INTAKT RECORDS – CD-REVIEWS
Bauer-Gumpert-Petrowsky-Sommer
Zentralquartett
11 Songs - Aus Teutschen Landen. Intakt CD 113

 

Der Jazz hat stets gern in allen möglichen Gegenden gewildert. Spiritual, Blues und Country, Schlager und Pop hat er ebenso für sich nutzbar gemacht wie die lokalen volksmusikalischen Traditionen, wo immer er auftauchte. In Deutschland ist es allerdings nur selten zu einer Symbiose von Jazz und Liedtradition gekommen. Dem will das Zentralquartett nun abhelfen. Seinen Namen verdankt es übrigens der ehemaligen DDR: 1984 änderten der Posaunist Conrad Bauer, der Pianist Ulrich Gumpert, der Altsaxophonist, Klarinettist und Flötist Ernst-Ludwig Petrowsky sowie der Schlagzeuger Günter Sommer den Namen ihrer Formation «Synopsis» in «Zentralquartett», um sich über Institutionen wie das Zentralkomitee lustig zu machen. Damals pflegten die vier Musiker, die zu den Wegbereitern der improvisierten Musik im Arbeiterund Bauernstaat gehörten, vor allem offene Formen. Nun aber nehmen sie elf deutsche Volkslieder als Ausgangsmaterial. Diese werden beileibe nicht nur «verjazzt» oder parodiert, sondern mit Witz und Liebe auf vielerlei Weise umgestaltet. Vom elegischen «Es fiel ein Reif» über eine Gospel-Groove-Version von «Dat du min Leevsten büst» bis zum für Maultrommel und Posaune gesetzten «König in Thule» reicht das Spektrum. Hier wird der Faden der Minnesänger, Herders und Arnim/Brentaiios weder musealisiert noch trivialisiert, sondern ideenreich fortgesponnen.
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, NZZ am Sonntag, 12.2.2006

 

 

Spiel mit Wurzeln
Das Zentralquartett spielt «Songs aus teutschen Landen»
Nick Liebmann, Neue Zürcher Zeitung, 16. Februar 2006

 

 

 

