Christoph
Wagner
Das Zentralquartett auf der Suche nach einer eigenen deutschen Jazz-Identität
- ein Interview mit Günter “Baby” Sommer
Obwohl der Name Zentralquartett eine ironische Anspielung auf
alles Zentralistische im Arbeiter- und Bauernstaat war (etwa das übermächtige
Zentralkomitee), wurde das Ensemble von Conny Bauer (Posaune), Ulrich
Gumpert (Piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (Altsaxofon, Klarinette) und
Günter Sommer (Schlagwerk) zur zentralen Instanz des zeitgenössischen
Jazz in der DDR. 1984 als eine Art All Star Band gegründet, hatten
sich alle vier Musiker schon zuvor einen vorzüglichen Ruf erspielt
als die führenden Vertreter der freien Improvisation im sozialistischen
Deutschland. “Weltniveau” sozusagen. Schnell wurden sie
zu einem der wenigen Exportschlager, mit dem die DDR im Westen punkten
konnte, und waren deshalb häufig in Westdeutschland, aber auch
darüber hinaus, unterwegs. Die neuste Einspielung der vier Musiker
ist eine Art Spurensicherung ihrer fast 40-jährigen Suche nach
einer spezifisch deutschen Spielart des freien Jazz.
Christoph Wagner: Auf dem aktuellen Album mit dem Titel “11
Songs - Aus Teutschen Landen” beschäftigt ihr euch mit Volksmusik,
deutschen Volksliedern, was für ein Freejazzensemble doch recht
ungewöhnlich ist. Wie kam es dazu?
Günter Sommer: Wenn man unsere Geschichte zurückverfolgt,
bemerkt man, dass wir - also vor allem Ulrich Gumpert und ich, aber
auch Conny Bauer und Ernst-Ludwig Petrowsky - schon seit langem nach
eigenen Wurzeln gegraben haben. Das kam daher, dass wir in Verehrung
der amerikanischen Musiker wie Charles Mingus, Max Roach und Art Blakey,
die wir alle gehört haben, feststellen mußten, dass die einer
anderen Tradition angehörten als wir. Sie schöpften aus ihrer
afroamerikanischen Kultur. Wir haben anfangs deren Musik gespielt, aber
immer mit einem leichten Unbehagen, weil wir ja Früchte eines Baumes
geerntet haben, den wir selbst nicht gepfanzt und gegossen haben. Das
war der eine Auslöser!
Gleichzeitig gab es in den 60er Jahren diese Emanzipationsbewegung im
europäischen Jazz, ob in Deutschland, England oder Holland, wo
man sich von der amerikanischen Jazzmusik abzunabeln versuchte. Das
haben wir auf der anderen Seite der Mauer gleichermaßen gemacht.
Wir haben geguckt: Worauf können wir uns beziehen? Da gab es Hanns
Eisler und Kurt Weill, Komponisten, die irgendwo auf dem Boden eines
sozialistischen gesellschaftlichen Gedankenguts standen.
Doch wurden uns die von Carla Bley und Charlie Haden vor der Nase weggeschnappt.
Auch Willem Breuker mit seiner Band spielte Eisler- und Weill-Songs.
Nun wollten wir nicht den dritten oder vierten Aufguss hinterher schicken
und haben gegraben und gegraben. Da sind wir eigentlich nicht sehr tief
gekommen, aber in der Tiefe, wo wir fündig geworden sind, haben
wir preußische Märsche, sächsisch-thüringisches
Liedgut und vor allem Lieder aus dem Mittelalter gefunden. Das alles
hat in unsere freie Spielweise Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre
Eingang gefunden und den ganz speziellen Ruf des DDR-Jazz begründet.
Wir klangen damals anders als die anderen, weil wir die Terzen, Quinten
und Sexten der mittelalterlichen Musik nicht abgelehnt haben, wohingegen
unseren Kollegen im Westen jedes Metrum und jeder Wohlklang im harmonischen
oder melodischen Bereich verdächtig war. Wir hatten keine Berühungsängste
damit. Wir haben also schon 1970 Stücke, wie sie sich jetzt auf
der Platte finden, mit unserer Workshop Band eingespielt, die damals
von Ulrich Gumpert geleitet wurde. Diese Stücke bilden thematisch
einen roten Faden in der Historie des Zentralquartetts.
