Der Jazz
hat stets gern in allen möglichen Gegenden gewildert. Spiritual,
Blues und Country, Schlager und Pop hat er ebenso für sich nutzbar
gemacht wie die lokalen volksmusikalischen Traditionen, wo immer er
auftauchte. In Deutschland ist es allerdings nur selten zu einer Symbiose
von Jazz und Liedtradition gekommen. Dem will das Zentralquartett nun
abhelfen. Seinen Namen verdankt es übrigens der ehemaligen DDR:
1984 änderten der Posaunist Conrad Bauer, der Pianist Ulrich Gumpert,
der Altsaxophonist, Klarinettist und Flötist Ernst-Ludwig Petrowsky
sowie der Schlagzeuger Günter Sommer den Namen ihrer Formation
«Synopsis» in «Zentralquartett», um sich über
Institutionen wie das Zentralkomitee lustig zu machen. Damals pflegten
die vier Musiker, die zu den Wegbereitern der improvisierten Musik im
Arbeiterund Bauernstaat gehörten, vor allem offene Formen. Nun
aber nehmen sie elf deutsche Volkslieder als Ausgangsmaterial. Diese
werden beileibe nicht nur «verjazzt» oder parodiert, sondern
mit Witz und Liebe auf vielerlei Weise umgestaltet. Vom elegischen «Es
fiel ein Reif» über eine Gospel-Groove-Version von «Dat
du min Leevsten büst» bis zum für Maultrommel und Posaune
gesetzten «König in Thule» reicht das Spektrum. Hier
wird der Faden der Minnesänger, Herders und Arnim/Brentaiios weder
musealisiert noch trivialisiert, sondern ideenreich fortgesponnen.
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, NZZ am Sonntag,
12.2.2006
Spiel mit Wurzeln
Das Zentralquartett spielt «Songs aus teutschen Landen»
Nick Liebmann,
Neue Zürcher Zeitung, 16. Februar 2006
Mit Ulrich Gumpert
in „teutschen Landen“
Allenthalben
im Jazz der Gegenwart sprudeln die Traditionen nach oben. Coltrane,
Parker, Monk und Mingus sind so präsent wie lange nicht mehr –
in historischen Ausgrabungen wie auch in Bearbeitungen, wobei die Reminiszenzen
von epigonalen Wiederbelebungsversuchen bis zu originären Aneignungen
im Sinne der Beschäftigung Alexander von Schlippenbachs mit Theloninous
Monk („Monk’s Casino“) und Aki Takases mit Fats Waller
(„Plays Fats Waller“) reichen. In einer solchen Situation
muss eine Platte wie „11 Songs – Aus teutschen Landen“
Verwunderung auslösen. Das „Zentralquartett“ greift
in die Truhen und Schatzkästlein des deutschen Liedgutes. Keine
Fusion aus Jazz und Folklore, sondern eine Anverwandlung des historisch
überlieferten Materials, eine Transformation in die kollektive
Klangsprache von Konrad Bauer (Posaune), Ulrich Gumpert (Piano), Ernst-Ludwig
Petrowsky (Altsaxophon, Flöten, Klarinetten) und Günter Sommer
(Schlagzeug, Percussion). Bemerkenswert, dass hier so ganz und gar nicht
getümelt wird. Es sind die älteren Schichten deutscher Volkslieder,
die in ihrem teils noch archaisch anmutenden Duktus glänzend geeignet
erscheinen, in die innovativ orientierten Spielprozesse integriert werden.
Ulrich Gumpert erweist sich als der Konzeptualist dieses Albums. Von
ihm stammen die meisten der Themenvorschläge und Arrangements.
Dabei handelt es sich nicht um eine spontane Ideenfindung, sondern um
die Fortsetzung Beschäftigung, die bereits Anfang der siebziger
Jahre begonnenen hat.
Zwei Aspekte durchziehen das Schaffen von Ulrich Gumpert: Eigensinn
und Kollektivgeist. Ein Einzelgänger, der imstande ist, andere
Nonkonformisten in eine Gruppe, gar in eine größere Band
zu integrieren. Gumperts Metier ist das wirkungsvoll koordinierte, mitunter
auch spontan inszenierte Mit- und Gegeneinander der Charaktere. Reichlich
Reibung also. Jede Menge Konfliktstoff und zum Schluss dann doch oft
und gern eine Hymne oder eine Persiflage auf eine Hymne. Strahlend blauer
Himmel in C-Dur mit Free-Jazz-Gewittern. Ulrich Gumpert ist ein Musiker
mit feinem Sinn für Trugschlüsse und subtile Irritationen.
Geboren und aufgewachsen im Thüringischen, begann er seine Studien
in Weimar. Ihm, der sich nachts mit Dixieland-Bands der dortigen Architekturstudenten
herumtrieb, prophezeiten die Lehrkräfte: „Tags über
im Bett liegen und nachts mit zweifelhaften Existenzen verkehren. So
werden sie nicht Musiker. Dafür werden wir sorgen.“ In ML
(zur Erklärung für die Spätgeborenen: Marxismus-Leninismus,
in entfremdet-kanonisierter Gestalt damals ein Hauptfach) bekam Ulrich
Gumpert die Note 5. Daraufhin folgte die Exmatrikulation. Das Leben
spülte ihn nach Berlin. Die Stationen: Klaus Lenz Band, SOK, Synopsis,
das spätere Zentralquartett – all das kann man mittlerweile
in Jazzlexika nachlesen. Wie sich die Viererbande formiert, dann in
unterschiedliche Richtungen verzweigt und schließlich in den achtziger
Jahren wieder vereint hat – das muss mit den Schwingungen der
Zeit und mit Intuition zusammenhängen. Sie trafen und treffen sich
auf einer Ebene, auf der keiner dem anderen etwas vormachen kann, wo
die Tricks versagen und die Ego-Trips irrelevant werden.
Ende der sechziger Jahre formierte Ulrich Gumpert ein eigenes Quartett
– elektrisch, rockorientiert, jazzinspiriert. Piano, E-Gitarre,
E-Bass, Schlagzeug. Durch vier Bläser – Trompete, Posaune
und zwei Saxophone – erweitert, firmierte das Unternehmen ab Anfang
der siebziger Jahre als SOK, in der Nähe zu Vorbildern wie „Chicago“
und BS&T auch „Blut-Schweiss-und-Tränen-Kapelle“
genannt. Heute kaum mehr vorstellbar, wie so etwas damals ablief: SOK
spielte u.a. zum sogenannten Jugendtanz in Klub- und Kulturhäusern.
