Der Kontrabass gewann vor allem im Symphonieorchester des späten 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Beethoven verwendete ihn gerne, und sein Zeitgenosse Dragonetti (selbst ein Kontrabassist) schrieb sogar Konzerte für das Instrument. Trotzdem, der Kontrabass hatte eher die Bedeutung einer sympathischen Begleit- als einer eigenständigen Stimme. Weder hatten das Instrument den Spielraum, noch die Musik genügend Technik, um sich auf eine eigenständige Art überzeugend auszudrücken. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und speziell mit dem Aufkommen des Jazz erweiterten sich die Spielmöglichkeiten des Kontrabassisten, aber es dauerte bis zum Ende der 30er Jahre, bis das Potential dieses bis dahin eher nebensächlichen Begleit-Instruments urplötzlich zum Leben erwachte. Als Erbe beider Traditionen – denn er ist sowohl in der Welt der Improvisation wie in der geschriebenen Musik zu Hause –, ist die Arbeit des Londoner Kontrabassisten Barry Guy Brennpunkt dieses Albums.
Guy ist ein Kontrabass-Phänomen. Künstler und Kritiker verschiedenster Bereiche der zeitgenössischen Musik haben ihn hoch gelobt. Iannis Xenakis feierte die Aufführung seiner Komposition 'Theraps' durch den Engländer mit den Worten: «Sie hat Kraft, Finesse und Musikalität – sie kann als eine Art Modell gesehen werden». Barry McRae beschrieb im Magazin 'Jazz Monthly' Guys Technik als «phänomenal». Sogar in den Zeiten fortgeschrittener technischer Erweiterungen von Holz-, Blechblas-, Saiten- instrumenten und Perkussion, die bekanntlich grossenteils dem Jazz zu verdanken sind, ist ein solch breites Können eine Ausnahme. Als Instrumentalist hat Barry Guy eine überraschende Reichweite des Kontrabass entwickelt (von explosiven Tiefregister-Tönen bis zu sich jagenden Harmonien), ein Reichtum von Klangfarben von voll und pulsierend bis perkussiv und sogar heftig, und eine Art von Gefühl für Rhythmus und Dynamik, das alles brodeln lässt, was er spielt. Und als Musiktheoretiker repräsentiert Guy jene Art von Offenheit, die schnell dazu beitragen würde, dem Sektierertum und Schubladendenken von 'seriöser' bzw. 'leichter' Musik entgegenzuwirken, wenn es nur mehr Leute wie ihn gäbe. Seit 20 Jahren nun ist Barry Guy in der Jazztradition genauso zu Hause wie in der europäischen klassischen Musik, wobei ersterer nicht etwa eine kompensatorische Funktion oder die eines Zeitvertreibs zukommt, sondern einen gleichwertigen Teil seines musikalischen Lebens darstellt.
Dieses Doppelalbum stellt Aufführungen von Barry Guys seit langem wichtigsten Projekt vor, dem London Jazz Composers Orchestra, das 1970 als eine Art Plattform für Improvisatoren gegründet wurde, um mit neuartigen Kompositionen zu arbeiten, die nicht der üblichen Linie der Jazztradition entsprungen sind. Als Barry Guy das Orchester gründete, war er bereits seit fünf Jahren hauptberuflich als Orchester- und als Jazzmusiker tätig. Früher wollte er Architekt werden, Jazzmusik sollte eher eine Nebenbeschäftigung sein. Die Schnelligkeit jedoch, mit der er sich die Techniken des Instruments aneignete, öffnete ihm eine ganz andere Welt. Er schrieb sich an der Guildhall School of Music ein, und noch vor Ende der 60er Jahre arbeitete er regelmässig im Bereich der Freien Improvisation (die vor allem im Londoner Szenen-Treffpunkt rund um den Little Theatre Club gedieh), in den üblichen Jazz- und Bebopzirkeln quasi als 'Hausmusiker' im Umfeld des Ronnie Scott's Club wie auch in verschiedenen Kammerorchestern. In dieser Zeit begegnete Guy vielen Musikern, die seine beständigen musikalischen Partner werden sollten – wie dem Pianisten Howard Riley, ein am Konservatorium ausgebildeten Musiker, der ähnlich wie er selbst in der improvisierten wie in der komponierten Musik zu Hause ist, oder dem Schlagzeuger John Stevens, der sich schon früh auf eine eigenständige Art mit dem Freejazz eines Ornette Coleman beschäftigte, oder Evan Parker, der inzwischen einer der versiertesten Saxophonisten der Welt geworden ist. Barry Guys musikalische Partner waren alle Suchende, die offensichtlich die Territorien der konventionellen Harmonien und rhythmischen Konzepte des Mainstream-Jazz hinter sich liessen.
