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RECORDS
CD-REVIEWS
ANTHONY BRAXTON.
WILLISAU SOLO. INTAKT CD 126
Die andere
Jazz-Referenz: Braxton ist, ähnlich Alex von Schlippenbach, als
Pionier wie als zeitgenössischer Performer gleichsam bedeutsam.
Es gibt nichts Repetetives, keine Zitate, es gibt nur Konzepte, deren
Improvisation, und das Hier und das Jetzt und das Weiter. Als er 1968
mit 'For Alto', dem ersten unbegleiteten Sax-Solo-Album des Jazz, debutierte,
öffnete das viele Ohren, energetisch-pulsierende Auftritte wie
in Moers Mitte der 70er wurden zur Legende. Sein Auftritt in Willisau
2003 vor mehr als 1.500 Leuten ist ein Musterbeispiel an Prägnanz,
Konzentration und Virtuosität, die nicht zum Selbstzweck taugt,
tatsächlich eine Art Bilanz von dem, was sich heute mit dem notorischen
Ausdrucksinstrument - und oft Überausdrucksinstrument - Sax noch
im erweiterten Sinne sagen lässt, ohne das Instrument zu negieren.
Freisinnige Abstraktionen, die mit einer alltagstauglichen freien Improvisation
über 'all the things you are' auch nicht vergessen, woher das kommt,
was heute weitergeht.
Alex Dutilh, Jazzman, Paris, November 2007
Allein schon die farbigen
kleinen graphischen Partituren von No. 328 c, a & d, No.344 b etc.
sprechen Bände über die krause und farbenprächtige Klangwelt
von ANTHONY BRAXTON. Wenn seine Ghost Trance- oder Diamond Curtain Music
ins Kosmische und Elementare aus- und eingreift, dann ist er mit seinem
Solo Willisau (Intakt 126) wieder die Quelle selbst all seiner trimetrischen
und multidimensionalen Raumzeitexplorationen. Bekanntlich fußen
Braxtons Monologe, von For Alto 1969 über die Saxophone Improvisation
Series F 1972 (mit Kompositionen, die er bezeichnender Weise Buckminster
Fuller und dem Schachmeister Bobby Fisher widmete), Solo (Milano) 1979,
(Pisa) 1982, (London) 1988, Wesleyan 1992, (Skopje) 1995, (NYC) 2002
bis zuletzt Solo Live at Gasthof Heidelberg Loppem 2005, auf 'Conceptual
Grafting‘ und 'Language Music‘, wobei er aus einem Dutzend
'Language Types‘ schöpft. Language meint dabei nicht den
Effekt, wenn Braxton bei No. 119 m Laute wie durch ein Megaphon presst,
sondern Trills, Multiphones, Short & Angular Attacks, Staccato Line
& Legato Formings etc. Am 1.9.2003 in Willisau beglückte Braxton
offene Ohren mit der exorbitanten Fülle und Rauheit seiner Artikulation.
Virtuos, herausfordernd und hin und wieder nicht unkomisch schnurzelt
und krächzt er am abenteuerlustigen Ende der Klangskala, streut
aber auch eine Version von 'All the Things You Are‘ darunter und
die melodiös auf und ab perlende No. 106 p. Braxton heißt
eben 'Nichts nicht‘. Warum haben wohl die Steinzeitjäger
& -angler ihr Latein erfunden? Um mit denen konkurrieren zu können,
die zuhause blieben und Saxophon übten. Um mit diesem Irrwitz und
Staunen machenden Unterhaltungswert des überkandidelten Kasperle-Marschs
No. 328 d mitzuhalten, müssen die Fische, die einem knapp entwischt
sind, schon eine Elle länger werden und die Warzenschweine tückischer.
Nearly forty years after
the release of his groundbreaking For Alto (Delmark, 1968), Anthony
Braxton returns with yet another solo sax album, this time a concert
recording, Solo Willisau. Feeding off of the 1,500 grateful attendees,
Braxton does again what he has done for so long, breaking down musical
walls with his distinguished meshing of intellect and soul.
Regardless of how grandiose
or fantastical Anthony Braxton’s compositional goals, his periodic
solo recitals remain sources of reliable solace - dispatches where that
fervent and often gloriously impractical imagination boils down to the
comforting kernel of a man and his horn(s). Braxton’s recorded
work in the format commonly comes in the form of concert dates rather
than studio sessions. Following the blueprint of his first double album
release on Delmark, alto remains his principal implement in such settings.
Enregistré en 2003
au Festival de jazz de Willisau, Solo Willisau plaide en faveur d’un
curieux argument, qui voudrait que les concerts donnés en solo
par Anthony Braxton diffèrent tous malgré leurs ressemblances.