Christoph Wagner: Sich auf Volksmusik zu beziehen, war in Westdeutschland
eine heikle Angelegenheit, und ist es immer noch - politisch vermintes
Gelände. War es für Musiker aus der DDR leichter, sich dieser
Thematik anzunehmen?
Günter Sommer: In Westdeutschland haben die Leute ein sehr gebrochenes
Verhältnis zur Volksmusik. Im Osten war das anders. Da wurde zum
einen das klassische Kulturerbe (Bach, Beethoven etc.) unterstützt,
aber auch Volksmusik gefördert in ihrer authentischeren Spielart,
nicht in dieser verkommerzialisierten Form, wie sie heutzutage fortwährend
im Fernsehen etwa im “Musikantenstadl” zu sehen ist. Im
Unterschied zu Westdeutschland hatte die Volksmusik in der DDR nicht
diesen anrüchigen Schein von Nationalismus und rechter Gesinnung.
Christoph Wagner: Das Zentralquartett setzt sich musikalisch ernsthaft
mit diesem Material auseinander. Das hat nichts Parodistisches. Welchen
Zugang habt ihr gewählt?
Günter Sommer: Wir hielten nach geeigneten Themen Ausschau, die
nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich interessant waren. Die
mittelalterlichen Lieder handeln oft vom Tod. Trotz ihrer lustigen Texte
gibt es da eine Bedeutungsebene, die tiefer geht. Diese Tiefenschichten
versuchen wir musikalisch darzustellen. Wir spielen keine Persiflagen,
sondern bringen in die Verarbeitung der Stücke unsere individuelle
Sprache ein. Das heißt: Der Umgang mit dem Rhythmus ist anders,
der Umgang mit den Intervallen ist ein bißchen anders und jeder
von uns vier übernimmt eine bestimmte Funktion in dem jeweiligen
Stück. Ernst-Ludwig Petrowsky begibt sich oft auf eine Art Freiflug
über die Band hinweg, während wir uns enger ans vorgegebene
Material halten. Allerdings sind - im traditionellen Sinne - die Stücke
nicht arrangiert. Wir schauen uns die Noten an und überlegen, was
jeder für eine Rolle spielen könnte. Dann wird probiert. Indem
wir den jeweiligen Titel ein paar Mal durchspielen, zeigt sich, ob er
so belassen werden kann oder ob Änderungen nötig sind.
Christoph Wagner: Ihr gehört zur Fraktion der eher undogmatischen
Freejazzer, weil ihr nie Verbotstafeln aufgestellt habt, auf denen steht,
was gestattet ist und was nicht. Frei heisst bei euch: Alles ist erlaubt!
Aber auch wirklich alles: auch Melodien, Rhythmen und Harmonien.
Günter Sommer: Wir pflegen eine Freiheit, die auf dem Positiven
der Tradition beruht. Wir haben die Tradition nicht von vorneherein
abgelehnt und uns davon distanziert. Das heißt, jeder von uns
hat einen Fundus aus Traditionsbeständen angehäuft und den
schleppt er das ganze Leben mit sich herum. Ich hab Max Roach und Art
Blakey sehr intensiv studiert, obwohl ich einen anderen Stil spiele.
Aus dieser Schatzkiste schöpfen wir, wenn wir musizieren. Und wenn
man jetzt so eine Arbeitsebene gefunden hat wie die Volkslieder-Thematik,
da zuckt das dann einfach in der Tasche. Wenn ich bei einem der Volkslieder
meine, dass dazu ein Rhythmus à la Art Blakey passen würde,
spiele ich den ohne Hemmungen. Prinzipiell versuchen wir die Volkslieder
mit dem Schmutz des Jazz zu interpretieren, weil die so süßlich
klingen, wenn sich die Volksmusikanten daran machen.
Christoph Wagner: Hat eure Spielauffassung des unreglementierten
freien Jazz mit eurer Geschichte als ehemalige DDR-Bürger zu tun?
Günter Sommer: Das hat sicher etwas mit unserer Herkunft aus der
DDR zu tun und unserem Hunger nach Freiheit. Wir meinte ja damals, mit
unserer Instrumenten ein wenig am Stuhl der Partei zu sägen. Wir
hatten einfach ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, auch nach politischer
Freiheit. Dieses Bedürfnis äußerte sich im absolut freien
Umgang mit dem Material. Wir wollten auch deshalb nicht schon wieder
eine neue Doktrin aufstellen, was im Freejazz geht und was nicht. Wir
hatten keine Lust auf neue Verbote. Davon gab es in der DDR genug.