Diese Ansammlung von verwandten Geistern führte zur Bildung einer Aktionsgruppe, der Musicians' Cooperative, die die Interessen der britischen freien Improvisatoren fördern sollte, und schliesslich zur Gründung des London Jazz Composers Orchestra, um anfangs Barry Guys eigene Komposition 'Ode' aufzuführen und herauszufinden, wieweit man einen bisher unangetasteten Glauben an die Unvereinbarkeit von kreativem Jazz und kreativer notierter Musik strapazieren oder gar aufheben konnte.
Die hier vorliegenden Stücke sind neuere Arbeiten in der 18jährigen Geschichte des Projekts. 'Polyhymnia' ist von Barry Guy selbst, die anderen sind Kompositionen des amerikanischen Komponisten und Saxophonisten Anthony Braxton, ein Musiker, der ebenfalls von der tiefen Verbindung zwischen Jazz und Konservatorium fasziniert ist, beeinflusst sowohl von Stockhausen und John Cage wie auch von John Coltrane. 'Poly-hymnia' wurde im November 1987 im Kulturzentrum Roten Fabrik in Zürich aufgenommen, und die vier Stücke von Braxton wurden während dem Taktlos-Festival in Zürich 1988 uraufgeführt, von diesem selbst dirigiert.
Zusammengenommen repräsentieren beide Kompositionen die Breite des Spielspektrums des LJCO. Barry Guy meint, dass 'Polyhymnia' die dritte Ära des Entwicklungsprozesses des Orchesters darstellt. Die erste Phase in ihrer ursprünglichen Form manifestiert den Durchbruch der britischen freien Improvisatoren, die sich schnell zu einer Plattform für abstrakte Musik entwickelte, die dann aber immer öfter auch Kunstgriffe der 'Konservatorien' benutzte, um die Partitur zu straffen, was zu wachsender Frustration der improvisierenden Musiker führte. In der zweiten Phase begann Guy, die Konstruktionen der gelungensten Gruppenimprovisationen als Basis für die Partitur zu nehmen, so dass die Improvisation stärker betont wurde als die geschrie- benen Passagen. Während dieser Periode, in der die Rolle der Improvisatoren wieder gestärkt wurde, wurden auch Stücke (die alle auf demselben Konzept beruhen) von Howard Riley, dem Perkussionisten Tony Oxley und dem Posaunisten Paul Rutherford aufgeführt – um nur einige wenige zu nennen. Wegen geringer Auftritts-möglichkeiten für ein solches Orche-ster waren dann auch die häufigen Wechsel in der Orchester-Besetzung unvermeidlich. Peter Kowald und Peter Brötzmann aus der BRD stiessen dazu, genauso wie die britischen Saxofonisten Tony Coe und Larry Stabbins.
In der dritten Phase gelang es Guy, die ursprünglich straffe Konzeption und die vergleichsweise freie Herangehensweise miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Die instrumentalen Klangfarben wurden durch neue Musiker bereichert, wie durch den Trompeter Jon Corbett und die Saxophonisten Simon Picard, Paul Dunmall und Peter McPhail.
In gewisser Hinsicht haben diese Veränderungen in der Besetzung dem LJCO unvermeidlich einen 'jazzigeren' Sound verliehen, denn die erst kürzlich zum Orchester gestossenen Musiker widerspiegeln den gegenwärtigen Trend zurück zur Tonalität, der allerdings die positiven wie negativen Erfahrungen der freien Ära miteinbezieht. Sowohl Guys wie Braxtons Kompositionen sind strukturiert durch bestimmte notierte Knotenpunkte, wo das ganze Ensemble zusammen spielt, aber den Improvisatoren genügend Raum lassen. 'Polyhymnia' beginnt mit einem rasenden, bewegten Tuba-Solo, verstärkt durch das stürmende Brodeln der Bässe, und bewegt sich dann nach dissonantem Ensemble-Spiel in einen triumphalen Wohlklang, als ob die Improvisatoren und der Komponist zusammengespannt hätten, um ein glühendes Stück Metall in eine schwebende und dennoch feste Form zu giessen. So gesehen nimmt 'Polyhymnia' die harmonische Eleganz vom Stück 'Harmos' vorweg, das das LJCO ebenfalls mitschneiden liess und das auf einer späteren Veröffentlichung zu hören sein wird (Intakt CD 013).