Mit Ulrich Gumpert in „teutschen Landen“
Allenthalben im Jazz der Gegenwart sprudeln die Traditionen nach oben. Coltrane, Parker, Monk und Mingus sind so präsent wie lange nicht mehr – in historischen Ausgrabungen wie auch in Bearbeitungen, wobei die Reminiszenzen von epigonalen Wiederbelebungsversuchen bis zu originären Aneignungen im Sinne der Beschäftigung Alexander von Schlippenbachs mit Theloninous Monk („Monk’s Casino“) und Aki Takases mit Fats Waller („Plays Fats Waller“) reichen. In einer solchen Situation muss eine Platte wie „11 Songs – Aus teutschen Landen“ Verwunderung auslösen. Das „Zentralquartett“ greift in die Truhen und Schatzkästlein des deutschen Liedgutes. Keine Fusion aus Jazz und Folklore, sondern eine Anverwandlung des historisch überlieferten Materials, eine Transformation in die kollektive Klangsprache von Konrad Bauer (Posaune), Ulrich Gumpert (Piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (Altsaxophon, Flöten, Klarinetten) und Günter Sommer (Schlagzeug, Percussion). Bemerkenswert, dass hier so ganz und gar nicht getümelt wird. Es sind die älteren Schichten deutscher Volkslieder, die in ihrem teils noch archaisch anmutenden Duktus glänzend geeignet erscheinen, in die innovativ orientierten Spielprozesse integriert werden.
Ulrich Gumpert erweist sich als der Konzeptualist dieses Albums. Von ihm stammen die meisten der Themenvorschläge und Arrangements. Dabei handelt es sich nicht um eine spontane Ideenfindung, sondern um die Fortsetzung Beschäftigung, die bereits Anfang der siebziger Jahre begonnenen hat.
Zwei Aspekte durchziehen das Schaffen von Ulrich Gumpert: Eigensinn und Kollektivgeist. Ein Einzelgänger, der imstande ist, andere Nonkonformisten in eine Gruppe, gar in eine größere Band zu integrieren. Gumperts Metier ist das wirkungsvoll koordinierte, mitunter auch spontan inszenierte Mit- und Gegeneinander der Charaktere. Reichlich Reibung also. Jede Menge Konfliktstoff und zum Schluss dann doch oft und gern eine Hymne oder eine Persiflage auf eine Hymne. Strahlend blauer Himmel in C-Dur mit Free-Jazz-Gewittern. Ulrich Gumpert ist ein Musiker mit feinem Sinn für Trugschlüsse und subtile Irritationen. Geboren und aufgewachsen im Thüringischen, begann er seine Studien in Weimar. Ihm, der sich nachts mit Dixieland-Bands der dortigen Architekturstudenten herumtrieb, prophezeiten die Lehrkräfte: „Tags über im Bett liegen und nachts mit zweifelhaften Existenzen verkehren. So werden sie nicht Musiker. Dafür werden wir sorgen.“ In ML (zur Erklärung für die Spätgeborenen: Marxismus-Leninismus, in entfremdet-kanonisierter Gestalt damals ein Hauptfach) bekam Ulrich Gumpert die Note 5. Daraufhin folgte die Exmatrikulation. Das Leben spülte ihn nach Berlin. Die Stationen: Klaus Lenz Band, SOK, Synopsis, das spätere Zentralquartett – all das kann man mittlerweile in Jazzlexika nachlesen. Wie sich die Viererbande formiert, dann in unterschiedliche Richtungen verzweigt und schließlich in den achtziger Jahren wieder vereint hat – das muss mit den Schwingungen der Zeit und mit Intuition zusammenhängen. Sie trafen und treffen sich auf einer Ebene, auf der keiner dem anderen etwas vormachen kann, wo die Tricks versagen und die Ego-Trips irrelevant werden.
Ende der sechziger Jahre formierte Ulrich Gumpert ein eigenes Quartett – elektrisch, rockorientiert, jazzinspiriert. Piano, E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug. Durch vier Bläser – Trompete, Posaune und zwei Saxophone – erweitert, firmierte das Unternehmen ab Anfang der siebziger Jahre als SOK, in der Nähe zu Vorbildern wie „Chicago“ und BS&T auch „Blut-Schweiss-und-Tränen-Kapelle“ genannt. Heute kaum mehr vorstellbar, wie so etwas damals ablief: SOK spielte u.a. zum sogenannten Jugendtanz in Klub- und Kulturhäusern. Die markanten Themen lösten sich auf oder setzten sich fort in Improvisationen. Und das langhaarige Publikum hatte Spaß daran, denn es ging – zumindest musikalisch – wider die Norm. Schon damals dabei, im Quartett und auch bei SOK: Gumperts langjähriger Weggefährte Günter Sommer am Schlagzeug.
1972/73 erwies sich als eine Zeit musikalischen Umbruchs. Jazzrock mutierte zunehmend in Free Jazz Das Gumpert Quartett nannte sich „Synopsis“. In der „Großen Melodie“, der Nachtbar im alten Friedrichstadtpalast, entstand eine Aufnahme, die Gumpert den Organisatoren des Warschauer „Jazz Jamboree“ zukommen ließ. Aufgrund dieses Tonbandes wurde die Band 1973 zu diesem internationalen Festival eingeladen. Doch das Quartett hatte sich inzwischen aufgelöst und in neuer Besetzung kam eine Band mit akustischem Instrumentarium und einer freien musikalischen Phantasie, die schließlich auch die Polen beeindruckte und in der Folgezeit für den Free Jazz à la DDR wie eine Initialzündung wirkte.
Vieles passierte in diesem kurzen Zeitraum Anfang der siebziger Jahre. Ulrich Gumpert komponierte Musik zur Bühnenfassung zu Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des junge W.“, ein Buch über einen Außenseiter in der DDR, der sich im inneren Monolog zur „Szene“ bekennt: „Ich hatte für mindestens dreihundert Minuten Musik in den Kassetten. Ich glaube, ich war echt begabt zum Tanzen. Edgar Wibeau, der große Rhythmiker, gleich groß in Beat und Soul. Und wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir in den ‚Eisenbahner’ gegangen oder noch besser in die ‚Große Melodie’, wo die M.-S.-Jungs spielten oder SOK oder Petrowsky, Old Lenz, je nachdem, wer gerade dran war.“ Ulrich Gumpert spielte die Musik live zu den Vorstellungen. Und er musizierte im Duo mit Günter Sommer – ein Duo, das gelegentlich durch den Saxophonisten Manfred Hering zum Trio erweitert wurde: improvisierte Interaktionsmusik.
In den siebziger Jahren galt Ulrich Gumpert im Westen als „Ost-Indianer“. Durch den Blätterwald des West-Jazz-Journalismus raunte ein merkwürdiger Neologismus, ein vielsilbiges Kompositum: „Eisler-Weill-Folklore-Free-Jazz“. Hinter dem, was hier begrifflich im Kurzschluss zum Klischee verkoppelt wurde, verbarg sich in Wirklichkeit ein ernsthafter, oft auch schmerzhafter Prozess des Strebens nach einer neuen jazzmusikalischen Identität. Free Jazz bedeutete auch im Osten zunächst Tabula rasa, ein befreiendes Gefühl, alles ist möglich. Doch das allein stiftete keinen musikalischen Sinn, blieb ebenso belanglos wie die Kopie der übermächtigen Vorbilder. „Nach dieser Befreiung“, formulierte Ulrich Gumpert damals, „müssen natürlich wieder konkrete Formen gefunden werden. Es genügt nicht, sich einer Sache zu entledigen. Man muss auch etwas neues hervorbringen. Das ist ein revolutionäres Prinzip.“
Bei der Suche nach einer Verankerung im eigenen Umfeld ist Ulrich Gumpert, wie schon vor ihm vereinzelt etwa Albert Mangelsdorff oder Joachim Kühn, auf deutsche Volkslieder gestoßen. Für die Jazz-Reihe in den Kammerspielen des Deutschen Theaters formierte Ulrich Gumpert 1972 eine Werkstattband. „Aus teutschen Landen“ hieß das Werk, das am 4. September 1972 uraufgeführt wurde. Der Untertitel lautete: „Eine Suite nach Motiven deutsche Volkslieder von Ulrich Gumpert“. Nach Bezugspunkten im eigenen Umfeld suchend, war Gumpert in den Themensammlungen von Paul Schenk, damals Übungsmaterial für den funktionellen Tonsatz, fündig geworden. Für das 13-köpfige Werksattorchester, die Ulrich Gumpert Workshop Band, arrangierte er deutsche Volkslieder aus dem 16. bis 18./19. Jahrhundert: Material als Sprungbrett für die freien Improvisationen der Solisten und des Kollektiv. „Aus teutschen Landen“ geriet zu einem jazzmusikalischen Manifest: „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“, „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen“, „Der Maie, der Maie“, „Es saß ein schneeweiß’ Vögelein“, „Kommt, ihr G’spielen“. Die Beschäftigung mit deutschem Liedgut, mit all den Terzen und Quinten des Thüringer Waldes, die er seit seiner Kindheit mit sich herumträgt wie einen Rucksack, war für Ulrich Gumpert keine Episode. Aber: er hat keinen Markenartikel daraus gemacht, er wollte ausbrechen aus den Käfigen der Erwartungshaltungen.
„Aus teutschen Landen“. Was damals, Anfang der siebziger Jahre, vehement, vergleichsweise schwer und wuchtig klang, hat in der Neuaufnahme des Verfahrens eine erstaunliche Leichtigkeit gewonnen. Das liegt an der kleineren Besetzung: statt der großen Workshopband agiert ein Quartett mit einem transparenten Klangbild. Es liegt aber auch an der konsequenten Einkürzung der Stücke, an den stringenten Arrangements und der gewachsenen Souveränität im Umgang mit thematischem Material unterschiedlichster Art. Die mit dem „Zentralquartett“ eingespielten „11 Songs“, darunter vier neue „alte“ und zwei eigene, entwerfen eine facettenreiches Bild deutscher Traditionen: von echter, tief empfundener Innerlichkeit über leichtfüßige Tänze bis hin zu Landsknecht-Assoziationen. Das Unheimliche klingt ebenso an wie das Tragische, das Befreiende, das Hoffungsvolle. Jeder dieser Songs erzählt eine andere, ja oftmals mehrere Geschichten. Die Erinnerung an die tieferen Schichten kollektiven Unterbewusstseins verknüpft sich mit Spiel- und Hörerfahrungen im Umkreis des Jazz. Mitunter entstehen Simultanebenen, in denen Thelonious Monk oder Art Blakey, Albert Ayler oder Ornette Coleman an den Gestalten aus den deutschen Volksliedern vorbeihuschen. Reibungen, nicht nur, aber auch, was die Intonationen anbelangt.
Immer wieder sind Ulrich Gumpert musikalische Vexierbilder aus Geschichte und Gegenwart gelungen – in den Prozessen der Improvisation wie in atmosphärischen Stimmungsbildern, etwa in Filmmusiken für Tatort-Krimis von Matti Geschonneck mit Günter Lamprecht als Kommissar Markowitz. Film noire am Ufer der Spree. „Berlin – beste Lage“, das meint Berlin Mitte, da kann Gumpert nicht nur mitreden, da ist er zu Hause. Nun auch mit einer Hammond B3, von der er früher nur zu träumen wagte. Was denn, nun doch wieder Ami-Jazz? Keine Sorge, bei einem Tastenkünstler wie ihm klingt alles nach Gumpert.
Als sich der Pianist Anfang der achtziger Jahre dem Solospiel zuwandte, entdeckte er etwas, das in den Klangexzessen des Free Jazz oft verschüttet wurde: die Konzentration auf den einzelnen Ton, den Respekt vor dem singulären Klang. Neben der kollektiven und energiegeladenen Hingabe an den Spielprozess offenbarte der Solist Ulrich Gumpert einen nachdenklichen Minimalismus, der die Cluster-Jünger das Fürchten lehrte. Die Besinnung auf den Klang und auf das Instrument glich beinahe der Angst, einen Ton anzuschlagen, und gestaltete diesen Akt der Berührung dann zum Ereignis. Nicht von ungefähr stieß Ulrich Gumpert in dieser Zeit die frühen, die vor der vorletzten Jahrhundertwende entstandenen Klavierwerke von Erik Satie. Eine Musik des Zustands, nicht der Entwicklung. Musik, um Satie zu zitieren, ohne Sauce und Sauerkraut.
Wahlverwandte, Außenseiter, Klavierspieler und Komponisten. Man sollte sich vergegenwärtigen, in welchem Maße beide Berufungen, die des klavierspielenden und die des komponierenden Musikers, ineinander greifen und wie sich „Technik“ als Resultierende herausstellt. In der Arbeit für das Theater und für den Film entdeckte Ulrich Gumpert immer neue Aspekte des musikalisch Gestischen. Musik, nicht als dienende, nicht als begleitende Kunst, sondern als dialogisierende, verändernde, herausfordernde Partnerschaft. Gemeinsam mit dem Dichter Jochen Berg schuf Ulrich Gumpert „vier Kurzopern“ mit dem Titel „Die Engel“. Im Textbuch heißt es: „wer ist der tätige. wer ist der fehler. wer. wer ist der schutz. und wem geschieht was. zu lange bewacht das leere paradies.“ Es ging um nicht weniger als um Weltgeschichte, kurz vor dem Sturz der Mauer. Zugleich um Fragen, die sich über das Datum des Tages erheben und in die Zukunft hineinbohren, so wie eine Musik fortdauert, die sich als work in progress entfaltet. Im November 2005 bekam Ulrich Gumpert in Berlin den Albert-Mangelsdorff-Preis verliehen.
In einem Traum, nachts, auf dem Nachhauseweg, eingetragene Adresse, Berlin, Am Zirkus, begegnet er Monsieur le Pauvre und Thelonious Monk. Irgendjemand ruft ihm nach: „So werden sie nicht Musiker, so nicht, dafür werden wir sorgen.“ Gumpert streift schweißgebadet im schnellen Vorlauf, prestissimo, über die Tastatur, hält inne. Findet sich wieder unter Gleichgesinnten, in merkwürdigen Höhlen, am Montmartre, im Five Spot, im Quasimodo. Bye Bye Blackbird. Es saß ein schneeweiß’ Vögelein. Die Kollegen sind schon da. Kommt, ihr G’spielen.
Bert Noglik, WOCHENZEITUNG, ZÜRICH, 22. Februar 2006

