JÜRG WICKIHALDER ORCHESTRA
WITH TIM KROHN AND MANUEAL PEROVIC

NARZISS UND ECHO

Intakt CD 209

 

 

 

(dt + egl.)

 

Zur Entstehung

Tim Krohn


Ursprünglich hatte Jürg Wickihalder ja vor, für Intakt eine zweite Duo-CD mit
Chris Wiesendanger aufzunehmen, dafür hatte er bereits eine Reihe von sehr
einfachen Melodien komponiert. Er überlegte, für einige dieser Stücke auch eine
Sängerin beizuziehen, und fragte mich, ob ich jemanden kenne, der dafür
englischsprachige Lyrics schreiben könne. Daraus entwickelte sich eine
Grundsatzdiskussion, denn ich wollte wissen, warum es Englisch sein muss. Ich fragte
nicht ganz uneigennützig, denn Jürg und ich hatten einige Jahre zuvor gemeinsam
ein «Schneewittchen» geschrieben und zusammen mit Vera Kappeler vertont
(ich sang), und die Arbeit hatte Spass gemacht, und die daraus entstandene
CD ist mir sehr lieb. Jürg fragte Patrik Landolt, den Chef von Intakt, nach
seiner Meinung, der fand ebensowenig triftige Gründe für englischsprachige
Lyrics wie wir.

Also versprach ich, etwas auf Deutsch zu schreiben. Ich bin allerdings mehr Erzähler
und Dramatiker als Lyriker und schlug vor, nicht nur einzelne Songs zu betexten,
sondern daraus einen ganzen Zyklus zu machen. Zu diesem Zeitpunkt wurde uns klar,
dass daraus ein gänzlich neues Projekt würde.

Jürg scheute allerdings den Aufwand, die neuen Kompositionen für ein grösseres
Ensemble alleine zu bearbeiten, also trafen wir uns mit dem Arrangeur Manuel
Perovic auf einen Kaffee und fantasierten etwas. Da gesungener Text meist schwer
verständlich ist, wollte ich gern eine Geschichte auf der Basis eines allgemein bekannten
Materials erzählen. Aufgrund ihrer vielen musikalischen Elemente bot sich
besonders Ovids Nacherzählung von «Narziss & Echo» in den «Metamorphosen» an:
das Echo, die Spiegelung, das Spiel mit Frage und Antwort können leicht auch musikalisch
aufgegriffen werden. Die musikalische Besetzung sollte einerseits die brachial volkstümlichen
Elemente der Geschichte tragen können, andererseits das Ziselierte der griechisch-antiken
Kultur. Eine Kreuzung von Brassband und Streichquartett
mit zwei klassisch ausgebildeten Sängerinnen, von denen die eine,
Jeannine Hirzel, auch grössere Erfahrung in Jazz und Pop hat, schien uns alle Mittel
in die Hand zu geben, um das Schicksal von Narziss und Echo in einer zeitgemässen
Weise zu erzählen und gleichzeitig all ihre Wurzeln – die archaisch-bäuerische, die
klassisch-antike – mitklingen zu lassen.

Ich schrieb das Libretto auf die bereits bestehenden Stücke, Jürg hatte sie, so gut
er es konnte, auf dem Klavier eingespielt. Die erste Herausforderung war, die bestehende
Geschichte so zu gliedern, dass jeder Song mit einer Szene oder einer Stimmung
korrespondierte. Ein Song, glaube ich, blieb dabei auf der Strecke, einer
musste noch zusätzlich geschrieben werden, das besorgte Manuel Perovic. Den Text
schrieb ich so direkt wie möglich, das heisst, in einer Sprache, die eine Brücke
schlagen sollte zwischen dem antiken Stoff und der zeitgemässen Instrumentierung.
Das Arrangieren der Musik entstand in einem dichten Prozess, Manuel und Jürg
schoben sich die Noten immer wieder gegenseitig zu, kritisierten einander, schrieben
um, gelegentlich wurde ich einbezogen und äusserte mich zur narrativen Qualität
der musikalischen Entscheidungen, dann wurde wieder verworfen und Neues
probiert.

