächsten
durch seine Musik, die wir ja heute auch noch hören werden. Was
also fällt mir ein, was man nicht in seiner Biografie nachlesen
könnte, aber dennoch mit dieser zusammenhängt.
Überschriften vielleicht. Die Titel der Stücke eines seiner
Duo-Alben mit Günter Sommer aus dem Jahre 1980 beispielsweise –
alle bei der Gema angemeldet: „Clap Canyon“ (nie gesehen),
„Hombre“ (nie begegnet), „Kalle Malle“ (nie
verstanden, „Sheihawa“ (nie getrunken), „McKennas
Gold“ (nie besessen). Wortspiele, Metaphern. Nun also, „Clap
Canyon“, was immer das heißen mag, sagen wir mal die Welt,
hat er ja dann bald gesehen als einer der Kulturexporteure und bescheiden
beharrlichen Devisenbringer der DDR. Kalle Malle hat er deswegen nicht
besser verstanden und McKennas Gold bis heute nie besessen. Zu seinen
Vorzügen, von denen ich hier nur einige lobredend erwähnen
kann, zählt ohne jeden Zweifel, dass er, der den Jazz in der „Ehemaligen“
mitgeprägt, dann doch auch dafür gesorgt hat, dass diese Musik
keine Episode geblieben ist, dass sie nicht zur Nostalgie verkommt,
sondern auch unter veränderten Vorzeichen eine kritisch-wache Haltung
offenbart.
Zwei Aspekte durchziehen sein Schaffen: Eigensinn und Kollektivgeist.
Ein Einzelgänger, der imstande ist, andere Nonkonformisten in eine
Gruppe, gar in eine größere Band zu integrieren. Wobei er
nie jene Einheitsstimmung auf kleinstem gemeinsamen Nenner zu akzeptieren
bereit ist, die so viele Produktionen in Belanglosigkeit abgleiten lässt,
in den Terror des Unverbindlichen. Nein, Gumperts Metier ist das wirkungsvoll
koordinierte, mitunter auch spontan inszenierte Mit- und Gegeneinander
der Charaktere. Reichlich Reibung also. Jede Menge Konfliktstoff und
zum Schluss dann doch oft und gern eine Hymne oder eine Persiflage auf
eine Hymne. Strahlend blauer Himmel in C-Dur mit Free-Jazz-Gewittern.
Ulrich Gumpert ist ein Klavierspieler, Komponist und Bandleader mit
feinem Sinn für Trugschlüsse und subtile Irritationen.
Eigensinn offenbart bereits eine Rückblende in die ganz frühen
Jahre seiner Studienzeit in Weimar. Nachts spielt er Dixielandjazz mit
den Architekturstudenten. Und die Lehrkräfte prophezeien ihm (original
überliefertes Zitat): „Tags über im Bett liegen und
sich bis zum Morgen mit zweifelhaften Existenzen herumtreiben. So werden
sie nicht Musiker. Dafür werden wir sorgen.“ Der Musikstudent
Gumpert bekommt in ML – Erklärung für die Fremd- und
Spätgeborenen: „Marxismus-Leninismus“, damals ein Hauptfach
wie Tonsatz oder Gehörbildung – , er bekommt in ML die Note
5 und wird folgerichtig exmatrikuliert. So jedenfalls wird er nicht
Musiker, vorerst also kein richtiger, kein staatlich geprüfter,
kein anständiger, kein klassischer.
Das Leben spült ihn nach Berlin. Klaus Lenz Band, SOK, Synopsis,
das spätere Zentralquartett – all das kann man mittlerweile
in Jazzlexika nachlesen. Konrad Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich
Gumpert und Günter Sommer – die Art, wie sich diese Viererbande
formiert, dann in unterschiedliche Richtungen verzweigt und schließlich
rekonstituiert hat – das muss mit den Schwingungen der Zeit und
mit Intuition zusammenhängen. Zentral wie Zentralkomitee oder Zentralagentur,
aber ohne diesen – wie hieß das doch gleich – demokratischen
Zentralismus, der von oben nach unten diktiert. Nein, diese vier trafen
und treffen sich auf einer Ebene, auf der keiner dem anderen etwas vormachen
kann, wo die Tricks versagen und die Ego-Trips irrelevant werden. Musik,
gewonnen aus der Behauptung gegenüber Bevormundung, dem Drang zur
Kommunikation mit der Internationale der freien Improvisatoren, der
Tuchfühlung mit einer Zuhörerschaft von gleichgestimmter,
unangepasster Befindlichkeit. Lebensgefühl, authentisch und mit
dem Impetus des Spontanen zum Ausdruck gebracht. Und noch immer, wie
ich es bereits vor der Zeitenwende empfunden habe: Es ist alles zu hören:
das Lamento und der Schrei, die Renitenz und der Triumph der Sinne.