Christoph Wagner: Drückt sich im Aufgreifen der deutschen Thematik
so etwas wie eine Entkrampfung gegenüber einem deutschen Nationalbegriff
aus?
Günter Sommer: Wir spielen diese Volkslieder mit völliger
Selbstverständlichkeit, weil wir nun einmal deutsche Musiker sind.
Das ist eine Tatsache. Daran ist nicht zu rütteln! Wenn ich diesen
Weg nicht gefunden hätte, wäre ich vielleicht gescheitert.
Es gab ja diese Ideologie, die etwa in dem Buch “Freejazz - Black
Power” von Philippe Carles und Jean-Louis Comolli zum Ausdruck
kommt, dass Weiße eigentlich keinen Jazz spielen können.
Als ich das gelesen habe, dachte ich: “Scheiße, jetzt muß
du dir einen anderen Beruf suchen!” Glücklicherweise habe
ich die Kurve gekriegt mit der Erkenntnis: Ich bin der Nationalität
nach Deutscher und muss eine mir spezifische Art des Jazzspiels entwickeln.
Keine geborgte Identität, sondern meine eigene. Es ging darum,
das Nationalistische im Deutschen aufzuweichen, indem wir einen deutschen
Sound in der Jazzmusik zu etablieren versucht habe.
Christoph Wagner: Wie stellt sich heute, 17 Jahre nach dem Fall
der Mauer, eure Situation dar?
Günter Sommer: Das ist unterschiedlich. Wir Älteren, Etablierten
vom Zentralquartett haben das Glück gehabt, dass wir als Ost-Exoten
noch zu Zeiten der Mauer in den Westen reisen durften, was der chronischen
Not in der Devisenkasse der DDR zu verdanken war. Deshalb wurden wir
in den 80er Jahren zum DDR-Exportartikel. Wir machten uns einen Namen
im Westen. Als die Mauer dann fiel, hatten wir durch unsere Qualität
eine Akzeptanz gefunden, die uns das Überleben sicherte. Deshalb
hat uns das ökonomisch und künstlerisch wenig tangiert. Wogegen
natürlich junge unbekannte Musiker nach dem Fall der Mauer nicht
mehr vom Exotenbonus profitieren konnten und es deswegen ungleich schwerer
hatten.
Christoph Wagner: Zu DDR-Zeiten waren ja der Jazz, wie z.B. auch
die Kirchen, ein Hort der Opposition. Wie stellt sich heute die Situation
des zeitgenössischen Jazz in Ostdeutschland dar?
Günter Sommer: Wenn heute das Zentralquartett irgendwo in Ostdeutschland
spielt, kommt die alte Schar deren, die mit uns den Weg gegangen sind.
Das sind dann vor allem unsere Jahrgänge, die damals durch einen
Schulterschluss mit uns ihr Unbehagen an der staatlich verordnete Kulturpolitik
ausgedrückt haben. Und dann kommen aber auch neue, junge Leute,
die einfach neugierig sind und einmal etwas anderes hören wollen,
als die übliche Klangtapete, die uns täglich umgibt.
Es gab nach dem Fall der Mauer viele Jahre ein starkes Nachholbedürfnis.
Die Leute haben sich erst einmal die Dinge aus dem Westen reingezogen.
Leute, die nie richtig Rockkonzerte besuchen konnte, haben das nachgeholt.
Das hat sich inzwischen aber normalisiert.
Christoph Wagner: Gibt es junge Musiker im Osten, die eure spezifische
Art des Jazz weiterführen?
Günter Sommer: Eigentlich nicht. Es gibt kaum Musiker aus Ostdeutschland,
die darin eine Chance erkennen, ein eigenes Profil zu entwickeln. Natürlich
werden auch in der ehemaligen DDR die üblichen Formen des freien
Musizierens praktiziert, der internationale Freejazz-Stil, sogar auf
ausgezeichnete Weise. Allerdings fehlt diese spezielle geographische
Note, wo man sofort sagt: So klingen nur die! Vieles ist austauschbar,
was sehr schade ist.
Neuerscheinung:
Zentralquartett: 11 Songs - Aus Teutschen Landen. Intakt 113/2006 (www.intaktrec.ch)
Buch:
Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne - Die Jazzszene in der DDR.
Ch. Links Verlag 2005; 336 Seiten, zahlreiche Bilder + eine CD; Euro:
24,90.
Christoph Wagner, Jazzthetik, Deutschland, Mai 2006
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