Auch während der anschliessenden Proben war die hauptsächliche Arbeit die, einen
Klang zu entwickeln, der nicht einem vordergründigen Schönheitsideal verpflichtet
ist, sondern erzählend ist, der die Räume schafft, in denen die Figuren sich bewegen,
Kontrapunkte liefert, Hindernisse aufbaut, der sich in die Handlung einmischt.
Diese Denkweise erforderte ganz neue Hörgewohnheiten und verlangte, dass wir uns
von so manchem musikalisch hübschen Einfall verabschiedeten, lediglich aus dem
Grund heraus, dass er die Geschichte nicht befördert hätte, sondern die Musik in
einer etwas eitlen Art in den Vordergrund gerückt hätte, das wollten wir unter allen
Umständen vermeiden. Ein Schlüsselmoment war eine gänzlich unverstärkte Live-
Aufführung des Werks – die vierzehn MusikerInnen waren gezwungen, in einem Mass
aufeinander zu hören, wie sie es zuvor nicht kannten. Auf der Bühne entstand so
eine wunderbare Konzentration, und sie begriffen das Werk und ihre Rolle jedes
Einzelnen vollkommen neu.


Während der Aufnahmen schliesslich dirigierte Manuel, Jürg spielte und führte die
Brassband an, ich sass in der Regie und gab Feedbacks von aussen, nun auch den
Sängerinnen. Die Auswahl der Takes besorgten wir wieder alle drei, für die Endmischung
waren Jürg und Manuel verantwortlich.

 

 

 

Narziss und Echo – Randbemerkungen

Daniel Fueter

Hat Musik ihren Ursprung im Ruf, in der Anrufung, im Schrei, in der Bitte, die alle dem
Raum überantwortet werden? Oder steht das Klangspiel mit Hölzern und Steinen am
Anfang, die Suche nach immer neuen Farben, die unendliche Variation? Ungezählte
musikalische Schöpfungsmythen sind denkbar. Ist das rhythmische Empfinden bei
Tanz oder Arbeit der Ausgangspunkt oder das Ritual, welches sich der geheimnisvollen
Begriffsferne der Musik bedient? Tim Krohn und Jürg Wickihalder nahmen Ovid zur
Hand. Ovids «Metamorphosen» sind eine Fundgrube, ähnlich der «Ilias», des
«Decamerone», der «Göttlichen Komödie», des «Faust». Seit Jahrhunderten entwickeln
aus diesen grossen Büchern der Weltliteratur neue Generationen eigene Versionen.

Die Geschichte von Narziss und Echo, die Ovid erzählt, fordert Musik mit ungewöhnlicher
Unmittelbarkeit heraus. Es geht hier zum Beispiel um den Ruf, der auf Resonanz
wartet, es geht aber auch um das lebensspendende Prinzip der Verwandlung,
der steten überraschenden Veränderung. Und natürlich geht es um Erotik in vielfältigsten
Formen. Darf man behaupten, dass Musik dank ihrer Klangsinnlichkeit, dank
dem, dass sie den Zauber der Singstimme sich entfalten lässt und zu jahrhundertelanger
Arbeit an Instrumenten mit ungeahnten Klangfarben anregte, das Erotische
in besonders vielen Dimensionen ausleuchten kann?

Die Zusammenarbeit Krohn-Wickihalder richtete sich nach den zwei Hauptmotiven
von Ovids Geschichte aus. Mal war es der Text, der nach der Musik rief und ein Echo
auslöste, mal ging der Impuls von der Komposition aus, auf die der Textautor reagierte.
Und beide, Komponist und Dichter, nutzen die Aufforderung zur Metamorphose
genussvoll. Der Text bedient viele «Tonhöhen»: den hohen Ton und den
Chanson-Ton, das spröd Prosaische, den konventionellen Vers, die magische Formel
und die Paraphrase. Im Wechsel ergibt sich eine eigene Form der ironischen Brechung,
die den alten Stoff neu leuchten lässt.