 

 

 

Für die Närrigkeit
Free-Altsaxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky zwitschert, röhrt und quietscht. Quietschfidel ist die ganze Musik auf diesem Album. Conrad Bauer, Posaune, Ulrich Gumpert, Klavier, Günter Sommer, Drums und Petrowsky haben sich alte Volkslieder vorgeknöpft. Seit 1984 nennen sie sich Zentralquartett, ein Bandname, der einstige DDR-Begriffe wie Zentralkomitee ironisierte. «Der Maie, der Maie» heisst ein Ringeltanz um 155o: eine pralle Posaune, ein närrisches Altsaxofon, derweil Günter Sommer statt zu swingen den Tambourmajor gibt. Alsbald aber explodiert die Musik kompromisslos ins Freie. Das Zentralquartett führt unverschämt einfache Melodien in die wilde Ehe mit Freejazz-Eruptionen. Aberwitzig.
Christoph Merki, Tages-Anzeiger, Zürich, 22.2.06

 

 


This is European sharp-end jazz with a strong free-improv undertow, supplied by veteran improvisers from the 1960s first wave - the ornery kind who are generally resistant to postmodern whistle-stop tours around contemporary jazz and fusion styles. This set is something of a reunion for Germany's free-jazz pioneers, bringing together trombonist Conrad Bauer, pianist Ulrich Gumpert (the two were originally joined in Gumpert's 1970s Workshop Band), saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky and drummer Günter Sommer.
But it isn't a free-for-all - quirkily the opposite, in fact. The four revisit German Volkslieder, and turn the thumbscrews of free-jazz on folk song and peasant dances going back 500 years. You get high-stepping piano intros greeted with bursts of cacophony instead of elegant horn rejoinders, Latin-jazz dances that turn into wild squalls, pan-pipe sounds over sinister marching bass-drumming and squeaky silent-comedy tunes.
A standout is Petrowsky's misty, mostly unaccompanied rumination, on the rhapsodic traditional song Es Sass ein Schneeweiss Vogelein and Gumpert's Monkish ballad intro to Kommt, Ihr G'spielen, which turns into an exultant brass-band theme with a gospel-piano vamp under it. Engagingly unlovely, and not just for the already converted.
John Fordham, The Guardian, London, Friday 3 March 2006