In den siebziger Jahren galt Ulrich Gumpert hier, wo wir uns jetzt befinden,
als „Ost-Indianer“. Leute wie Jost Gebers hatten es möglich
gemacht, dass die „Ost-Indianer“ auch im Westen ihre Biwaks
aufschlagen konnten. Und durch den Blätterwald des West-Jazz-Journalismus
raunte ein merkwürdiger Neologismus, ein vielsilbiges Kompositum:
„Eisler-Weill-Folklore-Free-Jazz“. Hinter dem, was hier
begrifflich im Kurzschluss zum Klischee verkoppelt wurde, verbarg sich
in Wirklichkeit ein ernsthafter, oft auch schmerzhafter Prozess des
Strebens nach einer neuen jazzmusikalischen Identität. Free Jazz
bedeutete auch im Osten zunächst Tabula rasa, ein befreiendes Gefühl,
alles ist möglich. Doch das allein stiftete keinen musikalischen
Sinn, blieb ebenso belanglos wie die Kopie der übermächtigen
Vorbilder. „Nach dieser Befreiung“, sagte Ulrich Gumpert
damals, Anfang der siebziger Jahre in einem Gespräch, das ich auf
Orwo-Kassetten dokumentiert habe, „müssen natürlich
wieder konkrete Formen gefunden werden. Es genügt nicht, sich einer
Sache zu entledigen. Man muss auch etwas neues hervorbringen. Das ist
ein revolutionäres Prinzip.“
Bei der Suche nach einer Verankerung im eigenen Umfeld ist Ulrich Gumpert,
wie schon vor ihm vereinzelt etwa Albert Mangelsdorff oder Joachim Kühn,
auf deutsche Volkslieder gestoßen. Die Suite „Aus teutschen
Landen“, uraufgeführt 1972 in den Kammerspielen des Deutschen
Theaters, geriet zu einem jazzmusikalischen Manifest. Und wieder mag
ich die Titel zitieren: „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“,
„Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen“, „Der
Maie, der Maie“, „Es saß ein schneeweiß’
Vögelein“, „Kommt, ihr G’spielen“. Die
Beschäftigung mit deutschem Liedgut, mit all den Terzen und Quinten
des Thüringer Waldes, die er seit seiner Kindheit mit sich herumträgt
wie einen Rucksack, war für Ulrich Gumpert keine Episode. Aber:
er hat keinen Markenartikel daraus gemacht, er wollte ausbrechen aus
den Käfigen der Erwartungshaltungen.
Was geblieben ist in den wiederholten, veränderten, späteren
Formationen der Ulrich Gumpert Workshopband würde ich als Spielgesinnung
bezeichnen. Workshops im Sinne des Suchens nach einer Formel für
das Kollektiv, in Gestalt des Zusammenschmiedens von Komposition und
Improvisation, europäisch fundiert und doch vom Jazz inspiriert.
Gumpert steht in der europäischen Tradition und in der des Jazz,
auch dort, wo er sich als Grenzgänger zwischen den musikalischen
Genres, zwischen Höhenflug und Kneipenkunst, Manege und Konzertsaal
erweist. Er ist im Duo mit Steve Lacy auf Tournee gegangen, hat Stücke
aus dem Repertoire von Monk gespielt, die er zuvor und studiert und
gebüffelt hat. „Was dann nachher so schön fliegt,“
heißt es bei Peter Rühmkorf, „wie lange ist darauf
herumgebrütet worden.“
Als sich Ulrich Gumpert Anfang der achtziger Jahre dem Solospiel zuwandte,
entdeckte er etwas, das in den Klangexzessen des Free Jazz oft verschüttet
wurde: die Konzentration auf den einzelnen Ton, den Respekt vor dem
singulären Klang. Neben der kollektiven und energiegeladenen Hingabe
an den Spielprozess offenbarte der Solist Ulrich Gumpert einen nachdenklichen
Minimalismus, der die Cluster-Jünger das Fürchten lehrte.