Die Musik zeigt schon in der Ouvertüre eine gewaltige Fallhöhe. Dem revuehaften
Einstieg stehen Abgründe gegenüber, die an Schuberts tiefe Triller in der späten
B-Dur-Klaviersonate erinnern. Es gibt unter den zehn Liedern eigentliche Songs, die
in gebrochener, frecher Harmonik Distanz und Zuspitzung schaffen, und dann ist
plötzlich wieder eine Bluesverlorenheit da, die unmittelbar berührt. Die Stimmen
verschmelzen in echter Opernmanier und werden gleich darauf sprechend in Klangfelder
geführt, welche avancierter Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts abgehört
sind. Minimalistische Patterns stehen gregorianisch anmutenden Melodiebögen
gegenüber.

Es ist genuin theatralische Musik, die sich hier dartut: Die stilistische Einheitlichkeit
interessiert weniger als die Farbigkeit. Besser gesagt: in der Vielfalt und Widersprüchlichkeit
gewinnt die Musik ihr eigenständiges Profil. Und es ist ein stringent
auf Musik ausgerichteter Text, der hier theatralische Präsenz gewinnt. Die farbigpräzise
Orchestration Manuel Perovic' und die exquisiten Leistungen der Mitwirkenden
schaffen ein verführerisch-erotisches Klima und tragen ihrerseits – indem auch
hier ungeahnt vielfältige Register gezogen werden – zum anregend-überraschenden,
dramaturgisch spannungsvollen Spiel bei.

Es ist eine geheimnisvolle, verwirrende Welt, in die Hörerin und Hörer sich zunehmend
fasziniert verirren. Der Irritationen sind viele, und sie bewahren alle Beteiligten
– die Erfinder, die Interpretinnen, das Publikum – davor, sich bequem einzurichten.
Verwandlung löst auch Ängste aus, und Überraschungen haben durchaus groteske
Aspekte. Im Echo-Spiel finden die Fragen nicht Antworten, sondern nur neue
Fragen. Man kann sich Fragen immer wieder neu aussetzen. Antworten langweilen
schnell einmal.

 

 

The story of this CD

Tim Krohn

Jürg Wickihalder had originally intended to record a second joint CD with Chris
Wiesendanger for Intakt, and had already composed a series of very simple melodies
for it. He considered bringing a singer in on some of the pieces and asked me if I
knew someone who could write lyrics in English. This led to a discussion of the
underlying issues, as I immediately asked why the lyrics had to be in English. The
question was not entirely innocent, as a few years ago Jürg and I had already written
a version of Snow White together ("Schneewittchen") and set it to music with
Vera Kappeler; I was one of the singers. I enjoyed working on the project and remain
fond of the resulting CD. Jürg asked the opinion of Patrik Landolt, boss of Intakt,
and he was also unable to come up with a good reason why the lyrics had to be in
English.

So I agreed to write something in German. I am, however, more of a storyteller and
dramatist than a lyricist, and suggested writing a whole cycle rather than just texts
for individual songs. At this point it became clear to us that this would become an
entirely new project.

Jürg was somewhat perturbed by the thought of scoring the new compositions for
a large ensemble alone and so we met the arranger Manuel Perovic for coffee and
indulged in some fantasising. As text is generally hard to understand when sung, I
was keen to write a story based on broadly familiar material. Ovid's retelling of the
Narcissus and Echo myth in his Metamorphoses beckoned, due to the many musical
images in the story; motives such as echo, reflection and the play on question and
answer would be easy to take up musically. The instrumentation needed to accommodate
the brutal, demotic elements of the story along with the finely-chiselled
feel of ancient Greece. A mixture of brass band and string quartet, with two classically
trained singers, one of whom also had extensive experience in jazz and pop
(Jeannine Hirzel), seemed to provide us with all the necessary means to tell the
story of Narcissus and Echo in a contemporary manner, while simultaneously allowing
its various roots in both archaic, rustic traditions and in classical antiquity
to be heard.

I wrote the libretto to the pieces Jürg had already composed; he had played them
to me on the piano, to the best of his ability. The first challenge was to organise
the existing story in such a way that each piece corresponded to a scene or an atmosphere.

