INTAKT RECORDS – LABEL PORTRAIT

 

Schaffhauser Nachrichten, 17. Mai 2005


«Jazz ist Bildung in der Tradition der Aufklärung»


Morgen beginnt das 16. Schaffhauser Jazzfestival. Erstklassige Musikerinnen und Musiker der Schweizer Jazzszene - sie ist notabene eine der vielfältigsten in Europa - kommen in die Munotstadt. Patrik Landolt, der die Schaffhauser Jazzgespräche ins Leben rief, betreibt das Zürcher Plattenlabel Intakt Records. Wir trafen ihn in seinem Büro und sprachen über Jazz gestern, heute und morgen.


Interview: Alfred Wüger


Schaffhauser Nachrichten: Jazz wurde immer wieder totgesagt, was hat diese Musik für eine Zukunft?

Patrik Landolt: Eine grosse! Wenn man die immense Vielfalt der Schweizer Szene sieht, diese reiche musikalische Kultur, stimmt einen das optimistisch für die Zukunft.

Nun ist die Musik, die am Schaffhauser Jazzfestival gespielt wird, ja nicht gerade mehrheitsfähig.

Landolt: Schaffhausen bietet ein sehr breites Spektrum, und ich staune, wie viele Leute von überall her kommen. Eine tolle Leistung der Veranstalter! Das Schaffhauser Jazzfestival hat einen Fokus, nämlich die Schweizer Szene, und bietet einen Überblick.

Dennoch: Ausserhalb des Festivals sind Konzerte mit zeitgenössischem Jazz nicht gerade gut besucht. Spielen die Musiker an der Gesellschaft vorbei?

Landolt: Die moderne Malerei füllt auch nicht das Hallenstadion! Wenn nur noch alles Mainstream ist, führt das in die totale Verödung. Das ist heute auf dem Land in den USA der Fall, wo überall dieselbe Muppet-Show läuft. Nehmen Sie dagegen Arte, Radio DRS 2, aber auch die Literatur, das Theater: Es ist immer die Summe der Minderheiten, die ein spannendes Kulturleben ergibt. Die Summe von Minderheiten, das ist für mich eine gute Definition von Qualität in der Kunst.

Und was ist die Funktion dieser Minderheiten für die Gesellschaft?

Landolt: Das ist die Frage nach der Funktion von Kultur überhaupt. Dazu gehören das Abenteuer, das Entdecken, der Genuss, die Lebensfreude. Jazz ist aus der Gemeinschaft entstanden. Man kommt zusammen, das Live-Moment spielt eine grosse Rolle, man trifft sich, lernt Leute kennen, setzt sich auseinander mit verschiedenen Kulturformen. Das ist eine Art von Bildung, die in der Tradition der Aufklärung steht. Man will im Leben weiterkommen, hinterfragt Gegebenheiten, wird unabhängig. Es ist nicht das einzelne Musikstück, das dies bewirken muss, aber die Summe der Erfahrungen kann es. Dahinter steht eine Lebenshaltung. Die aufgeklärte Bürgerin, der aufgeklärte Bürger ist ein gebildeter Mensch, der sich mit Kultur und Natur auseinandersetzt. Im spielerischen Bewältigen der heutigen Herausforderungen nimmt die Kultur, nimmt folglich auch Jazz eine grosse Rolle ein.

Worin besteht der Mehrwert des Jazz, wenn mittels Elektronik die Musik ähnlich zu klingen beginnt wie die Alltagswelt?

Landolt: Wenn sie nur die Wirklichkeit abbildet, ist die Kunst keine gute Kunst. Kunst muss eine gewisse Transzendenz haben. Die Elektronik ist vielfach auch der Realität voraus, kreiert sie. Die Leute spielen mit den Tönen, die sie im Ohr haben. Es ist ein schwieriges Wechselspiel, bei dem es darum geht zu reflektieren, nicht nur zu spiegeln. Bei alledem darf die Lust am Hören, der Genuss nicht vergessen werden.

Der Genuss des Hörens von sperrigen Klängen kann umschlagen in Arbeit ...

Landolt:
Kunst bedarf der Auseinandersetzung. Beispiel Literatur: Wenn ich viel weiss über einen Autor und Materialienbände gelesen habe, kann ein neuer Roman plötzlich ein Riesengenuss sein, ich kann Querbezüge machen, erkenne Zitate, lache. Ein Konzert von Cecil Taylor hat für mich heute nichts Bedrohliches, sondern erzeugt ein solches Wohlgefühl, dass ich beim Hören fast abtauche. Zu seinem Willisau-Konzert etwa kann ich Staub saugen und abwaschen, es ist für mich wunderbare Alltagsmusik geworden.