Die markanten Themen lösten sich auf oder setzten sich fort in
Improvisationen. Und das langhaarige Publikum hatte Spaß daran,
denn es ging – zumindest musikalisch – wider die Norm. Schon
damals dabei, im Quartett und auch bei SOK: Gumperts langjähriger
Weggefährte Günter Sommer am Schlagzeug.
1972/73 erwies sich als eine Zeit musikalischen Umbruchs. Jazzrock mutierte
zunehmend in Free Jazz Das Gumpert Quartett nannte sich „Synopsis“.
In der „Großen Melodie“, der Nachtbar im alten Friedrichstadtpalast,
entstand eine Aufnahme, die Gumpert den Organisatoren des Warschauer
„Jazz Jamboree“ zukommen ließ. Aufgrund dieses Tonbandes
wurde die Band 1973 zu diesem internationalen Festival eingeladen. Doch
das Quartett hatte sich inzwischen aufgelöst und in neuer Besetzung
kam eine Band mit akustischem Instrumentarium und einer freien musikalischen
Phantasie, die schließlich auch die Polen beeindruckte und in
der Folgezeit für den Free Jazz à la DDR wie eine Initialzündung
wirkte.
Vieles passierte in diesem kurzen Zeitraum Anfang der siebziger Jahre.
Ulrich Gumpert komponierte Musik zur Bühnenfassung zu Ulrich Plenzdorfs
„Die neuen Leiden des junge W.“, ein Buch über einen
Außenseiter in der DDR, der sich im inneren Monolog zur „Szene“
bekennt: „Ich hatte für mindestens dreihundert Minuten Musik
in den Kassetten. Ich glaube, ich war echt begabt zum Tanzen. Edgar
Wibeau, der große Rhythmiker, gleich groß in Beat und Soul.
Und wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir
in den ‚Eisenbahner’ gegangen oder noch besser in die ‚Große
Melodie’, wo die M.-S.-Jungs spielten oder SOK oder Petrowsky,
Old Lenz, je nachdem, wer gerade dran war.“ Ulrich Gumpert spielte
die Musik live zu den Vorstellungen. Und er musizierte im Duo mit Günter
Sommer – ein Duo, das gelegentlich durch den Saxophonisten Manfred
Hering zum Trio erweitert wurde: improvisierte Interaktionsmusik.
In den siebziger Jahren galt Ulrich Gumpert im Westen als „Ost-Indianer“.
Durch den Blätterwald des West-Jazz-Journalismus raunte ein merkwürdiger
Neologismus, ein vielsilbiges Kompositum: „Eisler-Weill-Folklore-Free-Jazz“.
Hinter dem, was hier begrifflich im Kurzschluss zum Klischee verkoppelt
wurde, verbarg sich in Wirklichkeit ein ernsthafter, oft auch schmerzhafter
Prozess des Strebens nach einer neuen jazzmusikalischen Identität.
Free Jazz bedeutete auch im Osten zunächst Tabula rasa, ein befreiendes
Gefühl, alles ist möglich. Doch das allein stiftete keinen
musikalischen Sinn, blieb ebenso belanglos wie die Kopie der übermächtigen
Vorbilder. „Nach dieser Befreiung“, formulierte Ulrich Gumpert
damals, „müssen natürlich wieder konkrete Formen gefunden
werden. Es genügt nicht, sich einer Sache zu entledigen. Man muss
auch etwas neues hervorbringen. Das ist ein revolutionäres Prinzip.“
Bei der Suche nach einer Verankerung im eigenen Umfeld ist Ulrich Gumpert,
wie schon vor ihm vereinzelt etwa Albert Mangelsdorff oder Joachim Kühn,
auf deutsche Volkslieder gestoßen. Für die Jazz-Reihe in
den Kammerspielen des Deutschen Theaters formierte Ulrich Gumpert 1972
eine Werkstattband. „Aus teutschen Landen“ hieß das
Werk, das am 4. September 1972 uraufgeführt wurde. Der Untertitel
lautete: „Eine Suite nach Motiven deutsche Volkslieder von Ulrich
Gumpert“. Nach Bezugspunkten im eigenen Umfeld suchend, war Gumpert
in den Themensammlungen von Paul Schenk, damals Übungsmaterial
für den funktionellen Tonsatz, fündig geworden. Für das
13-köpfige Werksattorchester, die Ulrich Gumpert Workshop Band,
arrangierte er deutsche Volkslieder aus dem 16. bis 18./19. Jahrhundert:
Material als Sprungbrett für die freien Improvisationen der Solisten
und des Kollektiv. „Aus teutschen Landen“ geriet zu einem
jazzmusikalischen Manifest: „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“,
„Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen“, „Der
Maie, der Maie“, „Es saß ein schneeweiß’
Vögelein“, „Kommt, ihr G’spielen“. Die
Beschäftigung mit deutschem Liedgut, mit all den Terzen und Quinten
des Thüringer Waldes, die er seit seiner Kindheit mit sich herumträgt
wie einen Rucksack, war für Ulrich Gumpert keine Episode. Aber:
er hat keinen Markenartikel daraus gemacht, er wollte ausbrechen aus
den Käfigen der Erwartungshaltungen.
„Aus teutschen Landen“. Was damals, Anfang der siebziger
Jahre, vehement, vergleichsweise schwer und wuchtig klang, hat in der
Neuaufnahme des Verfahrens eine erstaunliche Leichtigkeit gewonnen.
Das liegt an der kleineren Besetzung: statt der großen Workshopband
agiert ein Quartett mit einem transparenten Klangbild. Es liegt aber
auch an der konsequenten Einkürzung der Stücke, an den stringenten
Arrangements und der gewachsenen Souveränität im Umgang mit
thematischem Material unterschiedlichster Art. Die mit dem „Zentralquartett“
eingespielten „11 Songs“, darunter vier neue „alte“
und zwei eigene, entwerfen eine facettenreiches Bild deutscher Traditionen:
von echter, tief empfundener Innerlichkeit über leichtfüßige
Tänze bis hin zu Landsknecht-Assoziationen. Das Unheimliche klingt
ebenso an wie das Tragische, das Befreiende, das Hoffungsvolle. Jeder
dieser Songs erzählt eine andere, ja oftmals mehrere Geschichten.
Die Erinnerung an die tieferen Schichten kollektiven Unterbewusstseins
verknüpft sich mit Spiel- und Hörerfahrungen im Umkreis des
Jazz. Mitunter entstehen Simultanebenen, in denen Thelonious Monk oder
Art Blakey, Albert Ayler oder Ornette Coleman an den Gestalten aus den
deutschen Volksliedern vorbeihuschen. Reibungen, nicht nur, aber auch,
was die Intonationen anbelangt.
