INTAKT RECORDS – LABEL PORTRAIT

 

20 Jahre Intakt Records

 


Barry Guy London Composers Orchestra. Study II, Stringer. Intakt Records 095
Barry Guy New Orchestra. Oort-Entropy. Intakt CD 101
Fred Frith, Stevie Wishart, Carla Kihlstedt. the compass, log and lead. Intakt Records 103
Jaques Demierre Barry Guy Lucas Niggli. Brainforest. Intakt Records 107

 

Wenige Geburtstage und Jubiläen gibt es, die den Musikfreund aus wirklich gutem Grund veranlassen, einmal inne zu halten und ein paar Gedanken an den Jubilar zu richten.
Entstanden aus Verlegenheit im Jahr 1986, als niemand bereit war, den Mitschnitt von Irène Schweizers Ensemble auf dem ersten Taktlos Festival zu veröffentlichen. Seitdem hat das Label in der Regie von Patrik Landolt über 100 Aufnahmen, Meisterwerke der Aktuellen Musik herausgebracht, die von Zürich bis Vancouver hochgeschätzt werden als Zeugnisse eines ungeheuren Fortschritts in der Welt der Musik. Natürlich ist das Label zunächst der Ort, an dem die großen Schweizer Namen erscheinen, Irène Schweizer, zum Beispiel mit ihren fünf legendären Duo-Einspielungen, das Trio Koch-Schütz-Studer, Pierre Favre, Co Streiff oder Lukas Niggli. Der Blick in die Welt hat das Label und auch die Schweizer Musikerinnen und Musiker letztlich weltweit berühmt gemacht. Barry Guy, Cecil Taylor, Alexander von Schlippenbach, Phil Minton, Anthony Braxton, Eugene Chadbourne, unendlich lang ist die Reihe der Künstler mit ihren außergewöhnlichen Einspielungen. Auch über die Grenze nach Deutschland hat Patrik Landolt geschaut, hat den großartigen Musikern aus der früheren DDR Conny Bauer, Ulli Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky und Günter „Baby“Sommer nach dem Ende der DDR das verdiente Podium für eine Kunst gegeben, die überall gerne gehört wird, im westlichen Teil Deutschlands dafür umso seltener. Die aktuelle Veröffentlichung der Vier mit ihrem Zentralquartett, „11 Songs-Aus Teutschen Landen“ ist der neueste und eindrucksvolle Beleg für ihre Kunst.


Drei Beispiele der letzten beiden Veröffentlichungsrunden belegen die außergewöhnliche Konzeption des Labels, genügend Anlass, um mit ihrer Vorstellung den Geburtstagsglückwunsch zu verbinden.


Barry Guys London Composers Orchestra gehört zu den alten Intakt-Stammkunden, Guy mit seinem Gesamtwerk gleich gar. Mit 14 Aufnahmen ist er im Katalog vertreten.
Mit der neuen CD „Study II, Stringer“ greift Guy zwei seiner älteren Aufnahmen auf, die den Weg seiner großorchestralen Kunst sehr gut belegen.
Bert Noglik skizziert Guys Konzept sehr treffend, wenn er darauf verweist, dass Guy die Idee der europäischen Sinfonie verbindet mit dem in der Musikgeschichte mehr oder weniger vergessenen Phänomen des spontanen Musizierens. Genial löst Barry Guy diese Aufgabe, lässt bei aller vorgegebenen Struktur der Individualität der Musiker viel Raum, ihren Klangideen wie Gestaltungen. Insoweit greift er auf die Konzeption des Jazz zurück, löst sich aber sehr deutlich von diesem durch die neuen Strukturen, die eher der Neuen Zeitgenössischen Musik zuzuordnen sind. Insoweit bezieht Barry Guy mit seinem Werk, auch und vor allem mit dem London Composers Orchetsra, das das erhebliche kleinere New Orchestra inzwischen abgelöst aber nicht ersetzt hat, eine ganz eigene unverwechselbare Position im musikalischen Zeitgeschehen, das seit vielen Jahren von Intakt Records dokumentiert und weltweit bekannt gemacht wird.
Mit „Stringer“, einem vierteiligen Konzert für Orchester, ist Guy noch deutlich näher an der Entstehung des im Jahr 1970 aus der Taufe gehobenen Orchesters, während „Study II“ viele feste Strukturen aufgegeben hat. Heraus sticht ein langes Solo des Posaunisten Conny Bauer. Monumental wie die Musik in ihren leisen wie großorchestralen, vollmundigen Phasen ist die Liste der beteiligten Musiker, z.B. Iréne Schweizer, Henry Lowther, Radu Malfatti, Trevor Watts, Evan Parker, Paul Dunmall, Philipp Wachsmann, Barre Philips, Peter Kowald, Howard Riley, Tony Oxley und so weiter und so weiter.