Welche oder wessen Musik versetzt Ihnen noch Stromschläge?

Landolt: Es gibt manchmal derart aussergewöhnliche Momente in der Improvisation, dass einem der Atem stockt. Als ich die Aufnahmen vom Duokonzert in Ulrichsberg von Irène Schweizer und Pierre Favre hörte, war ich beglückt. Auch ein Konzert von Koch-Schütz-Studer kann elektrisierend wirken.

Keith Jarrett sagt, Musik komme so wenig von Musik wie Babys von Babys kommen. Und doch setzen sich 99,9 Prozent der Menschen nicht mit Jazz und seinem gesellschaftlichen Kontext auseinander.

Landolt: Die restlichen 0,1 Prozent sind aber weltweit Millionen! Auch wenn die Chefredaktoren immer klagen, das Feuilleton werde nicht gelesen, so sind es doch in unserem Land Zehntausende, die sich ein gutes und umfangreiches Feuilleton wünschen. Und die haben ebenfalls ein Recht darauf, bedient zu werden! Wir müssen für die Vielfalt der verschiedenen Ausdrucksformen kämpfen. Wenn ich in einer Galerie nicht viel vom Gezeigten verstehe, bin ich froh um gute Hintergrundartikel. Aus den oben erwähnten Minderheiten kommt oft Unerwartetes, Wertvolles für die Gesellschaft.

Sie würden die Avantgarde also nicht als elitär bezeichnen?

Landolt: Nein. Elitär ist ein Begriff aus der politischen Philosophie, dabei geht es immer um Macht. Ich würde eher sagen, minoritär. Es ist die Aufgabe der Medien, einen Leitfaden zu geben. Anderseits ist es für mich erstaunlich, dass es im Jazz immer wieder Entwicklungen gibt, die auf Anhieb verständlich sind.

Es gibt ja massenhaft Literaturnobelpreis-Träger, die kein Mensch mehr kennt ...

Landolt: Ganz sicher ist es so, dass das, was die Mehrheit hört, nicht Qualität sein muss, aber auch das Umgekehrte muss nicht zwangsläufig gelten.

Woher haben Sie Ihre Kenntnisse?

Landolt: Ich hatte als Bub Klavier- und Schlagzeugunterricht, das war aber gar nicht so entscheidend. Wichtiger war, dass der ältere Bruder Musiker war und ich in einem Umfeld aufgewachsen bin, wo man viel an Konzerte ging. Und dann bin ich, typisch für meine Generation, Autodidakt. Ich habe 30 Jahre journalistisch gearbeitet, Konzerte veranstaltet, in den Siebzigerjahren etwa mit Jan Garbarek, Egberto Gismonti, Dollar Brand, das war damals die Avantgarde. Über Jazz wurde immer gesprochen, ja das ist es: Ich befinde mich immer im Gespräch: mit Musikern, mit dem Umfeld. So habe ich sehr viel gelernt. Ausserdem bin ich gereist, habe in New York gelebt und ein dickes Buch über den Jazz, «Die lachenden Aussenseiter», geschrieben.

Nach welcher Philosophie leiten Sie Ihr Label Intakt Records?


Landolt: Wir folgen den Künstlerinnen und Künstlern, das heisst, wir pflegen die langfristige Zusammenarbeit. Der Nachteil ist, dass wenige Künstler bereits den Katalog füllen und aus Kapazitätsgründen nicht mehr drin liegt. Mit Irène Schweizer, die auch künstlerische Beraterin von Intakt ist, haben wir über 20 CDs gemacht, mit Lucas Niggli bis jetzt deren fünf. Auch mit dem Bassisten und Komponisten Barry Guy arbeiten wir seit 20 Jahren zusammen. Er ist eine der tragenden Säulen bei uns. Er ist ein wahnsinnig guter Musiker!

Für Hegel ist Musik die absolute Kunst schlechthin, gilt das auch für den Free Jazz?

Landolt: Nein. Ich würde auch den Begriff Free Jazz eingrenzen wollen, für eine bestimmte Zeit in den Sechzigerjahren.

Wie würden Sie denn sagen?