SL, Sunday Times, London, December 16, 2007
Jason Bivins, Cadance Magazine, Jan-March 2008.©Cadence Magazine 2008
Peter De Backer, Jazzmozaiek, Belgium, Dezember 2007
Edwin Pouncey. Jazzwise, London, February 2008
Luc
Bouquet, Improjazz 142, Février 2008 Stuart Broomer, Signal to Noise, USA/Canada, Spring 2008
Jazzkolumne Braxton bezeichnet sich als glücklich. Weil er Vorbilder hatte, von denen er viel lernen konnte: John Coltrane, Stockhausen, Jannis Xenakis und Sun Ra, Musiker und Komponisten, die ihn ermutigt haben, sein Werk zu entwickeln und hart zu arbeiten. In den vergangenen 30 Jahren hat Braxton ein eigenes musikalisches System entwickelt, als Avantgarde hat er sich dabei jedoch nicht gedacht. Vorwärts und rückwärts im selben Augenblick ist sein Motto, die eigene künstlerische Position stärken, das Streben nach Ehrlichkeit. Er begreift sich als ein professioneller Student der Musik, der sein Leben lang lernt. Sein musikalisches System habe das Stadium einer tri-centric-Gedankeneinheit erreicht, berichtet Braxton im Gespräch. Damit meint er ein komplexes Netz aus Erfahrungen, Ideen und Transposition. Zahlenfolgen, Syntax und Vokabeln, holografische Elemente, Bewegung, Strategien und Raum sind in das musikalische Werk integriert, gleichzeitig hat er seine Vorbilder genau studiert. Stockhausen habe noch im hohen Alter sein Werk weiterentwickelt - Braxtons Helden haben sich niemals ausgeruht und sind keine Entertainer geworden. Ihre Musik korrespondiert mit den Herausforderungen einer in grundlegender Veränderung begriffenen Welt. In den USA sei er als Künstler eigentlich gar nicht existent, resümiert Braxton. Er operiere dort unterhalb des Undergrounds, aktuelle Braxton CDs sind bei den europäischen Labels www.intaktrec.ch und www.leorecords.com erhältlich. Die Außenpolitik seines Landes nennt er eine Katastrophe, Präsident Bush sollte wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt werden. Er schätzt, dass es mindestens eine Generation braucht, bis sich das Land von dieser Regierung erholt haben wird. Doch Braxton weiß auch, dass jede problematische Zeit künstlerisch gesehen eine große Herausforderung darstellt. Die Vietnamkriegsära war eine Zeit großer musikalischer Veränderungen, also hofft er, dass die kommende Generation neue kreative Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt und neue Wege erkundet, die zu unerwarteten Erfahrungen und neuen künstlerischen Modellen führen. Musiker und Komponisten seien glückliche Menschen, weil ihre Arbeit immer gebraucht wird, sagt Braxton. Er spricht von einer Verantwortung seriöser Künstler, gerade auch in schwierigen Zeiten ihr Werk voranzutreiben. Musik, die außerhalb des Marktes existiert, sei lebenswichtig für eine demokratische Gesellschaft. Doch Künstler, die außerhalb des Marktes operieren, haben es auch besonders schwer. Braxton sagt seinen Studenten deshalb, dass jede Zeit eine Chance bietet, auch wenn Medien und Markt die Künstler ignorieren. Diese Verantwortung begreift er als politisch. Braxton wuchs in Chicago auf und hat dort mit der Association for the Advancement of Creative Musicians gearbeitet. Die Erfahrungen, die ihm in diesem schwarzen Künstlernetzwerkes vermittelt wurden, waren für ihn unschätzbar wichtig. Doch die AACM ist keine Schule, kein musikalischer Stil, sie fördert Vielfalt und Experimente. Die Stärke und Bedeutung der AACM sei gerade, dass sie keine ethnozentrischen Vorlieben hat. Braxton definiert seine Musik also nicht über die AACM, seine Erfahrung sei AACM, Bach, Schönberg, Stockhausen, Charlie Parker und Duke Ellington, sagt er. Seit 1990 ist Braxton Musikprofessor an der Wesleyan University in Connecticut, vorher war er fünf Jahre am renommierten Millis College tätig, in diesem Frühjahr gibt er ein Seminar über die Musik von Sun Ra und Stockhausen. Sein Werk sei wie sein Leben, sagt Braxton: zwischen der schwarzen und weißen Community, zwischen Jazz und Klassik, zwischen linker und rechter Politik. Er glaubt an globale Realität, die Menschen zusammenbringt, nicht entzweit, sie sei transidiomatisch und könne unterschiedliche Methoden und Ästhetiken vertragen. Gleichzeitig schaue er sich nach einem Modell um, dass Hoffnung für die Zukunft impliziere. Die afroamerikanische Community
wähnt der 1945 geborene Künstler heute in einer sehr kritischen
Lage. Wenn sie es nicht schaffe, sich zu öffnen, werde sie stagnieren.
Als die Musiker aus New Orleans in den Achtzigern in der New Yorker
Jazzszene an die Macht gekommen seien, hätten sie jede opponierende
Perspektive zerstört, lamentiert Braxton. Der Gedanke, dass er
und seine Musik nicht schwarz genug seien, das Konstrukt authentischer
Neger gegen nichtauthentischer Neger, fuße auf Gedankenwelten
aus dem 19. Jahrhundert, als man darüber nachdachte, wie sich ein
echter Neger korrekt verhalten solle. Er habe mit dieser Afrozentrik
nie übereingestimmt. Braxton beansprucht das Recht, alles zu erforschen
und zu studieren, was er möchte. Grenzen akzeptiert er nicht.
Klaus Nüchtern, Falter, Österreich, Nr. 38 / 2007
Over the course of a remarkable
40+-year career, Anthony Braxton has remained wildly prolific (Wikipedia
cites more than 100 titles as a leader in his discography) and has moved
farther and farther away from any conventional understanding of the
sort of music a jazz musician plays. Recently Braxton's creative improvisations
and original compositions have been removed from melody and rhythm,
better titled by abstract symbology rather than nouns and verbs.
Frank von Niederhäusern, kulturtipp 11/15, Mai/Juni 2015, Schweiz |