Immer wieder sind Ulrich Gumpert musikalische Vexierbilder aus Geschichte
und Gegenwart gelungen – in den Prozessen der Improvisation wie
in atmosphärischen Stimmungsbildern, etwa in Filmmusiken für
Tatort-Krimis von Matti Geschonneck mit Günter Lamprecht als Kommissar
Markowitz. Film noire am Ufer der Spree. „Berlin – beste
Lage“, das meint Berlin Mitte, da kann Gumpert nicht nur mitreden,
da ist er zu Hause. Nun auch mit einer Hammond B3, von der er früher
nur zu träumen wagte. Was denn, nun doch wieder Ami-Jazz? Keine
Sorge, bei einem Tastenkünstler wie ihm klingt alles nach Gumpert.
Als sich der Pianist Anfang der achtziger Jahre dem Solospiel zuwandte,
entdeckte er etwas, das in den Klangexzessen des Free Jazz oft verschüttet
wurde: die Konzentration auf den einzelnen Ton, den Respekt vor dem
singulären Klang. Neben der kollektiven und energiegeladenen Hingabe
an den Spielprozess offenbarte der Solist Ulrich Gumpert einen nachdenklichen
Minimalismus, der die Cluster-Jünger das Fürchten lehrte.
Die Besinnung auf den Klang und auf das Instrument glich beinahe der
Angst, einen Ton anzuschlagen, und gestaltete diesen Akt der Berührung
dann zum Ereignis. Nicht von ungefähr stieß Ulrich Gumpert
in dieser Zeit die frühen, die vor der vorletzten Jahrhundertwende
entstandenen Klavierwerke von Erik Satie. Eine Musik des Zustands, nicht
der Entwicklung. Musik, um Satie zu zitieren, ohne Sauce und Sauerkraut.
Wahlverwandte, Außenseiter, Klavierspieler und Komponisten. Man
sollte sich vergegenwärtigen, in welchem Maße beide Berufungen,
die des klavierspielenden und die des komponierenden Musikers, ineinander
greifen und wie sich „Technik“ als Resultierende herausstellt.
In der Arbeit für das Theater und für den Film entdeckte Ulrich
Gumpert immer neue Aspekte des musikalisch Gestischen. Musik, nicht
als dienende, nicht als begleitende Kunst, sondern als dialogisierende,
verändernde, herausfordernde Partnerschaft. Gemeinsam mit dem Dichter
Jochen Berg schuf Ulrich Gumpert „vier Kurzopern“ mit dem
Titel „Die Engel“. Im Textbuch heißt es: „wer
ist der tätige. wer ist der fehler. wer. wer ist der schutz. und
wem geschieht was. zu lange bewacht das leere paradies.“ Es ging
um nicht weniger als um Weltgeschichte, kurz vor dem Sturz der Mauer.
Zugleich um Fragen, die sich über das Datum des Tages erheben und
in die Zukunft hineinbohren, so wie eine Musik fortdauert, die sich
als work in progress entfaltet. Im November 2005 bekam Ulrich Gumpert
in Berlin den Albert-Mangelsdorff-Preis verliehen.
In einem Traum, nachts, auf dem Nachhauseweg, eingetragene Adresse,
Berlin, Am Zirkus, begegnet er Monsieur le Pauvre und Thelonious Monk.
Irgendjemand ruft ihm nach: „So werden sie nicht Musiker, so nicht,
dafür werden wir sorgen.“ Gumpert streift schweißgebadet
im schnellen Vorlauf, prestissimo, über die Tastatur, hält
inne. Findet sich wieder unter Gleichgesinnten, in merkwürdigen
Höhlen, am Montmartre, im Five Spot, im Quasimodo. Bye Bye Blackbird.
Es saß ein schneeweiß’ Vögelein. Die Kollegen
sind schon da. Kommt, ihr G’spielen.
Bert Noglik, WOCHENZEITUNG, ZÜRICH, 22. Februar 2006
Für die Närrigkeit
Free-Altsaxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky zwitschert, röhrt und
quietscht. Quietschfidel ist die ganze Musik auf diesem Album. Conrad
Bauer, Posaune, Ulrich Gumpert, Klavier, Günter Sommer, Drums und
Petrowsky haben sich alte Volkslieder vorgeknöpft. Seit 1984 nennen
sie sich Zentralquartett, ein Bandname, der einstige DDR-Begriffe wie
Zentralkomitee ironisierte. «Der Maie, der Maie» heisst
ein Ringeltanz um 155o: eine pralle Posaune, ein närrisches Altsaxofon,
derweil Günter Sommer statt zu swingen den Tambourmajor gibt. Alsbald
aber explodiert die Musik kompromisslos ins Freie. Das Zentralquartett
führt unverschämt einfache Melodien in die wilde Ehe mit Freejazz-Eruptionen.
Aberwitzig.
Christoph Merki, Tages-Anzeiger, Zürich, 22.2.06
This is European sharp-end jazz with a strong free-improv undertow,
supplied by veteran improvisers from the 1960s first wave - the ornery
kind who are generally resistant to postmodern whistle-stop tours around
contemporary jazz and fusion styles. This set is something of a reunion
for Germany's free-jazz pioneers, bringing together trombonist Conrad
Bauer, pianist Ulrich Gumpert (the two were originally joined in Gumpert's
1970s Workshop Band), saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky and drummer
Günter Sommer.
But it isn't a free-for-all - quirkily the opposite, in fact. The four
revisit German Volkslieder, and turn the thumbscrews of free-jazz on
folk song and peasant dances going back 500 years. You get high-stepping
piano intros greeted with bursts of cacophony instead of elegant horn
rejoinders, Latin-jazz dances that turn into wild squalls, pan-pipe
sounds over sinister marching bass-drumming and squeaky silent-comedy
tunes.
A standout is Petrowsky's misty, mostly unaccompanied rumination, on
the rhapsodic traditional song Es Sass ein Schneeweiss Vogelein and
Gumpert's Monkish ballad intro to Kommt, Ihr G'spielen, which turns
into an exultant brass-band theme with a gospel-piano vamp under it.
Engagingly unlovely, and not just for the already converted.