Zum zweiten Mal nach dem Gründungsjahr 2000 des New Orchestra führt Barry Guy mit der neuen CD Oort-Entropy in diesem Ensemble seine Vorstellung von zeitgenössischer Kammermusik zusammen auf den immer wieder zitierten Punkt, orientiert an dem in der Welt der Improvisierten Musik singulären Klaviertrio mit Marilyn Crispell und Paul Lytton. Einige Kompositionen aus dessen zweitem Album „Ithaka“ schlagen den Bogen zu der dreiteiligen Suite ohne Namen von „Oort-Entropy“, damit auch eine deutliche Hommage an Marilyn Crispell, die der Ursprungsfassung des New Orchestra angehörte, aber im Rahmen ihrer reduzierten Reisetätigkeit in den letzten Jahren ihren Platz dem Spanier Agusti Fernandez überließ, der an die Qualitäten der von Guy geschätzten Pianisten von Schlippenbach/Schweizer/Crispell nahtlos anschließt.
Hin und her bewegt sich die kammermusikalischen Duos und Trios im Rahmen dieser 10köpfigen Meister-Crew im ersten Teil hin und her zwischen den Saxophonen von Evan Parker, Mats Gustafsson, der Bassklarinette von Hans Koch, der Posaune von Johannes Bauer, der Tuba von Per Ake Holmlander, der Trompete von Herb Robertson und den Perkussionsideen von Raymond Strid und Paul Lytton.
Der Hauptteil lebt die im ersten Teil aufgebaute Poesie und Kraft restlos aus, die sich zwischen schönen lyrischen Passagen auf gewaltige Art entlädt, so zum Beispiel zwischen Gustafsson und Robertson oder in Evan Parkers sehnsüchtig erwartetem zirkularem Endlos-Solo.
Immer wieder bewegt sich das Geschehen zwischen Guys vorgegebenen Strukturen und freien Gedankegängen der einzelnen Partner, Meisterbeispiele einer Überhöhung der Virtuosität, wie sie nur derartige Meister ihres Fachs beherrschen.

Geradezu symbolisch betritt Patrik Landolt mit der Nummer 101 seines Katalogs mit dieser großen Einspielung ein neues Zeitalter Zeitgenössischer Musik.
Aufgenommen ist das Werk in Baden-Badens SWR Studios unmittelbar nach der Erstaufführung bei dem Taktlos-Festival 2004 in Basel und Zürich. Und von Ohrenzeugen dieser universellen Musik ist zwischen Mulhouse und Vancouver zu erfahren, wie sich der Kern dieses Konzeptes mit jedem weiteren Auftritt immer weiter steigert. Wohin dies führt, bleibt der Neugier jedes Einzelnen vorbehalten, einer Tugend, die in der Kultur so rar geworden ist.


Die neueste Einspielung von Fred Frith „the compass, log, and lead“ mit seinen beiden Partnerinnen Karla Kihlstedt (viol und nyckelharpa), bekannt von ihren Auftritten mit dem Tin Hat Trio, amerikanischen Avantgarde Rock Projekten und Einspielungen bei John Zorns Tzadik Records, und Stevie Wishart (hurdy gurdy, electronics) bewegt sich im freien Raum der ausschließlichen Improvisation. Dazu erklärt er selbst, dass diese Freie Improvisation nur ein Teil der Schaffensbereiche der drei Musiker ausmache, sie sich auch auf den Feldern der komponierten Musik bewegen, die Improvisation aber Summe und Höhepunkt für sie darstellen.
Natürlich kommen sie in den 12 Titeln vor, ihre übrigen Quellen, in kleinen Bildern, Klangcollagen oder auch nur –fetzen. Höchst amüsant und bildhaft sind die gemeinsamen Ideen, so zum Beispiel bei „I am Buffalo Bill today“, der Virtuosität ungewöhnlicher Instrumente wie der Hurdy Gurdy-Drehorgel Wisharts im Dialog mit Kihlstedts vielstimmigen Violinsaiten oder schon beim ersten mitreißenden Auftakt „times comes presto“.
Beim letzten Taktlos Festival konnte man das Trio erleben. Da war ein Jahr zuvor die Aufnahme schon gemacht. In der ungestörten Konzentration der CD-Überspielung kann man allerdings der eigenen Fantasie mit den hunderten von kleinen und großen Anregungen besser freien Lauf lassen. Das zeigt, dass das immer schwierige Unterfangen, spontane improvisierte Musik einzufangen, sehr gelungen ist.


Seit dem ersten gefeierten Auftritt auf dem Moers Festival 2003 des Trios Jacques Demierre, Barry Guy und Lucas Niggli wird die ein Jahr später eingespielte Aufnahme ungeduldig erwartet. Nun kann man es mit „Brainforest“ noch einmal erleben, das Aufeinandertreffen von drei unterschiedlichen, jeweils auf ihre Art genialen Musikern. Im Zusammenspiel entwickeln sie ein Gebirge von ineinander greifenden Klängen, die großen Spannungen unterworfen sind. Deren Ergebnis kommt oft einem gewaltigen Vulkanausbruch gleich unter den donnernden Klavierklängen des Schweizer Mentors der Avantgarde Klavier Musik Demierre. In fünf suitenhaften Titeln, die alle ihren erkennbaren Sinn haben trotz scheinbarer Unverbindlichkeit angesichts der überwältigen freien Klangwelt, Atemberaubend das „Wucher“ im Kölner Loft, wo sie immer wieder auf ihren Tourneen Halt machen und die CD im März 06 vorstellen. „Whalebalance“, 18:24 lang, ist ganz offensichtlich das Abbild eines Riesenwals, der sich ständig in einem spannungsgeladenen Balanceakt befindet.


Verbunden mit dem Glückwunsch an das Geburtstagskind bleibt nur der Dank an die Improvisationskünstler, ohne die die Zeitgenössische Musik um vieles ärmer wäre.

Hans-Jürgen von Osterhausen, Jazzpodium, Deutschland, April 2006

 

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