6. März 2011, NZZ am Sonntag

«Raus aus der Nische!»

Schlagzeuger, Komponist und Bandleader Lucas Niggli zählt zu den innovativsten Musikern der Jazzszene

Lucas Nigglis Band Big Zoom live im Zürcher Jazzklub Moods. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

Von Manfred Papst

Wer Lucas Niggli jemals auf der Bühne gesehen hat, der weiss: Der zierliche Mann mit dem Rossschwanz ist ein Energiebündel. Ein Tausendsassa. Ein Springteufel. Einer, der seine Mitmusiker mit unbändigem Drive vor sich her jagt. Umgekehrt aber auch einer, der jede Nuance im Zusammenspiel bemerkt und blitzschnell reagiert. Als Instrumentalist wie als Zuhörer ist Niggli ein Virtuose. Mit Bands wie Zoom und Steamboat Switzerland hat er stilbildend gewirkt. Er ist ein mutiger Grenzgänger zwischen Jazz, Rock und moderner E-Musik. Und ein breit gebildeter dazu: Charles Mingus ist ihm so vertraut wie Karlheinz Stockhausen.

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Auch im Gespräch wirkt der Musiker, der mit seiner Frau und den drei Kindern im Zürcher Oberland lebt, in jedem Augenblick witzig, wach und quirlig. Bei ihm ist immer etwas los. Gerade hat er wieder zwei neue CD herausgebracht. Und an den Jazztagen in Bludenz wird er als Artist in Residence vom 11. bis 13. März nicht weniger als fünf seiner Formationen vorstellen. Nervös ist er deshalb nicht. «Mich erfüllt vor Konzerten jeweils eine kreative Unruhe», sagt er. «Angst, gar Panik sind mir jedoch fremd.»

Afrikanische Wurzeln

Woher kommt diese Sicherheit? Vielleicht aus seiner frühen Kindheit. Lucas Niggli wurde 1968 in Kamerun geboren. Seine Eltern arbeiteten dort in der Entwicklungshilfe. Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte er in Afrika, und er erinnert sich an eine Welt aus Rhythmus, Tanz, Gesang. «Ich weiss, das ist ein Klischee», sagt er lachend, «aber manche Klischees treffen eben auch zu. Es gibt ein Foto von mir als zweijährigem Kerlchen. Da dresche ich begeistert auf eine Trommel ein.»

Seine eigentliche und dauerhafte Liebe zum Schlagzeug entdeckte Lucas Niggli indes mit zehn Jahren, als die Familie wieder in die Schweiz zurückgekehrt war. Damals lebte sie in Oetwil am See. Ein Bekannter hatte keinen Platz für sein Instrument und stellte es im Luftschutzkeller der Nigglis ab. Lucas erinnert sich genau: «Das Instrument war ein scheussliches Rock-Set in Gold und Beige. Viel zu gross für einen Knirps wie mich. Trotzdem war ich selig.» Später bekam er, verteilt über zwei Geburtstage und zwei Weihnachten, ein eigenes Schlagzeug.

Nigglis musikalische Ausbildung war indes zunächst nicht auf die Perkussion fokussiert. Während der Kantonsschulzeit erhielt er Unterricht in Klavier und Sologesang. Doch daneben trommelte er unermüdlich. «Schon als Zwölfjähriger hatte ich eine Band», erinnert er sich. «Da spielten wir Songs von Polo Hofer und den Beatles, aber bald auch schon Tunes von Billy Cobham. Und wir schrieben mit unseren zehn Wörtern Englisch eigene Songs!»

An die Kantonsschule Wetzikon hat Lucas Niggli die besten Erinnerungen. «Sie förderte die Musik in allen Sparten. Ich tat in der Big Band wie im Orchester mit. Ich war im Chor und im Avantgarde-Workshop. Dort begegnete ich der zeitgenössischen Musik. Damals kamen Grössen wie John Cage nach Wetzikon! Ich habe ein Stück von ihm gespielt, er hat mir die Partitur signiert. Unvergesslich!»

In diese Zeit fällt auch die Gründung der Band Kieloor Entartet, mit der Niggli alsbald Furore machte. Sie war eine so wilde wie bunte Truppe in der Tradition von Frank Zappa und Captain Beefheart, die der Schweizer Musikszene bis in die 1990er Jahre wesentliche Impulse verlieh.