Anthony Braxtons Kompositionen, die aus einem erstaunlichen Fundus hervorgegangen sind, der in den letzten 20 Jahren auf bis an die 350 Stücke angewachen ist, folgen Prinzipien, die ständig zu verfeinern er zu seinem Lebenswerk gemacht hat. Braxton erweitert die übliche Notierung mit eigenen Symbolen, um Geschwindigkeit, Intensität, Dynamik und die Wahl der Instrumente festzulegen. Auf dem vorliegenden Album hören Sie die Kompositionen Nr. 135(+41, 63, 96), 136(+96), 108B (+86, 96) und 134(+96).
Die Aufführungen dieser Werke durch das London Jazz Composers Orchestra sind faszinierende Beispiele kühner Musik, die auf der Grenzlinie zwischen den Idiomen entstanden sind. Sie sind einer immer seltener werdenden musikalischen Richtung verpflichtet, die dem Hang der späten 80er Jahre zur 'Rückschau' widersteht. Vor allem aber sind sie Klangdemonstrationen eines enormen Spektrums, das entsteht, wenn geschriebene und improvisierte Musik kombiniert werden – vorausgesetzt, sie werden von sensiblen Tabu-Brechern gespielt. Auch wenn das LJCO am Ende des Jahrzehnts 20 Jahre alt sein wird, wird es weiterhin auf die Entwicklung musikalischer Erkenntnisse an vorderster Front einwirken und auch an der musikalischen Umsetzung beteiligt sein. Immer vorausgesetzt, Barry Guys unermüdliche Energien und sein Ein-satz für dieses Unternehmen halten an, wird dieses Orchester mit aller Wahrscheinlichkeit bis hinein ins 21. Jahrhundert hervorragende Arbeit leisten.
John Fordham, London, 1995
(engl)
The contrabass grew in significance in the symphony orchestra in the latter part of the 19th century. Beethoven made good use of it, and his contemporary Dragonetti (himself a bass player), even wrote concertos for the instrument. However, the bass has usually been a sympathetic supporter rather than a dominant voice. The instrument didn't seem to have the range – nor its practitioners the technique – to become truly expressive in its own right. The coming of the 20th century, and in particular the arrival of jazz, expanded the bass player's role, but it was the end of the 1930s before the potential of this hitherto textural instrument suddenly exploded into life. An inheritor of both these traditions – because he is busy in the world of improvisation as he is in formal music – is the London bass player Barry Guy, whose work is the focus of this album.
Guy is, quite simply, a double bass phenomenon. Artists and commentators from many areas of contemporary music making have sung his praises. Iannis Xenakis greeted the Englishman's performance of his composition 'Theraps' with the observation that «it has power, refinement and musicality and it could be considered a kind of model». The magazine Jazz Monthly in a Barry McRae review described Guy's playing as «quite phenomenal». Even in an era of greatly expanded technical achievement for reeds, brass, basses and percussion, which jazz has done much to bring about, such effectiveness in very different spheres is exceptional. As an instrumentalist, Barry Guy explores a startling double bass range (from explosive low register sounds to scurrying harmonics), a wealth of tone colour from the rich and pulsating to the percussive and even violent, and a sense of both rhythm and dynamics that galvanises everything he plays. And as a musical thinker, Guy displays the kind of open-mindedness that would quickly loosen sectarianism and repressive distinctions between 'serious' and 'light' work if there were more like him. For twenty years he has been as much at home with the jazz tradition as with the European classical one – and the first is not a 'relaxation' or a 'diver-sion' from the second, it is an equal part of his musical life.