Landolt: Jazz, einfach Jazz. Und zwar im Bewusstsein, dass es ein umstrittener Begriff ist. Die Dixielander sagten, Bebop sei kein Jazz mehr, die Bebopper sagten, der Free Jazz sei kein Jazz mehr, die Free-Jazzer sagten, Fusion sei kein Jazz mehr usw. Die heutige Musik ist viel pluralistischer, eklektizistischer auch, verschiedene Techniken vermischen sich, klangliche Intensitäten, freie Phasen, harmonische Abläufe - das alles ist heute sehr vermischt. Die heutige Musik ist freier, als sie es zur Zeit des Free Jazz war. Der gegenwärtige Jazz hat, wie der Jazz immer schon, eine grosse Absorptionsfähigkeit.

Und heute gibt es zudem all diese Traditionen nebeneinander!

Landolt:Ja.

Vieles im heutigen Jazz klingt sehr, sehr ähnlich ...


Landolt
: Es haben sich halt auch Traditionen im schlechten Sinn entwickelt, Tendenzen wurden ritualisiert und haben sich verfestigt. Die guten Musiker jedoch sind unverwechselbar: Irène Schweizer, Pierre Favre, um nur zwei zu nennen, die erkennt man. In der Elektronik gab es dann eine Gegenbewegung: Man wollte die Persönlichkeit zurücknehmen. Es ist heute sehr schwierig, Prinzipien zu formulieren.

Warum ist es wichtig, dass man über Jazz redet?

Landolt: Es macht zunächst einmal Spass, unser Gespräch zeigt es ja auch (lacht). Dass nun schon zum zweiten Mal im Rahmen des Schaffhauser Jazzfestivals die Schaffhauser Jazzgespräche möglich sind, ist eine grosse Leistung von Schaffhausen. Denn das Schaffhauser Festival ist zum Treffpunkt geworden, wo die Schweizer Szene sich manifestiert. Man redet über den Stand der Entwicklung, man verschafft sich einen Überblick, redet über das, was einen interessiert, setzt sich mit der Begrifflichkeit auseinander. Ziel dieses Redens ist die Selbstvergewisserung. Wir wollen wissen, in welche Richtung die heutigen Entwicklungen im Jazz führen, wohin sich die Kulturpolitik entwickelt und wo wir heute stehen.






Journalist und Manager

* Patrik Landolt wurde 1956 im Toggenburg geboren und absolvierte die Klosterschule Immensee.
* Danach studierte er in Zürich Philosophie und Geschichte, war Mitbegründer der «Wochenzeitung» und 24 Jahre lang, bis Ende 2004, Kulturredaktor des Blattes. l Parallel dazu veranstaltete Landolt Jazzkonzerte und rief das Taktlos-Festival ins Leben.
* Der Griechenlandkenner - «Griechisch lernen ist noch schwerer als Jazz verstehen» - lebt mit seiner Partnerin in Zürich.
*Seit Anfang 2005 widmet er sich hauptberuflich dem Label Intakt Records (www.intaktrec.ch), das einen Jahresumsatz von gut 200 000 Franken erzielt.

 

1. Schaffhauser Jazzgespräche liegen in Buchform vor
Die letztes Jahr zum ersten Mal durchgeführten Schaffhauser Jazzgespräche liegen pünktlich zum 16. Schaffhauser Jazzfestival und damit auch zur zweiten Durchführung der Gespräche in Buchform auf. Auf rund 80 Seiten werden die geführten Auseinandersetzungen (u. a. mit Heinz Albicker, Hans-Jürg Fehr, Hedy Graber, Peter Rüedi) ausführlich dokumentiert und nach folgenden Schwerpunkten gegliedert: «Schaffhausen und Jazz», «Jazz heute», «Jazz und Kulturpolitik». Was der Kulturbeauftragte des Kantons Schaffhausen, Roland E. Hofer, unter dem Titel «Unverwechselbares Profil» im Geleitwort schreibt, mag als Motto über sämtlichen kulturellen Aktivitäten in Schaffhausen und Umgebung stehen: «Provinz kann kreativ sein.» Möge dies gelten, solange die Munotstadt Provinz ist - Moment mal! Ist sie das überhaupt noch, wenn sich toute la Suisse zum Jazz hier trifft? Die Vernissage des im Chronos Verlag herausgekommenen Bändchens findet statt am Donnerstag, 19. Mai, ca. 18.45 Uhr in der Kulturgaststätte Sommerlust.


Schaffhauser Jazzgespräche, Edition 01. Patrik Landolt und Urs Röllin (Hrsg.). Mit Beiträgen von Peter Rüedi. Bert Noglik, Lislot Frei, Martin Heller und anderen. Zürich, Chronos Verlag 2005. Ca. 80 Seiten. 25 Franken.
Zu beziehen über den Buchhandel, ISBN 3-0340-0733-7.

Oder durch den Mailorder von Intakt Records: intakt@intaktrec.ch

 

To Intakt