 

 

Two songs are original compositions by pianist Ulrich Gumpert, but they fit stylistically with the nine Volkslieder -- German folk songs, all attributed to Trad. The songs provide the safe, bouncy melodic lines that the group frequently returns to, but the group also kicks them out of shape, tears them apart, twists them into strange shapes. Two horns, Conrad Bauer's trombone and Ernst-Ludwig Petrowsky's reeds (alto sax, flutes, clarinet), lead the mayhem, while Gumpert and drummer Günter Sommer get in their licks. A-
Tom Hull, http://tomhull.com/

 

 

 

Intakt hat eine neue CD des Zentralquartetts vorgelegt. Die ostdeutschen Jazzlegenden haben sich für ein bewährtes Prinzip entschieden. Schon 1972 machte Ulrich Gumpert Volkslieder „aus teutschen Landen“ zur Inspirationsquelle eines Jazz, der nachhaltig identitätsbildend wirkte. Die Platte eröffnet mit einem alten Motiv, doch die Musik klingt frisch, die Herren scheinen bester Laune zu sein. Sie können auf Kommando heiße Feuer entfachen und mystisch tiefe Beschwörungen vollführen, die sich zu optimistischen Hymnen oder kecken Tanzgelagen verdichten. Typisch ist der blockhafte Wechsel zwischen Themen und freien Improvisationen. Klassisch ist die ganz eigene Kontrapunktik zwischen Saxophon und Posaune, während Klavier und Schlagzeug ein verlässliches Gespann bilden. Gekonnt wird so ein vierdimensionaler Raum aufgespannt, von Vornherein oder durch reiche Erfahrung im Nu ausgewogenen arrangiert. Eine runde Sache. Kein Experiment. (5 Sterne)
Oliver Schwerdt, Jazzzeitung, Deutschland, April 2006

 

 

 

Quel bonheur de retrouver une fois de plus réunis ces quatre immenses musiciens qui, il y a trente ans, lançaient leurs bouleversants appels de l'autre côté du mur de Berlin ! Quelques lustres plus tard et quelques barbes coupées, ils gardent l'enthousiasme des premiers jours avec un peu de drame en moins, certainement, mais avec une fraîcheur, une générosité, une éclatante joie de jouer et un engagement réel. Sans distance ni second degré, donc sans complaisance ni facilités, ils improvisent sur un répertoire de Volkslieder dont certains plusieurs fois centenaires, exactement comme les grands musiciens afro-américains sont capables de le faire sur les vieux negro-spirituals. Le parallèle crève les oreilles ! Le résultat ? Un formidable disque de jazz, sans âge donc actuel, qui s'appuie sur de vraies et profondes racines. Et quel swing! Inutile de décrire quoi que ce soit: il faut simplement se plonger dans ce disque avec la conscience que Il ces musiques existent encore" et qu'elles aident à vivre et à aimer. Si aucun des nombreux festivals hexagonaux ne programme ce fabuleux quartette dans les plus brefs délais, c'est à désespérer de la scène française et du Il spectacle vivant" (sic).
Jean Buzelin, Jazzman, Paris, Avril 2006

 

 

Rigobert Dittmann, Bad Alchemy, 50/2006

 

 

 

Wie eine deftige Brettljause mit viel Senf, Kren und Pfefferoni ist diese CD. Serviert wird sie von vier äußerlich angegrauten, aber innerlich jungen Herren aus der ehemaligen DDR, die sich diesmal (horribile dictu!) so genanntes "deutsches Liedgut" vorgeknöpft haben. Wobei Conrad Bauer, Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky und Günter Sommer teils bis tief in die Renaissance zurückgreifen, um dort ihre Vorlagen für ein saftiges, gleichzeitig archaisches wie zeitgenüssisches Kaleidoskop früher deutscher Liedkunst zu finden. "Hier wiehern Pferde, lachen Tanzweiber, schmachtet Liebe, trommeln Landsknechte, apokalyptische Reiter künden von Pest, Krieg, Hunger und Tod" – so drückt es Michael Wüstefeld in seinen Liner Notes treffend aus. Zwischen Gospel-Seligkeit ("Dat du min Leevsten büst"), derber Tanzboden-Komik ("Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen"), martialischen Ostinati und ergreifenden Soli begibt man sich auf einen furiosen Ritt durch den deutschen (Noten)Blätterwald. Anders ausgedrückt: Das Zentralorgan des deutschen Jazz hat getagt und den nächsten 5-Jahres-Plan (Entschuldigung: die nächste 5-Punkte-Platte) vorgelegt.
schu, Concerto, Wien, April/Mai 2006

 

 