One piece was left over at the end, as I recall, and one new song written
– by Manuel Perovic. I wrote the text as directly as possible, in other words in a
language I hoped would link the classical subject matter with the contemporary
instrumentation. The arrangement was an intense process; Manuel and Jürg passed
the score back and forth between each other continually, offering feedback and
re-writing; sometimes I was included in the dialogue and commented on the narrative
quality of the musical decisions; many ideas were discarded, new ones tried out.
During the subsequent rehearsals the main task was again to evolve a sound which
instead of serving a superficial notion of the beautiful, could tell a story, create
spaces for the figures to move through, provide counterpoints and build obstacles
which influenced the plot. This approach required a very different approach to listening,
and forced us to abandon many very beautiful musical inspirations simply
because they contributed nothing to the story and would have pushed the music to
the front of the stage, making it appear vain; this was the last thing we wanted. A
crucial turning point was an entirely unplugged performance of the piece in which
the fourteen musicians were forced to listen to each other to an extent they had
not experienced before; an amazing feeling of concentration developed on stage
and they suddenly understood the piece and their individual roles in a completely
new way.

During recording it was Manuel who conducted, while Jürg played and led the brass
band; I undertook direction and offered independent feedback, now directing the
singers too. All three of us selected the takes; Jürg and Manuel were responsible for
the final mix.

 

 

Notes on Narcissus and Echo

Daniel Fueter


Does music have its origins in the call, the invocation, the scream or the plea, cries
emitted into a space? Or did games with wood and stones come first, the search for
ever new colours, infinite variation? It's possible to imagine countless musical
creation myths. Was the point of departure the sense of rhythm in dance or work,
or was it ritual, which makes use of music's intangibility? Tim Krohn and Jürg
Wickihalder turned to Ovid. Comparable to the Iliad, Decameron, Divine Comedy or
to Faust, Ovid's Metamorphoses are a treasure trove. For centuries each generation
has created their own versions of these great works of world literature.

The story of Narcissus and Echo, as told by Ovid, demands music of uncharacteristic
directness. It is about the call which waits for resonance, for instance, but also
about the life-giving principle of mutation, of constant, startling change. And of
course it is about eroticism in all its forms. Is it possible to say that music, thanks
to its aural sensuousness, thanks to the magic of the singing voice, the centuriesold
drive to develop new instruments with ever new timbres, is particularly well
equipped to illuminate the erotic?

The collaboration between Krohn and Wickihalder is orientated on the two main
motifs of Ovid's story. Sometimes it was the text which called for music, generating
an echo; sometimes the impetus came from the composition, to which the text's
author then reacted. And both composer and writer have taken delight in the call to
metamorphosis. The text ranges in 'tone': the elevated tone, the chanson, the blunt
and prosaic, conventional verse, magic formula and paraphrase. The changes in tone
create a new form of ironic refraction, which illuminates the old material anew.
In the overture alone there are mighty leaps of tone. The revue-like beginning is
contrasted with profound depths, reminiscent of the deep trills in Schubert's late B
Minor Piano Sonata. Amongst the ten tracks are some actual songs, which use broken,
cheeky harmonies to create distance and accentuation, and then comes a
bluesy forlornness, which speaks directly to us. The voices fuse with each other in
a truly operatic manner, before moving into fields of sound borrowed from the pioneering
music of the late twentieth century. Minimalist patterns are contrasted with
melodic sweeps evoking Gregorian chants.

A genuinely theatrical music is being played out here: the stylistic uniformity is of
less interest than the colouration. Or, to put it better; the music gains its unique
character through diversity and contradiction. And the text, stringently orientated
toward music, acquires a theatrical presence. Manuel Perovic's precisely coloured
orchestration and the exquisite performances of all involved created a seductive,
erotic atmosphere and contribute to the game of stimulating, astonishing dramatically
tension – here too a surprising range of stops are pulled out.

It is a mysterious, bewildering world through which the listener strays, increasingly
fascinated. There is much that disconcerts, and it prevents all concerned – the
creators, artists, audience – from getting too cosy. Change triggers fears, and surprises
can have highly grotesque sides to them. In the game of echo questions do not receive
answers; only new questions. Questions can be asked again and again.
Answers are boring even once.

Translations: Steph Morris

 

 

 

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