Mutter Courage der wilden Señoritas
Irène Schweizer im grossen Saal der Zürcher Tonhalle, das ist wie Maurizio Pollini in der Roten Fabrik. Die grosse Zürcher Pianistin mit Schaffhauser roots ist so sehr das Gegenteil eines klassischen Konzertsaal-Ambientes, so sehr eine Ikone der Alternativszene, dass ihr gradus ad parnassum erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. Yeah, für uns alle, aber auch für sie selbst. Dabei konnte sie sich an grosse Podien schon gewöhnen, im Schauspielhaus 2001 und im KKL Luzern 2005. Dennoch, in philharmonische Ruhmeshallen passt diese Mutter Courage aller wilden Señoritas wie die Faust aufs Auge. Die Schweizer passt in kein kleines Schwarzes. Sie ist zwar im Vergleich zu ihren infernalischsten Freejazz-Tagen ruhiger geworden, "formbewusster" vielleicht auch (was nur heisst, dass sie Form bewusster einsetzt und positiv formuliert, wo sie früher erst einmal die Altbauten zum einstürzen brachte und dann zusah, was die Natur zwischen den Trümmern an Neuem austrieb). Von klassischer Dämpfung allerdings keine Spur. Wo ihr hochenergetisches Powerplay früher auch etwas von Gewaltausübung haben mochte, ist sie jetzt subtiler geworden, scheut auch Modulationen nicht (diese Art Trugschluss am Ende ihres Stücke "Hüben ohne Drüben"!), lässt zauberische Melodien aufblühen oder fegt fein auszieselierte kleine Fragmente über die Tastatur – gelegentlich bis an den Rand einer dadaistischen Exzentrik. Dann wieder kommt sie ungeniert in kraftvollen Ostinati auf Einfaches zurück, auf bluesige Angelegenheiten z.B. Sie scheut auch (nie unterwürfige) Reverenzen an wichtige Idole ihrer musikalischen Formation nicht: Thelonious Monk, Carla Bley, Dollar Brand. Eine der schönsten Eigenkompositionen ist Don Cherry gewidmet. Hörbar wird, was ihre Hochspannungskunst früher zuweilen überpowerte: die Lady hat Humor.
Besonders deutlich zeigt sich der (Manfred Papst bemerkt es in seinen liner notes )in den unvergleichlich lapidaren Schlüssen, eigentlichen kleinen Abstürzen, zu vergleichen mit den Nicht-Pointen, mit denen Karl Valentin seine Nummern zur Strecke brachte. Fabelhaft.
Peter Ruedi, Die Weltwoche, Schweiz, 5. Januar 2012