Attention to tradition is too often mistaken as adherence to conservative orthodoxy. In jazz, the culpability often rests at the feet of the neo-conservative crowd, a frequently demonized assembly whose stock rises and falls with regularity, depending on the body of listeners polled.
The four players who form the Zentralquartett have little time for such meta-musical squabbling. They’re too busy making music that stretches the malleable and porous boundaries of improvised music to their own highly listenable designs. Like Albert Ayler before them, they draw on European folk forms as compositional grist for 11 Songs—specifically the Volkslieder, a strain of medieval German songs which are particularly susceptible to historical modification and crosspollination.
Pianist Ulrich Gumpert acts as defacto skipper of the ship, handling arranging chores and even contributing a pair of originals that fit right in. His temperament and approach bring to mind the playful insouciance of Brueker and Mengelberg, but the band’s transitions aren’t as jarring or jump-cut abrupt as those of their Dutch brethren. Each of the pieces fit smoothly into a jigsaw whole. The symmetry lends the whole project a welcome programmatic feel that's augmented by its economical running time. Humor and variety exist in abundance with Gumpert’s keys, frequently in charge of thematic thrust.
On the opening “Der alte Thüringer,” episodes of fracas-fraught blowing alternate with returns to a jaunty, centering calypso motif. “Es fiel ein Reif” develops from a somber trombone-piano preface into a slowly swelling, tribal-sounding promenade for malleted toms and flute. Petrowsky leads the second half of the piece with a passionate, hard-bitten alto solo flanked by powerful piano and drums.
“Dat du min Leevsten büst” builds from a lengthy Bauer introduction into a loping waltz-blues with more pyrotechnics from Petrowsky’s effusive alto, this time coming on like late-period Cannonball Adderley. Boisterous and frolicsome, “Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen” presents a beer hall polka dappled with traces of klezmer and undercut by hi-hat syncopations from Sommer that sound curiously “Shaft”-like.
Sommer is the ideal drummer for these sorts of diversified surroundings. His expertise with mallets and at fashioning all manner of muscular interlocking rhythms makes the absence of a bass hardly noticeable. His solo on the tail end of “Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus” cycles through a colorful array of percussive permutations, even incorporating an elastic tympani rhythm and chanting into the undulating blend of martial beats.
On Gumpert’s “Conference at Conny’s” his pummeling brushes provide the swinging trampoline foundation for another one of Petrowsky’s glossolalic alto sorties. A similar dynamic drives “Kommt, ihr G’spielen,” which opens into a rolling gospel-meets-bop groove and closes with Petrowsky’s alto scouring the freak register, amidst a rising din. The members of Zentralquartett have managed to mine seemingly archaic sources and process them into freshly-minted improv currency without sounding the least bit slavish or imitative in the process.
Derek Taylor, All About Jazz, USA, March 2006

 

 

 

 

Probably the most innovative band to arise from the German Democratic Republic—that is, the former East Germany—the members of Zentralquartett dealt with unique circumstances before the Berlin Wall fell. Although operating in a pseudo-Stalinist culture that promoted so-called Socialist Realism, the band had government support as often as repression, since jazz was as seen as both anti-racist and as a slap at nationalism with its Nazi-era echoes.
Today the musicians—pianist Ulrich Gumpert, drummer Gunter “Baby” Sommer, reedist Ernst-Ludwig Petrowsky, and trombonist Conrad Bauer—are merely four more veteran German improvisers, with a bit of outsider cred. Yet this exceptional, fast-moving CD confirms that these Easterners still think—and play—differently than their more prosperous West German associates.
Musicologist Mike Heffley has written that since East Germans were less guilt-ridden about German history, a Teutonic strain—a variation of East German blues—plus old Germanic hymns were used as a basis for improvisation, a genre that was ignored and self-suppressed by West Germans. Distinctively, 11 songs—Aus teutschen landen (Intakt) is firmly in that inimitable tradition.
In fact, the volkslider that form the basis of these outstanding improvisations have melodies that go as far back as the 15th century and were mostly collected in the mid-19th century from folk sources as part of German self-realization. On one level, consecrating an entire disc to these tunes is the equivalent of a modern American jazz band releasing a CD totally made up of Stephen Foster’s antebellum plantation songs. Of course, knowing the sarcastic tendencies of Zentralquartett—note its mocking, pseudo-official name—it’s very likely that the members’ faces were anything but straight as they played these hoary ditties that are aus teutschen landen or “from German lands”.
Considering that these tunes were initially adopted and adapted by such self-consciously Germanic artists as Bach, Heine, Goethe, and Brahms confirms their historic and kitsch potential. But Zentralquartett—like Thelonious Monk, among others—is able to transmogrify the compositions into impressive improv—pulling the stuffings out of them without negating their underlying folkloric charm.
Much of this alchemy relates to the arrangements of Gumpert, who does such a bang-up job, that he manages to slip two of his own originals into the mix without the casual listener noticing. One, “Der alte thüringer”, is the lead track, and its hocketing development from simple folk ballad to cacophonous cartoon music mocks and celebrates what follows it perfectly. Beginning with a simple chord progression, the fanciful theme comes in and out of focus as the pianist sounds high-frequency staccato arpeggios, the alto saxophonist assays contrapuntal split tones, the trombonist puffs out plunger expansions, and the drummer highlights rebounds, ruffs, and a final press roll.
Transformation also affects 16th century ditties like “Dat du min leevsten büst” and “Der maie, der maie”. The former takes on a drunken second line, marching band flavor courtesy of a rubato expansion of the melody from Bauer with splayed low notes and double-tonguing—plus gospel-like chords from the pianist and contrapuntal effects from Petrowsky. As for the latter, a round from 1550, it features tribal drumming mixed with a martial beat, as the vocalizing horns produce slithering textures that encompass broken octave counterlines. The tune concludes with trilling reed sighs plus pussycat yowling and growling from the trombonist.
Zentralquartett can make a peasant dance tune from 16th century sound like early Dixieland with barnyard and jungle effects that are helped immeasurably by Bauer’s smeary gutbucket approximations; or it can take a folk melody originally arranged by Brahms and transform it into an Ellington-styled ballad with Petrowsky’s smooth sax obbligatos replicating Johnny Hodges’ mellow tone. One hoary volkslider undergoes so much of a logical conversion that before Sommer uses it to demonstrate his skills rattling wooden bones and drum stick nerve beats, it appears to demonstrate how an oomph-pah-pah band would sound if its members were conversant with Albert Ayler’s mile-wide multiphonics.
Gumpert gets his showcase on “Kommt, ihr G'spielen”, an ancient Thuringian summer song, which he treats as if it is a close cousin of “Round Midnight” and “Mood Indigo”. Making references to the Monkish and Ducal canons, his sensitive, yet bravura interpretation stretches the melody to bursting. Midway through, he proceeds to rupture it with gospelish chording. Expanded with a vigorous, almost rock n’ roll beat, his penetrating re-orchestration is complemented by Sommer’s ruffs and flams and Petrowsky’s buzz-saw saxophone split tones, leaving Bauer to double-tongue the original melody.
Capitalism’s insistence on survival of the fittest has replaced state support as the model for artists in the former East Germany, with Gumpert and Petrowsky now mostly confined to playing locally, Sommer to teaching gigs and European tours, and only Bauer an international jazz festival fixture. Almost without argument, 11 songs—Aus teutschen landen proves that Zentralquartett’s mixture of humor, bop, free playing, and Teutonic roots is without parallel. But does the globalized European Union—and its international music scene, jazz and improv divisions—still have a place for old-time, irreverent players like these? We can only hope so.
Ken Waxman, 5 June 2006, One Final Note