This double album features performances by a long time favourite project of Barry Guy's, The London Jazz Composers' Orchestra, which was formed in 1970 as a vehicle for improvisors to work with new compositions that did not spring from the orthodox line of jazz writing. At the time he formed it, Barry Guy had been busy as both an orchestral and jazz musician for five years. He had originally planned a career in architecture, playing jazz as a sideline, but the speed with which he absorbed the techniques of the instrument soon opened up a very different world. He enrolled at the Guildhall School of Music and before the end of the 1960s, he was regularly working both in the free improvisation scene that flourished at a London venue, the Little Theatre Club, in orthodox jazz and bebop circles as a member of the pool of 'house' musicians at Ronnie Scott's Club, and as a member of various London chamber groups. During this period, Guy met many of the jazz based musicians who were to become regular playing partners of his of that time on – like Howard Riley, a schooled musician who was similarly at home in either improvised or composed music, John Stevens, a drummer originally preoccupied with the free jazz of Ornette Coleman, and Evan Parker, who was to become one of the most technically adventurous saxophone players in the world. Guy's jazz associates were all explorers, frequently working in territories that abandoned the conventional harmonies and rhythmic concepts of the mainstream of jazz.
These gatherings of kindred spirits led to the formation of an action group, the Musicians' Cooperative, to further the interests of the British free players, and then to the founding of the London Jazz Composers' Orchestra, originally to perform Guy's own composition 'Ode', and explore just how far a traditionally held belief in the incompatibility of creative jazz and creative notated music could be stretched, or even dismissed.
The pieces here are recent works in the 18 year history of the project. 'Polyhymnia' is by Guy himself, the others are by the American composer and multi-reed instrumentalist Anthony Braxton, a man similarly fascinated by jazz/conservatoire marriages and as influenced by Stockhausen and John Cage as by John Coltrane. 'Polyhymnia' was recorded at the Orchestra's November '87 visit to the Rote Fabrik in Zurich, and the four pieces by Braxton were performed at the Taktlos Festival in March 1988, with the composer himself directing.
Taken together, the works reveal the breadth of the LJCO's scope. Barry Guy maintains that 'Polyhymnia' represents the 'third era' of the band's activities. The first was the original version featuring the ground-breaking British free improvisors of the early 1970s which quickly developed into a vehicle for an abstract music frequently using such conservatoire devices as tone rows, but increasingly tightening the scores to the growing frustration of the improvisors. In the second phase, Guy started to use the textures of the performers' most successful group improvisations as the basis for scores that would em-phasise textural changes rather than notated passages. During this period, in which the improvisors' role was reinforced, pieces concentrating on the same territory were furnished by Howard Riley, percussionist Tony Oxley and trombonist Paul Ruther-ford, among others. Given the erratic work opportunities for a band like this, changes of personnel were inevitably frequent. German musi-cians Peter Kowald and Peter Brötz-mann came into the band, as did British saxophonists Tony Coe and Larry Stabbins.
In the 'third phase', Guy has sought to bring the original tightness of conception and the subsequent looser approach into balance, and the instrumental colours have been enriched by new recruits – such as the trumpeter Jon Corbett and the saxophonists Simon Picard, Paul Dunmall and Peter McPhail.
In some respects, these changes of personnel have inevitably given the LJCO a ‘jazzier’ sound, because its most recent recruits reflect a current general move back to tonality, though informed by both positive and nega-tive lessons learned from the free era. Both Guy’s and Braxton’s pieces are structured as knots of notated ensemble playing which leave extensive space for the improvisors. ‘Polyhymnia’, opening with a darting, agitated unaccompanied tuba solo augmented by stormy broodings of the basses, moves progressively through dissonant ensemble passages toward a kind of triumphant consonance, as if the improvisors and the writer have collaborated to beat a fiery, white-hot metal into a sculpture of poise and resolution. In this respect, ‘Polyhymnia’ anticipates the more harmonically elegant ‘Harmos’, which the LJCO has also recorded and which will feature on a subse-quent disc.
Anthony Braxton’s compositions, which have emerged from an astoni-shing body of notated work that now numbers some 350 pieces over 20 years, follow principles he has devoted his life to refining. Braxton often augments othodox notation with symbols of his own to regulate speed, intensity, dynamics and the selection of instruments. On this album you will hear Nos. 135 (+41,63,96), 136 (+96), 108B (+86,96) and 134 (+96).
The London Jazz Composers' Orchestra’s performances of these works are not simply fascinating instances of adventurous music being made on the borderline between idioms, nor even simply engaging as increasingly rare examples of music that resists the late-Eighties drift towards retrospectives – they are also resounding demonstrations of the scope for formal and improvised musics together if the meeting is in the hands of sensitive marriage-brokers. Though the LJCO will be 20 years old at the turn of the decade, it continues to react to developments at the forefront of musical research, and to musical languages in transition. Given Barry Guy’s indefatigable energies and commitment to the enterprise, it is likely to continue to do so well into the 21st century.
John Fordham, London |