John Fordham, The Guardian, London, Friday 3 March 2006
Two songs are original compositions
by pianist Ulrich Gumpert, but they fit stylistically with the nine
Volkslieder -- German folk songs, all attributed to Trad. The songs
provide the safe, bouncy melodic lines that the group frequently returns
to, but the group also kicks them out of shape, tears them apart, twists
them into strange shapes. Two horns, Conrad Bauer's trombone and Ernst-Ludwig
Petrowsky's reeds (alto sax, flutes, clarinet), lead the mayhem, while
Gumpert and drummer Günter Sommer get in their licks. A-
Tom
Hull, http://tomhull.com/
Intakt hat eine neue CD des
Zentralquartetts vorgelegt. Die ostdeutschen Jazzlegenden haben sich
für ein bewährtes Prinzip entschieden. Schon 1972 machte Ulrich
Gumpert Volkslieder „aus teutschen Landen“ zur Inspirationsquelle
eines Jazz, der nachhaltig identitätsbildend wirkte. Die Platte
eröffnet mit einem alten Motiv, doch die Musik klingt frisch, die
Herren scheinen bester Laune zu sein. Sie können auf Kommando heiße
Feuer entfachen und mystisch tiefe Beschwörungen vollführen,
die sich zu optimistischen Hymnen oder kecken Tanzgelagen verdichten.
Typisch ist der blockhafte Wechsel zwischen Themen und freien Improvisationen.
Klassisch ist die ganz eigene Kontrapunktik zwischen Saxophon und Posaune,
während Klavier und Schlagzeug ein verlässliches Gespann bilden.
Gekonnt wird so ein vierdimensionaler Raum aufgespannt, von Vornherein
oder durch reiche Erfahrung im Nu ausgewogenen arrangiert. Eine runde
Sache. Kein Experiment. (5 Sterne)
Oliver Schwerdt, Jazzzeitung, Deutschland, April 2006

Quel bonheur de retrouver
une fois de plus réunis ces quatre immenses musiciens qui, il
y a trente ans, lançaient leurs bouleversants appels de l'autre
côté du mur de Berlin ! Quelques lustres plus tard et quelques
barbes coupées, ils gardent l'enthousiasme des premiers jours
avec un peu de drame en moins, certainement, mais avec une fraîcheur,
une générosité, une éclatante joie de jouer
et un engagement réel. Sans distance ni second degré,
donc sans complaisance ni facilités, ils improvisent sur un répertoire
de Volkslieder dont certains plusieurs fois centenaires, exactement
comme les grands musiciens afro-américains sont capables de le
faire sur les vieux negro-spirituals. Le parallèle crève
les oreilles ! Le résultat ? Un formidable disque de jazz, sans
âge donc actuel, qui s'appuie sur de vraies et profondes racines.
Et quel swing! Inutile de décrire quoi que ce soit: il faut simplement
se plonger dans ce disque avec la conscience que Il ces musiques existent
encore" et qu'elles aident à vivre et à aimer. Si
aucun des nombreux festivals hexagonaux ne programme ce fabuleux quartette
dans les plus brefs délais, c'est à désespérer
de la scène française et du Il spectacle vivant"
(sic).
Jean Buzelin, Jazzman, Paris, Avril 2006
Rigobert
Dittmann, Bad Alchemy, 50/2006
Wie eine deftige Brettljause
mit viel Senf, Kren und Pfefferoni ist diese CD. Serviert wird sie von
vier äußerlich angegrauten, aber innerlich jungen Herren
aus der ehemaligen DDR, die sich diesmal (horribile dictu!) so genanntes
"deutsches Liedgut" vorgeknöpft haben. Wobei Conrad Bauer,
Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky und Günter Sommer teils
bis tief in die Renaissance zurückgreifen, um dort ihre Vorlagen
für ein saftiges, gleichzeitig archaisches wie zeitgenüssisches
Kaleidoskop früher deutscher Liedkunst zu finden. "Hier wiehern
Pferde, lachen Tanzweiber, schmachtet Liebe, trommeln Landsknechte,
apokalyptische Reiter künden von Pest, Krieg, Hunger und Tod"
– so drückt es Michael Wüstefeld in seinen Liner Notes
treffend aus. Zwischen Gospel-Seligkeit ("Dat du min Leevsten büst"),
derber Tanzboden-Komik ("Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen"),
martialischen Ostinati und ergreifenden Soli begibt man sich auf einen
furiosen Ritt durch den deutschen (Noten)Blätterwald. Anders ausgedrückt:
Das Zentralorgan des deutschen Jazz hat getagt und den nächsten
5-Jahres-Plan (Entschuldigung: die nächste 5-Punkte-Platte) vorgelegt.
schu, Concerto, Wien, April/Mai 2006
Attention to tradition is too often mistaken as adherence to conservative
orthodoxy. In jazz, the culpability often rests at the feet of the neo-conservative
crowd, a frequently demonized assembly whose stock rises and falls with
regularity, depending on the body of listeners polled.
The four players who form the Zentralquartett have little time for such
meta-musical squabbling. They’re too busy making music that stretches
the malleable and porous boundaries of improvised music to their own
highly listenable designs. Like Albert Ayler before them, they draw
on European folk forms as compositional grist for 11 Songs—specifically
the Volkslieder, a strain of medieval German songs which are particularly
susceptible to historical modification and crosspollination.
Pianist Ulrich Gumpert acts as defacto skipper of the ship, handling
arranging chores and even contributing a pair of originals that fit
right in. His temperament and approach bring to mind the playful insouciance
of Brueker and Mengelberg, but the band’s transitions aren’t
as jarring or jump-cut abrupt as those of their Dutch brethren. Each
of the pieces fit smoothly into a jigsaw whole. The symmetry lends the
whole project a welcome programmatic feel that's augmented by its economical
running time. Humor and variety exist in abundance with Gumpert’s
keys, frequently in charge of thematic thrust.
On the opening “Der alte Thüringer,” episodes of fracas-fraught
blowing alternate with returns to a jaunty, centering calypso motif.
“Es fiel ein Reif” develops from a somber trombone-piano
preface into a slowly swelling, tribal-sounding promenade for malleted
toms and flute. Petrowsky leads the second half of the piece with a
passionate, hard-bitten alto solo flanked by powerful piano and drums.
“Dat du min Leevsten büst” builds from a lengthy Bauer
introduction into a loping waltz-blues with more pyrotechnics from Petrowsky’s
effusive alto, this time coming on like late-period Cannonball Adderley.
Boisterous and frolicsome, “Tanz mir nicht mit meiner Jungfer
Käthen” presents a beer hall polka dappled with traces of
klezmer and undercut by hi-hat syncopations from Sommer that sound curiously
“Shaft”-like.
Sommer is the ideal drummer for these sorts of diversified surroundings.
His expertise with mallets and at fashioning all manner of muscular
interlocking rhythms makes the absence of a bass hardly noticeable.
His solo on the tail end of “Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus”
cycles through a colorful array of percussive permutations, even incorporating
an elastic tympani rhythm and chanting into the undulating blend of
martial beats.