 

 

 

 

Entkrampfung
Das Zentralquartett auf der Suche nach einer eigenen deutschen Jazz-Identität - ein Interview mit Günter “Baby” Sommer
von Christoph Wagner

Obwohl der Name Zentralquartett eine ironische Anspielung auf alles Zentralistische im Arbeiter- und Bauernstaat war (etwa das übermächtige Zentralkomitee), wurde das Ensemble von Conny Bauer (Posaune), Ulrich Gumpert (Piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (Altsaxofon, Klarinette) und Günter Sommer (Schlagwerk) zur zentralen Instanz des zeitgenössischen Jazz in der DDR. 1984 als eine Art All Star Band gegründet, hatten sich alle vier Musiker schon zuvor einen vorzüglichen Ruf erspielt als die führenden Vertreter der freien Improvisation im sozialistischen Deutschland. “Weltniveau” sozusagen. Schnell wurden sie zu einem der wenigen Exportschlager, mit dem die DDR im Westen punkten konnte, und waren deshalb häufig in Westdeutschland, aber auch darüber hinaus, unterwegs. Die neuste Einspielung der vier Musiker ist eine Art Spurensicherung ihrer fast 40-jährigen Suche nach einer spezifisch deutschen Spielart des freien Jazz.

Christoph Wagner: Auf dem aktuellen Album mit dem Titel “11 Songs - Aus Teutschen Landen” beschäftigt ihr euch mit Volksmusik, deutschen Volksliedern, was für ein Freejazzensemble doch recht ungewöhnlich ist. Wie kam es dazu?
Günter Sommer: Wenn man unsere Geschichte zurückverfolgt, bemerkt man, dass wir - also vor allem Ulrich Gumpert und ich, aber auch Conny Bauer und Ernst-Ludwig Petrowsky - schon seit langem nach eigenen Wurzeln gegraben haben. Das kam daher, dass wir in Verehrung der amerikanischen Musiker wie Charles Mingus, Max Roach und Art Blakey, die wir alle gehört haben, feststellen mußten, dass die einer anderen Tradition angehörten als wir. Sie schöpften aus ihrer afroamerikanischen Kultur. Wir haben anfangs deren Musik gespielt, aber immer mit einem leichten Unbehagen, weil wir ja Früchte eines Baumes geerntet haben, den wir selbst nicht gepfanzt und gegossen haben. Das war der eine Auslöser!
Gleichzeitig gab es in den 60er Jahren diese Emanzipationsbewegung im europäischen Jazz, ob in Deutschland, England oder Holland, wo man sich von der amerikanischen Jazzmusik abzunabeln versuchte. Das haben wir auf der anderen Seite der Mauer gleichermaßen gemacht. Wir haben geguckt: Worauf können wir uns beziehen? Da gab es Hanns Eisler und Kurt Weill, Komponisten, die irgendwo auf dem Boden eines sozialistischen gesellschaftlichen Gedankenguts standen.
Doch wurden uns die von Carla Bley und Charlie Haden vor der Nase weggeschnappt. Auch Willem Breuker mit seiner Band spielte Eisler- und Weill-Songs. Nun wollten wir nicht den dritten oder vierten Aufguss hinterher schicken und haben gegraben und gegraben. Da sind wir eigentlich nicht sehr tief gekommen, aber in der Tiefe, wo wir fündig geworden sind, haben wir preußische Märsche, sächsisch-thüringisches Liedgut und vor allem Lieder aus dem Mittelalter gefunden. Das alles hat in unsere freie Spielweise Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre Eingang gefunden und den ganz speziellen Ruf des DDR-Jazz begründet. Wir klangen damals anders als die anderen, weil wir die Terzen, Quinten und Sexten der mittelalterlichen Musik nicht abgelehnt haben, wohingegen unseren Kollegen im Westen jedes Metrum und jeder Wohlklang im harmonischen oder melodischen Bereich verdächtig war. Wir hatten keine Berühungsängste damit. Wir haben also schon 1970 Stücke, wie sie sich jetzt auf der Platte finden, mit unserer Workshop Band eingespielt, die damals von Ulrich Gumpert geleitet wurde. Diese Stücke bilden thematisch einen roten Faden in der Historie des Zentralquartetts.
Christoph Wagner: Sich auf Volksmusik zu beziehen, war in Westdeutschland eine heikle Angelegenheit, und ist es immer noch - politisch vermintes Gelände. War es für Musiker aus der DDR leichter, sich dieser Thematik anzunehmen?

Günter Sommer: In Westdeutschland haben die Leute ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Volksmusik. Im Osten war das anders. Da wurde zum einen das klassische Kulturerbe (Bach, Beethoven etc.) unterstützt, aber auch Volksmusik gefördert in ihrer authentischeren Spielart, nicht in dieser verkommerzialisierten Form, wie sie heutzutage fortwährend im Fernsehen etwa im “Musikantenstadl” zu sehen ist. Im Unterschied zu Westdeutschland hatte die Volksmusik in der DDR nicht diesen anrüchigen Schein von Nationalismus und rechter Gesinnung.

Christoph Wagner: Das Zentralquartett setzt sich musikalisch ernsthaft mit diesem Material auseinander. Das hat nichts Parodistisches. Welchen Zugang habt ihr gewählt?
Günter Sommer: Wir hielten nach geeigneten Themen Ausschau, die nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich interessant waren. Die mittelalterlichen Lieder handeln oft vom Tod. Trotz ihrer lustigen Texte gibt es da eine Bedeutungsebene, die tiefer geht. Diese Tiefenschichten versuchen wir musikalisch darzustellen. Wir spielen keine Persiflagen, sondern bringen in die Verarbeitung der Stücke unsere individuelle Sprache ein. Das heißt: Der Umgang mit dem Rhythmus ist anders, der Umgang mit den Intervallen ist ein bißchen anders und jeder von uns vier übernimmt eine bestimmte Funktion in dem jeweiligen Stück. Ernst-Ludwig Petrowsky begibt sich oft auf eine Art Freiflug über die Band hinweg, während wir uns enger ans vorgegebene Material halten. Allerdings sind - im traditionellen Sinne - die Stücke nicht arrangiert. Wir schauen uns die Noten an und überlegen, was jeder für eine Rolle spielen könnte. Dann wird probiert. Indem wir den jeweiligen Titel ein paar Mal durchspielen, zeigt sich, ob er so belassen werden kann oder ob Änderungen nötig sind.