Mit seiner persönlichen Entwicklung hatte es Lucas Niggli zunächst nicht so einfach. Gerade seine privilegierte Situation, die Vielfalt seiner Optionen wurde ihm zum Problem. «Meine Eltern waren typische 68er», sagt er. «Sie hatten für alles Verständnis. Sie förderten mich in jeder Beziehung. Schon an meinem elften Geburtstag hatte mein Vater mich an ein Solokonzert von Pierre Favre mitgenommen. Das war ein Erweckungserlebnis. Aber ich spürte keinerlei Druck. Als ich kurz nach der Matur fand, dass ich am Zürcher Konservatorium und an der Jazzschule St. Gallen am falschen Ort war, wurde das nachsichtig akzeptiert.»

Niggli zählt sich zur «Anything goes»-Generation. Und er tut überzeugend dar, dass auch zu viel Freiheit, zu viel Toleranz ein Problem sein können. «Kunst muss sich an Widerständen reiben», sagt er. «Sonst bleibt sie in einem Vakuum stecken.» Er musste deshalb seinen Weg in die Wirklichkeit selber finden. Nahm einerseits Einzelunterricht bei Pierre Favre, dem Poeten in der Welt der Schlagzeuger, lernte anderseits am Konservatorium Bern unter strenger Ägide die instrumentale Technik. Daneben spielte er pausenlos, schrieb Musik, erprobte sein Talent in immer neuen Kontexten.

«Direkt nach der Matur», erinnert er sich, «lebte ich in einer Wohngemeinschaft von Musikern in Uster. Wir probten und diskutierten nächtelang, gingen an Konzerte, traten auf. Im Vergleich mit diesem Leben kam mir der Uni-Alltag blass und fad vor. Deshalb konnte ich mich nie an ihn gewöhnen.»

Komplexität und Drive

Sein Temperament und seine spielerische Intelligenz hat Lucas Niggli inzwischen in zahlreiche Formationen eingebracht. Sein Anliegen ist es, den Jazz aus der Nische, in die er sich in den letzten Jahrzehnten hineinmanövriert hat, zu befreien. «Der meditative, zerebrale Rollkragenpullover-und-Kopfnicker-Jazz ist mir ein Greuel», sagt er. «Ich bin selbstverständlich offen für komplexe Formen, ich pflege sie ja selbst. Aber Jazz lebt immer auch von anarchischer Energie, von der Gunst des Augenblicks, von starken Gefühlen, von der Entgrenzung. Er muss den Geist und alle Sinne ansprechen, volles Risiko fahren, Abstürze in Kauf nehmen. Und er muss versuchen, einen vom Hocker zu reissen.»

Propagiert Niggli mit diesem Statement eine Rückkehr zum Free Jazz? Nein! «Ich habe grosse Sympathien für die freie Szene», sagt er, «und nehme als Musiker und Zuhörer gern an ihr teil. Frei improvisierte Musik auf Tonträger zu bannen, ist aber ein heikles Unterfangen – meist verliert sie auf CD viel von der Magie und Kraft des Momentes, und dann wird es langweilig.»

Langeweile aber ist das Letzte, was Niggli anstrebt. Er sucht seit je den «Sound of Surprise», die Verschmelzung von Komposition und Improvisation. Das ist ihm oft gelungen. Seine Musik belebt und berauscht. Und sie öffnet immer wieder neue Räume.

Niggli live und auf CD

Vom 11. bis zum 13. März präsentiert Lucas Niggli sein Schaffen am Jazzfestival Bludenz. Er tritt dort mit seinen Bands Steamboat Switzerland und Black Lotos sowie im Trio Biondini-Godard-Niggli, im Schlagzeug-Duo mit Peter Conradin Zumthor sowie mit dem Projekt «Africalls» auf. Mit seiner Band Big Zoom hat Niggli soeben die grandiose CD «Polisation» veröffentlicht; mit Luciano Biondini (Akkordeon) und Michel Godard (Tuba) hat er die nicht minder interessante Einspielung «What Is There What Is Not» vorgelegt (beide auf Intakt Records). (pap.)