On Gumpert’s “Conference at Conny’s” his pummeling
brushes provide the swinging trampoline foundation for another one of
Petrowsky’s glossolalic alto sorties. A similar dynamic drives
“Kommt, ihr G’spielen,” which opens into a rolling
gospel-meets-bop groove and closes with Petrowsky’s alto scouring
the freak register, amidst a rising din. The members of Zentralquartett
have managed to mine seemingly archaic sources and process them into
freshly-minted improv currency without sounding the least bit slavish
or imitative in the process.
Derek
Taylor, All About Jazz, USA, March 2006
Probably the most innovative
band to arise from the German Democratic Republic—that is, the
former East Germany—the members of Zentralquartett dealt with
unique circumstances before the Berlin Wall fell. Although operating
in a pseudo-Stalinist culture that promoted so-called Socialist Realism,
the band had government support as often as repression, since jazz was
as seen as both anti-racist and as a slap at nationalism with its Nazi-era
echoes.
Today the musicians—pianist Ulrich Gumpert, drummer Gunter “Baby”
Sommer, reedist Ernst-Ludwig Petrowsky, and trombonist Conrad Bauer—are
merely four more veteran German improvisers, with a bit of outsider
cred. Yet this exceptional, fast-moving CD confirms that these Easterners
still think—and play—differently than their more prosperous
West German associates.
Musicologist Mike Heffley has written that since East Germans were less
guilt-ridden about German history, a Teutonic strain—a variation
of East German blues—plus old Germanic hymns were used as a basis
for improvisation, a genre that was ignored and self-suppressed by West
Germans. Distinctively, 11 songs—Aus teutschen landen (Intakt)
is firmly in that inimitable tradition.
In fact, the volkslider that form the basis of these outstanding improvisations
have melodies that go as far back as the 15th century and were mostly
collected in the mid-19th century from folk sources as part of German
self-realization. On one level, consecrating an entire disc to these
tunes is the equivalent of a modern American jazz band releasing a CD
totally made up of Stephen Foster’s antebellum plantation songs.
Of course, knowing the sarcastic tendencies of Zentralquartett—note
its mocking, pseudo-official name—it’s very likely that
the members’ faces were anything but straight as they played these
hoary ditties that are aus teutschen landen or “from German lands”.
Considering that these tunes were initially adopted and adapted by such
self-consciously Germanic artists as Bach, Heine, Goethe, and Brahms
confirms their historic and kitsch potential. But Zentralquartett—like
Thelonious Monk, among others—is able to transmogrify the compositions
into impressive improv—pulling the stuffings out of them without
negating their underlying folkloric charm.
Much of this alchemy relates to the arrangements of Gumpert, who does
such a bang-up job, that he manages to slip two of his own originals
into the mix without the casual listener noticing. One, “Der alte
thüringer”, is the lead track, and its hocketing development
from simple folk ballad to cacophonous cartoon music mocks and celebrates
what follows it perfectly. Beginning with a simple chord progression,
the fanciful theme comes in and out of focus as the pianist sounds high-frequency
staccato arpeggios, the alto saxophonist assays contrapuntal split tones,
the trombonist puffs out plunger expansions, and the drummer highlights
rebounds, ruffs, and a final press roll.
Transformation also affects 16th century ditties like “Dat du
min leevsten büst” and “Der maie, der maie”.
The former takes on a drunken second line, marching band flavor courtesy
of a rubato expansion of the melody from Bauer with splayed low notes
and double-tonguing—plus gospel-like chords from the pianist and
contrapuntal effects from Petrowsky. As for the latter, a round from
1550, it features tribal drumming mixed with a martial beat, as the
vocalizing horns produce slithering textures that encompass broken octave
counterlines. The tune concludes with trilling reed sighs plus pussycat
yowling and growling from the trombonist.
Zentralquartett can make a peasant dance tune from 16th century sound
like early Dixieland with barnyard and jungle effects that are helped
immeasurably by Bauer’s smeary gutbucket approximations; or it
can take a folk melody originally arranged by Brahms and transform it
into an Ellington-styled ballad with Petrowsky’s smooth sax obbligatos
replicating Johnny Hodges’ mellow tone. One hoary volkslider undergoes
so much of a logical conversion that before Sommer uses it to demonstrate
his skills rattling wooden bones and drum stick nerve beats, it appears
to demonstrate how an oomph-pah-pah band would sound if its members
were conversant with Albert Ayler’s mile-wide multiphonics.
Gumpert gets his showcase on “Kommt, ihr G'spielen”, an
ancient Thuringian summer song, which he treats as if it is a close
cousin of “Round Midnight” and “Mood Indigo”.
Making references to the Monkish and Ducal canons, his sensitive, yet
bravura interpretation stretches the melody to bursting. Midway through,
he proceeds to rupture it with gospelish chording. Expanded with a vigorous,
almost rock n’ roll beat, his penetrating re-orchestration is
complemented by Sommer’s ruffs and flams and Petrowsky’s
buzz-saw saxophone split tones, leaving Bauer to double-tongue the original
melody.
Capitalism’s insistence on survival of the fittest has replaced
state support as the model for artists in the former East Germany, with
Gumpert and Petrowsky now mostly confined to playing locally, Sommer
to teaching gigs and European tours, and only Bauer an international
jazz festival fixture. Almost without argument, 11 songs—Aus teutschen
landen proves that Zentralquartett’s mixture of humor, bop, free
playing, and Teutonic roots is without parallel. But does the globalized
European Union—and its international music scene, jazz and improv
divisions—still have a place for old-time, irreverent players
like these? We can only hope so.
Ken Waxman, 5 June 2006, One Final Note
Entkrampfung
Das Zentralquartett auf der Suche nach einer eigenen deutschen Jazz-Identität
- ein Interview mit Günter “Baby” Sommer
von Christoph Wagner
Obwohl der Name Zentralquartett eine ironische Anspielung auf alles
Zentralistische im Arbeiter- und Bauernstaat war (etwa das übermächtige
Zentralkomitee), wurde das Ensemble von Conny Bauer (Posaune), Ulrich
Gumpert (Piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (Altsaxofon, Klarinette) und
Günter Sommer (Schlagwerk) zur zentralen Instanz des zeitgenössischen
Jazz in der DDR. 1984 als eine Art All Star Band gegründet, hatten
sich alle vier Musiker schon zuvor einen vorzüglichen Ruf erspielt
als die führenden Vertreter der freien Improvisation im sozialistischen
Deutschland. “Weltniveau” sozusagen. Schnell wurden sie
zu einem der wenigen Exportschlager, mit dem die DDR im Westen punkten
konnte, und waren deshalb häufig in Westdeutschland, aber auch
darüber hinaus, unterwegs. Die neuste Einspielung der vier Musiker
ist eine Art Spurensicherung ihrer fast 40-jährigen Suche nach
einer spezifisch deutschen Spielart des freien Jazz.