Christoph Wagner: Ihr gehört zur Fraktion der eher undogmatischen Freejazzer, weil ihr nie Verbotstafeln aufgestellt habt, auf denen steht, was gestattet ist und was nicht. Frei heisst bei euch: Alles ist erlaubt! Aber auch wirklich alles: auch Melodien, Rhythmen und Harmonien.
Günter Sommer: Wir pflegen eine Freiheit, die auf dem Positiven der Tradition beruht. Wir haben die Tradition nicht von vorneherein abgelehnt und uns davon distanziert. Das heißt, jeder von uns hat einen Fundus aus Traditionsbeständen angehäuft und den schleppt er das ganze Leben mit sich herum. Ich hab Max Roach und Art Blakey sehr intensiv studiert, obwohl ich einen anderen Stil spiele. Aus dieser Schatzkiste schöpfen wir, wenn wir musizieren. Und wenn man jetzt so eine Arbeitsebene gefunden hat wie die Volkslieder-Thematik, da zuckt das dann einfach in der Tasche. Wenn ich bei einem der Volkslieder meine, dass dazu ein Rhythmus à la Art Blakey passen würde, spiele ich den ohne Hemmungen. Prinzipiell versuchen wir die Volkslieder mit dem Schmutz des Jazz zu interpretieren, weil die so süßlich klingen, wenn sich die Volksmusikanten daran machen.

Christoph Wagner: Hat eure Spielauffassung des unreglementierten freien Jazz mit eurer Geschichte als ehemalige DDR-Bürger zu tun?
Günter Sommer: Das hat sicher etwas mit unserer Herkunft aus der DDR zu tun und unserem Hunger nach Freiheit. Wir meinte ja damals, mit unserer Instrumenten ein wenig am Stuhl der Partei zu sägen. Wir hatten einfach ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, auch nach politischer Freiheit. Dieses Bedürfnis äußerte sich im absolut freien Umgang mit dem Material. Wir wollten auch deshalb nicht schon wieder eine neue Doktrin aufstellen, was im Freejazz geht und was nicht. Wir hatten keine Lust auf neue Verbote. Davon gab es in der DDR genug.

Christoph Wagner: Drückt sich im Aufgreifen der deutschen Thematik so etwas wie eine Entkrampfung gegenüber einem deutschen Nationalbegriff aus?
Günter Sommer: Wir spielen diese Volkslieder mit völliger Selbstverständlichkeit, weil wir nun einmal deutsche Musiker sind. Das ist eine Tatsache. Daran ist nicht zu rütteln! Wenn ich diesen Weg nicht gefunden hätte, wäre ich vielleicht gescheitert. Es gab ja diese Ideologie, die etwa in dem Buch “Freejazz - Black Power” von Philippe Carles und Jean-Louis Comolli zum Ausdruck kommt, dass Weiße eigentlich keinen Jazz spielen können. Als ich das gelesen habe, dachte ich: “Scheiße, jetzt muß du dir einen anderen Beruf suchen!” Glücklicherweise habe ich die Kurve gekriegt mit der Erkenntnis: Ich bin der Nationalität nach Deutscher und muss eine mir spezifische Art des Jazzspiels entwickeln. Keine geborgte Identität, sondern meine eigene. Es ging darum, das Nationalistische im Deutschen aufzuweichen, indem wir einen deutschen Sound in der Jazzmusik zu etablieren versucht habe.

Christoph Wagner: Wie stellt sich heute, 17 Jahre nach dem Fall der Mauer, eure Situation dar?
Günter Sommer: Das ist unterschiedlich. Wir Älteren, Etablierten vom Zentralquartett haben das Glück gehabt, dass wir als Ost-Exoten noch zu Zeiten der Mauer in den Westen reisen durften, was der chronischen Not in der Devisenkasse der DDR zu verdanken war. Deshalb wurden wir in den 80er Jahren zum DDR-Exportartikel. Wir machten uns einen Namen im Westen. Als die Mauer dann fiel, hatten wir durch unsere Qualität eine Akzeptanz gefunden, die uns das Überleben sicherte. Deshalb hat uns das ökonomisch und künstlerisch wenig tangiert. Wogegen natürlich junge unbekannte Musiker nach dem Fall der Mauer nicht mehr vom Exotenbonus profitieren konnten und es deswegen ungleich schwerer hatten.

Christoph Wagner: Zu DDR-Zeiten waren ja der Jazz, wie z.B. auch die Kirchen, ein Hort der Opposition. Wie stellt sich heute die Situation des zeitgenössischen Jazz in Ostdeutschland dar?
Günter Sommer: Wenn heute das Zentralquartett irgendwo in Ostdeutschland spielt, kommt die alte Schar deren, die mit uns den Weg gegangen sind. Das sind dann vor allem unsere Jahrgänge, die damals durch einen Schulterschluss mit uns ihr Unbehagen an der staatlich verordnete Kulturpolitik ausgedrückt haben. Und dann kommen aber auch neue, junge Leute, die einfach neugierig sind und einmal etwas anderes hören wollen, als die übliche Klangtapete, die uns täglich umgibt.
Es gab nach dem Fall der Mauer viele Jahre ein starkes Nachholbedürfnis. Die Leute haben sich erst einmal die Dinge aus dem Westen reingezogen. Leute, die nie richtig Rockkonzerte besuchen konnte, haben das nachgeholt. Das hat sich inzwischen aber normalisiert.