Die Besinnung auf den Klang und auf das Instrument glich beinahe der
Angst, einen Ton anzuschlagen, und gestaltete diesen Akt der Berührung
dann zum Ereignis. Nicht von ungefähr entdeckte Ulrich Gumpert
in dieser Zeit die frühen, die vor der vorletzten Jahrhundertwende
entstandenen Klavierwerke von Erik Satie. Eine Musik des Zustands, nicht
der Entwicklung. Musik, um Satie zu zitieren, ohne Sauce und Sauerkraut.
Wahlverwandte, Außenseiter, Klavierspieler und Komponisten. Man
sollte sich vergegenwärtigen, in welchem Maße beide Berufungen,
die des klavierspielenden und die des komponierenden Musikers, ineinander
greifen und wie sich „Technik“ als Resultierende herausstellt.
Im Verzeichnis der Wahlverwandtschaften tauchen Gestalten wie Erik Satie
auf, Thelonious Monk und Charles Mingus. In Gumperts Bücherregal
steht die Gesamtausgabe von Friedrich Nietzsche neben der von Edgar
Wallace.
In der Arbeit für das Theater und für den Film entdeckte Ulrich
Gumpert immer neue Aspekte des musikalisch Gestischen. Musik, nicht
als dienende, nicht als begleitende Kunst, sondern als dialogisierende,
verändernde, herausfordernde Partnerschaft. Gemeinsam mit dem Dichter
Jochen Berg schuf Ulrich Gumpert „vier Kurzopern“ mit dem
Titel „Die Engel“. Im Textbuch heißt es: „wer
ist der tätige. wer ist der fehler. wer. wer ist der schutz. und
wem geschieht was. zu lange bewacht das leere paradies.“ Es ging
um nicht weniger als um Weltgeschichte, kurz vor dem Sturz der Mauer.
Zugleich um Fragen, die sich über das Datum des Tages erheben und
in die Zukunft hineinbohren, so wie eine Musik fortdauert, die sich
als work in progress entfaltet.
Immer wieder sind Ulrich Gumpert musikalische Vexierbilder aus Geschichte
und Gegenwart gelungen – in den Prozessen der Improvisation wie
in atmosphärischen Stimmungsbildern, etwa in Filmmusiken für
Tatort-Krimis von Matti Geschonneck mit Günter Lamprecht als Kommissar
Markowitz. Film noire am Ufer der Spree. „Berlin – beste
Lage“, das meint Berlin Mitte, da kann Gumpert nicht nur mitreden,
da ist er zu Hause. Nun auch mit einer Hammond B3, von der er früher
nur zu träumen wagte. Was denn, nun doch wieder Ami-Jazz? Ja, ja,
nein, nein. Keine Sorge, bei einem Tastenkünstler wie ihm klingt
alles nach Gumpert.
In einem Traum, nachts, auf dem Nachhauseweg, eingetragene Adresse,
Berlin, Am Zirkus, begegnet er Monsieur le Pauvre und Thelonious Monk.
Irgendjemand ruft ihm nach: „So werden sie nicht Musiker, so nicht,
dafür werden wir sorgen.“ Gumpert rennt schweißgebadet
im schnellen Vorlauf, prestissimo, über die Tastatur, hält
inne. Findet sich wieder unter Gleichgesinnten, in merkwürdigen
Höhlen, am Montmartre, im Five Spot, im Quasimodo. Bye Bye Blackbird.
Es saß ein schneeweiß’ Vögelein. Back To The
Roots. Aus teutschen Landen. Mc Kennas Gold (nie besessen). No Income
Blues. Die Ost-Indianer kommen. Kommt ihr G’spielen, Let’s
Play, Man. Gumpert bekommt einen Preis, den Preis, benannt nach Albert
Mangelsdorff, den für uns immer leuchtenden Namen. Ich freue mich.
Ich danke Ihnen.
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