Christoph Wagner: Auf dem aktuellen Album mit dem Titel “11
Songs - Aus Teutschen Landen” beschäftigt ihr euch mit Volksmusik,
deutschen Volksliedern, was für ein Freejazzensemble doch recht
ungewöhnlich ist. Wie kam es dazu?
Günter Sommer: Wenn man unsere Geschichte zurückverfolgt,
bemerkt man, dass wir - also vor allem Ulrich Gumpert und ich, aber
auch Conny Bauer und Ernst-Ludwig Petrowsky - schon seit langem nach
eigenen Wurzeln gegraben haben. Das kam daher, dass wir in Verehrung
der amerikanischen Musiker wie Charles Mingus, Max Roach und Art Blakey,
die wir alle gehört haben, feststellen mußten, dass die einer
anderen Tradition angehörten als wir. Sie schöpften aus ihrer
afroamerikanischen Kultur. Wir haben anfangs deren Musik gespielt, aber
immer mit einem leichten Unbehagen, weil wir ja Früchte eines Baumes
geerntet haben, den wir selbst nicht gepfanzt und gegossen haben. Das
war der eine Auslöser!
Gleichzeitig gab es in den 60er Jahren diese Emanzipationsbewegung im
europäischen Jazz, ob in Deutschland, England oder Holland, wo
man sich von der amerikanischen Jazzmusik abzunabeln versuchte. Das
haben wir auf der anderen Seite der Mauer gleichermaßen gemacht.
Wir haben geguckt: Worauf können wir uns beziehen? Da gab es Hanns
Eisler und Kurt Weill, Komponisten, die irgendwo auf dem Boden eines
sozialistischen gesellschaftlichen Gedankenguts standen.
Doch wurden uns die von Carla Bley und Charlie Haden vor der Nase weggeschnappt.
Auch Willem Breuker mit seiner Band spielte Eisler- und Weill-Songs.
Nun wollten wir nicht den dritten oder vierten Aufguss hinterher schicken
und haben gegraben und gegraben. Da sind wir eigentlich nicht sehr tief
gekommen, aber in der Tiefe, wo wir fündig geworden sind, haben
wir preußische Märsche, sächsisch-thüringisches
Liedgut und vor allem Lieder aus dem Mittelalter gefunden. Das alles
hat in unsere freie Spielweise Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre
Eingang gefunden und den ganz speziellen Ruf des DDR-Jazz begründet.
Wir klangen damals anders als die anderen, weil wir die Terzen, Quinten
und Sexten der mittelalterlichen Musik nicht abgelehnt haben, wohingegen
unseren Kollegen im Westen jedes Metrum und jeder Wohlklang im harmonischen
oder melodischen Bereich verdächtig war. Wir hatten keine Berühungsängste
damit. Wir haben also schon 1970 Stücke, wie sie sich jetzt auf
der Platte finden, mit unserer Workshop Band eingespielt, die damals
von Ulrich Gumpert geleitet wurde. Diese Stücke bilden thematisch
einen roten Faden in der Historie des Zentralquartetts.
Christoph Wagner: Sich auf Volksmusik zu beziehen, war in Westdeutschland
eine heikle Angelegenheit, und ist es immer noch - politisch vermintes
Gelände. War es für Musiker aus der DDR leichter, sich dieser
Thematik anzunehmen?
Günter Sommer: In Westdeutschland haben die Leute ein sehr gebrochenes
Verhältnis zur Volksmusik. Im Osten war das anders. Da wurde zum
einen das klassische Kulturerbe (Bach, Beethoven etc.) unterstützt,
aber auch Volksmusik gefördert in ihrer authentischeren Spielart,
nicht in dieser verkommerzialisierten Form, wie sie heutzutage fortwährend
im Fernsehen etwa im “Musikantenstadl” zu sehen ist. Im
Unterschied zu Westdeutschland hatte die Volksmusik in der DDR nicht
diesen anrüchigen Schein von Nationalismus und rechter Gesinnung.
Christoph Wagner: Das Zentralquartett setzt sich musikalisch ernsthaft
mit diesem Material auseinander. Das hat nichts Parodistisches. Welchen
Zugang habt ihr gewählt?
Günter Sommer: Wir hielten nach geeigneten Themen Ausschau, die
nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich interessant waren. Die
mittelalterlichen Lieder handeln oft vom Tod. Trotz ihrer lustigen Texte
gibt es da eine Bedeutungsebene, die tiefer geht. Diese Tiefenschichten
versuchen wir musikalisch darzustellen. Wir spielen keine Persiflagen,
sondern bringen in die Verarbeitung der Stücke unsere individuelle
Sprache ein. Das heißt: Der Umgang mit dem Rhythmus ist anders,
der Umgang mit den Intervallen ist ein bißchen anders und jeder
von uns vier übernimmt eine bestimmte Funktion in dem jeweiligen
Stück. Ernst-Ludwig Petrowsky begibt sich oft auf eine Art Freiflug
über die Band hinweg, während wir uns enger ans vorgegebene
Material halten. Allerdings sind - im traditionellen Sinne - die Stücke
nicht arrangiert. Wir schauen uns die Noten an und überlegen, was
jeder für eine Rolle spielen könnte. Dann wird probiert. Indem
wir den jeweiligen Titel ein paar Mal durchspielen, zeigt sich, ob er
so belassen werden kann oder ob Änderungen nötig sind.
Christoph Wagner: Ihr gehört zur Fraktion der eher undogmatischen
Freejazzer, weil ihr nie Verbotstafeln aufgestellt habt, auf denen steht,
was gestattet ist und was nicht. Frei heisst bei euch: Alles ist erlaubt!
Aber auch wirklich alles: auch Melodien, Rhythmen und Harmonien.
Günter Sommer: Wir pflegen eine Freiheit, die auf dem Positiven
der Tradition beruht. Wir haben die Tradition nicht von vorneherein
abgelehnt und uns davon distanziert. Das heißt, jeder von uns
hat einen Fundus aus Traditionsbeständen angehäuft und den
schleppt er das ganze Leben mit sich herum. Ich hab Max Roach und Art
Blakey sehr intensiv studiert, obwohl ich einen anderen Stil spiele.
Aus dieser Schatzkiste schöpfen wir, wenn wir musizieren. Und wenn
man jetzt so eine Arbeitsebene gefunden hat wie die Volkslieder-Thematik,
da zuckt das dann einfach in der Tasche. Wenn ich bei einem der Volkslieder
meine, dass dazu ein Rhythmus à la Art Blakey passen würde,
spiele ich den ohne Hemmungen. Prinzipiell versuchen wir die Volkslieder
mit dem Schmutz des Jazz zu interpretieren, weil die so süßlich
klingen, wenn sich die Volksmusikanten daran machen.
Christoph Wagner: Hat eure Spielauffassung des unreglementierten
freien Jazz mit eurer Geschichte als ehemalige DDR-Bürger zu tun?
Günter Sommer: Das hat sicher etwas mit unserer Herkunft aus der
DDR zu tun und unserem Hunger nach Freiheit. Wir meinte ja damals, mit
unserer Instrumenten ein wenig am Stuhl der Partei zu sägen. Wir
hatten einfach ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, auch nach politischer
Freiheit. Dieses Bedürfnis äußerte sich im absolut freien
Umgang mit dem Material. Wir wollten auch deshalb nicht schon wieder
eine neue Doktrin aufstellen, was im Freejazz geht und was nicht. Wir
hatten keine Lust auf neue Verbote. Davon gab es in der DDR genug.
Christoph Wagner: Drückt sich im Aufgreifen der deutschen Thematik
so etwas wie eine Entkrampfung gegenüber einem deutschen Nationalbegriff
aus?
Günter Sommer: Wir spielen diese Volkslieder mit völliger
Selbstverständlichkeit, weil wir nun einmal deutsche Musiker sind.
Das ist eine Tatsache. Daran ist nicht zu rütteln! Wenn ich diesen
Weg nicht gefunden hätte, wäre ich vielleicht gescheitert.
Es gab ja diese Ideologie, die etwa in dem Buch “Freejazz - Black
Power” von Philippe Carles und Jean-Louis Comolli zum Ausdruck
kommt, dass Weiße eigentlich keinen Jazz spielen können.
Als ich das gelesen habe, dachte ich: “Scheiße, jetzt muß
du dir einen anderen Beruf suchen!” Glücklicherweise habe
ich die Kurve gekriegt mit der Erkenntnis: Ich bin der Nationalität
nach Deutscher und muss eine mir spezifische Art des Jazzspiels entwickeln.
Keine geborgte Identität, sondern meine eigene. Es ging darum,
das Nationalistische im Deutschen aufzuweichen, indem wir einen deutschen
Sound in der Jazzmusik zu etablieren versucht habe.
Christoph Wagner: Wie stellt sich heute, 17 Jahre nach dem Fall
der Mauer, eure Situation dar?
Günter Sommer: Das ist unterschiedlich. Wir Älteren, Etablierten
vom Zentralquartett haben das Glück gehabt, dass wir als Ost-Exoten
noch zu Zeiten der Mauer in den Westen reisen durften, was der chronischen
Not in der Devisenkasse der DDR zu verdanken war. Deshalb wurden wir
in den 80er Jahren zum DDR-Exportartikel. Wir machten uns einen Namen
im Westen. Als die Mauer dann fiel, hatten wir durch unsere Qualität
eine Akzeptanz gefunden, die uns das Überleben sicherte. Deshalb
hat uns das ökonomisch und künstlerisch wenig tangiert. Wogegen
natürlich junge unbekannte Musiker nach dem Fall der Mauer nicht
mehr vom Exotenbonus profitieren konnten und es deswegen ungleich schwerer
hatten.
Christoph Wagner: Zu DDR-Zeiten waren ja der Jazz, wie z.B. auch
die Kirchen, ein Hort der Opposition. Wie stellt sich heute die Situation
des zeitgenössischen Jazz in Ostdeutschland dar?
Günter Sommer: Wenn heute das Zentralquartett irgendwo in Ostdeutschland
spielt, kommt die alte Schar deren, die mit uns den Weg gegangen sind.
Das sind dann vor allem unsere Jahrgänge, die damals durch einen
Schulterschluss mit uns ihr Unbehagen an der staatlich verordnete Kulturpolitik
ausgedrückt haben. Und dann kommen aber auch neue, junge Leute,
die einfach neugierig sind und einmal etwas anderes hören wollen,
als die übliche Klangtapete, die uns täglich umgibt.
Es gab nach dem Fall der Mauer viele Jahre ein starkes Nachholbedürfnis.
Die Leute haben sich erst einmal die Dinge aus dem Westen reingezogen.
Leute, die nie richtig Rockkonzerte besuchen konnte, haben das nachgeholt.
Das hat sich inzwischen aber normalisiert.
Christoph Wagner: Gibt es junge Musiker im Osten, die eure spezifische
Art des Jazz weiterführen?
Günter Sommer: Eigentlich nicht. Es gibt kaum Musiker aus Ostdeutschland,
die darin eine Chance erkennen, ein eigenes Profil zu entwickeln. Natürlich
werden auch in der ehemaligen DDR die üblichen Formen des freien
Musizierens praktiziert, der internationale Freejazz-Stil, sogar auf
ausgezeichnete Weise. Allerdings fehlt diese spezielle geographische
Note, wo man sofort sagt: So klingen nur die! Vieles ist austauschbar,
was sehr schade ist.
Neuerscheinung:
Zentralquartett: 11 Songs - Aus Teutschen Landen. Intakt 113/2006 (www.intaktrec.ch)
Buch:
Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne - Die Jazzszene in der DDR.
Ch. Links Verlag 2005; 336 Seiten, zahlreiche Bilder + eine CD; Euro:
24,90.
Christoph Wagner, Jazzthetik, Deutschland, Mai 2006
Auf dem Cover ihres neuen Albums blicken die vier Herren verklärt
gen Himmel. Ob ihnen die traditionellen "11 Songs - Aus teutschen
Landen" zu Kopfe gestiegen sind, ist nicht auszumachen. Wie dem
auch sei: das Zentralquartett, 1973 als Synopsis gegründet und
im Jahr Orwells 1984 umbenannt, hat nichts von seiner improvisatorischen
Kraft eingebüßt, so traditionell es sich auch geben mag.
Es spielt, beruhigt das Booklet einletend, "als wären die
Noten von heute und nicht aus dem Mittelalter ". Einfache Melodien
werden mit einer geballten Ladung Free Jazz aufpoliert. Das historisch
überlieferte Material macht sich das Quartett zu eigen ohne in
schnuckelige Fusionen aus Jazz und Folklore zu verfallen. Pianist Ulrich
Gumpert, der auch schon mal einen Gospel intoniert, der sich bluesig
gibt, hat die Themen neu arrangiert wie bereits zu Beginn der 70er Jahre
mit einer "Suite nach Motiven deutscher Volkslieder", interpretiert
von seiner 13-köpfigen Workshop Band. Was damals noch etwas schwerfällig
und bedeutungsschwanger über die Bühne von "Jazz in der
Kammer" kam, ist heute leichtfüßig und sinnenfroh. Manche
Stücke sind kürzer, die Arrangements swingender, die Musiker
souveräner. Das Zentralquartett, eine der am längsten bestehenden
Combos des deutschen Jazz, agiert allzeit klar und umwerfend. Die Themen
geben eine hervorragende Basis ab für ideenreiche Soli der beiden
Bläser Connie Bauer und Ernst-Ludwig Petrowsky, von perkussiven
Momenten eines Baby Sommer ganz zu schweigen. Unbedingt hören!
Reiner Kobe, Jazzpodium, Juni 2006
Tout est jazzifiable même
les German Volkslieder. En ce sens le ZentralQuartett ne nous apprend
rien que l'on ne sache déjà. Mais là où
la formation aurait pu pécher par excès d'humour et de
dérobades (le format de ces chansons s'y prêtant), le quartet
teuton s'emploie à n'être que luimême, c'est-à-dire
l'une des formations les plus jouissives du moment. Bien sûr,
il n'est pas question d'éviter les décalages, les incorrections,
la lourdeur kolossale de ces onze folks songs. Ici, c'est une mélodie
lourdingue (Kiekbusch) qui très vite abandonnée laisse
place au saxophone-toupie d'Ernst-Ludwig Petrowsky (quel immense altiste
celui-là!); là, c'est un solo de trombone abondant qui
sert à introduire un blues emporté (Dat du min Leevsten
büst) ; ailleurs (Kommt, ihr Gspielen) c'est une valse funky qui
vient pimenter la sauce.
Vous l'aurez compris, rien n'est à jeter, tout est à écouter,
à réécouter.
ZentralQuartett ou la jeunesse retrouvée.
Luc Bouquet, Improjazz, France, Novembre, Dezembre 2006
We all know that the origins
of American jazz came largely out of the root of blues. We also know
that many cultures have contributed to this form. The one thing I, for
one, did not expect was an album of jazz that was based on 12th century
German Volkslieder’s art folk songs. These songs are about life
and have had a tendency to morph into various forms over the centuries;
polkas, marches and Klezmer come to mind. Now we have a quartet of improvisers
taking this form and generally having a party with it. Conrad Bauer,
Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky and Günter Sommer are masterful
in their arranging and playing skills. Sombre marches melt into African
grooves that crumble apart in aggressive free playing in a somehow thoughtful
and logical manner. This is not to say that the music is cold —
quite the opposite in fact. The thing that sets this CD apart from a
lot of music that crosses my path is the joy, humanity and sense of
humour that pervades. No eyes-rolling-back-in-the-head trance jams and
no dry academic opinions, just a folk/free jazz romp into the German
spirit — you know, the one that doesn’t make it into the
tired stereotype category.
By Nilan Perera, Exclaim, Canada, April 04, 2006
And what better way to demonstrate
that then to use folk tunes as the jumping-off points for the improvisations.
Given the avant firepower of this lineup of Conrad Bauer (trombone),
Ulrich Gumpert (piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (reeds), and Gunter Sommer
(drums), polkas, folk ballads, nursery songs and marches would seem
odd thematic material. But the quartet takes the themes to heart. The
nursery song like "Kiekbusch" alternates its peppy head with
anguished free playing first by Petrowsky on alto over piano and drums
and then Wierbos with the trio. This kind of radical juxtapositioning,
however, is not typical of the quartet's approach. Instead the members
tease out the themes. The sentimental waltz "Dat du m'in Leevsten
bust" inspires an ardent conversation between the trombone and
saxophone that takes a sudden bluesy turn at the end. The quartet isn't
adverse to introducing non-German elements as witnessed by the calypso
feel of the opener and the bluesy waltz section in the middle of "Kommt,
ihr G'spielen" that comes in on the heels of Gumpert'sopening nod
to Thelonious Monk. And Gumpert's "Conference at Connie's"
is a Bebop barnburner that bookends a ferocious duet by Sommer and Petrowsky.
But the promise of the session is most realized on the dirge "Es
fiel ein Reif" and the closer "Es war ein Konig in Thule"
where the quartet weaves the strains of folk songs into multi-colored
tapestries. "Es fiel" develops as a stately processional with
Sommer droning on with a deep tattoo played on a drum with a loose head.
"Es war..." Is ethereal swamp music with Sommer setting the
tone with croaking mouth harp and Bauer adding eerie multiphonics.
David Dupon, Cadence, October 2006
These German volkslieder themes
recall medieval dances and marches with the spritz of circus music,
but the razzle-dazzle is in the way the avant-jazz group tears them
up and tosses them around. Conrad Bauer, who mangles trombone as gruffly
as anyone since Albert Mangelsdorff, is the main perpetrator, with piano,
reeds, and drums getting their share of the action.
Tom Hull, Village Voice, New York, August 29th, 2006
Bruce
Carnevale, CODA, Canada, November/December 2006
Kehren wir noch einmal zum
Kern zurück - Musik "Aus teutschen Landen" zu exportfördern.
Zunächst allerdings müssen wir die erfrischenden Bearbeitungen
hochmittelalterlichen Minnegutes reimportieren. Aus der Schweiz. Das
Zentralquartett, einstiges Zentralorgan und gewitzter Haudrauf der fruchtbaren
DDR-Jazzszene, ist beim Züricher Intaktlabel untergekommen und
die produzieren fleißig extrem gute Scheiben mit den Ossis. Bereits
mit dem neuen (!) Ulrich Gumpert Song "Der alte Thüringer"
geht die tänzerisch-heitere Post ab, wie wir es bisher nur von
den Besten der italienischen Genuss-undLebensfreudeFraktion gewohnt
sind.
Aus einem wunderbaren Posaunensolo (Conny Bauer) erhebt sich in "Dat
du min Leevsten büst" ein stürmischer Gospel, der Lester
Bowie im Grab animieren kann einzusteigen und wie iin "Great Pretender"
seine Trompete frohlocken zu lassen. Hier schwelgen die alten Herren
in entfesselten Improvisationen, lachen Tanzweiber, wiehern Pferde und
maulen Landsknechte, während Pauken und Trommeln von Seuchen, Hunger
und Tod künden, nur um gleich drauf wieder in einen wilden Reigen
zu fallen. Fabelhaft!.
Michael Scheiner, LICHTUNG Kulturmagazin, Juli 2007
Bernd
Schwope, Hannoversche Allgemeine Zeitung, Deutschland, 14. Januar 2009
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