Christoph Wagner: Gibt es junge Musiker im Osten, die eure spezifische Art des Jazz weiterführen?
Günter Sommer: Eigentlich nicht. Es gibt kaum Musiker aus Ostdeutschland, die darin eine Chance erkennen, ein eigenes Profil zu entwickeln. Natürlich werden auch in der ehemaligen DDR die üblichen Formen des freien Musizierens praktiziert, der internationale Freejazz-Stil, sogar auf ausgezeichnete Weise. Allerdings fehlt diese spezielle geographische Note, wo man sofort sagt: So klingen nur die! Vieles ist austauschbar, was sehr schade ist.

Neuerscheinung:
Zentralquartett: 11 Songs - Aus Teutschen Landen. Intakt 113/2006 (www.intaktrec.ch)
Buch:
Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne - Die Jazzszene in der DDR. Ch. Links Verlag 2005; 336 Seiten, zahlreiche Bilder + eine CD; Euro: 24,90.

Christoph Wagner, Jazzthetik, Deutschland, Mai 2006

 

 

 


Auf dem Cover ihres neuen Albums blicken die vier Herren verklärt gen Himmel. Ob ihnen die traditionellen "11 Songs - Aus teutschen Landen" zu Kopfe gestiegen sind, ist nicht auszumachen. Wie dem auch sei: das Zentralquartett, 1973 als Synopsis gegründet und im Jahr Orwells 1984 umbenannt, hat nichts von seiner improvisatorischen Kraft eingebüßt, so traditionell es sich auch geben mag. Es spielt, beruhigt das Booklet einletend, "als wären die Noten von heute und nicht aus dem Mittelalter ". Einfache Melodien werden mit einer geballten Ladung Free Jazz aufpoliert. Das historisch überlieferte Material macht sich das Quartett zu eigen ohne in schnuckelige Fusionen aus Jazz und Folklore zu verfallen. Pianist Ulrich Gumpert, der auch schon mal einen Gospel intoniert, der sich bluesig gibt, hat die Themen neu arrangiert wie bereits zu Beginn der 70er Jahre mit einer "Suite nach Motiven deutscher Volkslieder", interpretiert von seiner 13-köpfigen Workshop Band. Was damals noch etwas schwerfällig und bedeutungsschwanger über die Bühne von "Jazz in der Kammer" kam, ist heute leichtfüßig und sinnenfroh. Manche Stücke sind kürzer, die Arrangements swingender, die Musiker souveräner. Das Zentralquartett, eine der am längsten bestehenden Combos des deutschen Jazz, agiert allzeit klar und umwerfend. Die Themen geben eine hervorragende Basis ab für ideenreiche Soli der beiden Bläser Connie Bauer und Ernst-Ludwig Petrowsky, von perkussiven Momenten eines Baby Sommer ganz zu schweigen. Unbedingt hören!
Reiner Kobe, Jazzpodium, Juni 2006

 

 

Tout est jazzifiable même les German Volkslieder. En ce sens le ZentralQuartett ne nous apprend rien que l'on ne sache déjà. Mais là où la formation aurait pu pécher par excès d'humour et de dérobades (le format de ces chansons s'y prêtant), le quartet teuton s'emploie à n'être que luimême, c'est-à-dire l'une des formations les plus jouissives du moment. Bien sûr, il n'est pas question d'éviter les décalages, les incorrections, la lourdeur kolossale de ces onze folks songs. Ici, c'est une mélodie lourdingue (Kiekbusch) qui très vite abandonnée laisse place au saxophone-toupie d'Ernst-Ludwig Petrowsky (quel immense altiste celui-là!); là, c'est un solo de trombone abondant qui sert à introduire un blues emporté (Dat du min Leevsten büst) ; ailleurs (Kommt, ihr Gspielen) c'est une valse funky qui vient pimenter la sauce.
Vous l'aurez compris, rien n'est à jeter, tout est à écouter, à réécouter.
ZentralQuartett ou la jeunesse retrouvée.
Luc Bouquet, Improjazz, France, Novembre, Dezembre 2006



We all know that the origins of American jazz came largely out of the root of blues. We also know that many cultures have contributed to this form. The one thing I, for one, did not expect was an album of jazz that was based on 12th century German Volkslieder’s art folk songs. These songs are about life and have had a tendency to morph into various forms over the centuries; polkas, marches and Klezmer come to mind. Now we have a quartet of improvisers taking this form and generally having a party with it. Conrad Bauer, Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky and Günter Sommer are masterful in their arranging and playing skills. Sombre marches melt into African grooves that crumble apart in aggressive free playing in a somehow thoughtful and logical manner. This is not to say that the music is cold — quite the opposite in fact. The thing that sets this CD apart from a lot of music that crosses my path is the joy, humanity and sense of humour that pervades. No eyes-rolling-back-in-the-head trance jams and no dry academic opinions, just a folk/free jazz romp into the German spirit — you know, the one that doesn’t make it into the tired stereotype category.
By Nilan Perera, Exclaim, Canada, April 04, 2006

 

And what better way to demonstrate that then to use folk tunes as the jumping-off points for the improvisations. Given the avant firepower of this lineup of Conrad Bauer (trombone), Ulrich Gumpert (piano), Ernst-Ludwig Petrowsky (reeds), and Gunter Sommer (drums), polkas, folk ballads, nursery songs and marches would seem odd thematic material. But the quartet takes the themes to heart. The nursery song like "Kiekbusch" alternates its peppy head with anguished free playing first by Petrowsky on alto over piano and drums and then Wierbos with the trio. This kind of radical juxtapositioning, however, is not typical of the quartet's approach. Instead the members tease out the themes. The sentimental waltz "Dat du m'in Leevsten bust" inspires an ardent conversation between the trombone and saxophone that takes a sudden bluesy turn at the end. The quartet isn't adverse to introducing non-German elements as witnessed by the calypso feel of the opener and the bluesy waltz section in the middle of "Kommt, ihr G'spielen" that comes in on the heels of Gumpert'sopening nod to Thelonious Monk. And Gumpert's "Conference at Connie's" is a Bebop barnburner that bookends a ferocious duet by Sommer and Petrowsky. But the promise of the session is most realized on the dirge "Es fiel ein Reif" and the closer "Es war ein Konig in Thule" where the quartet weaves the strains of folk songs into multi-colored tapestries. "Es fiel" develops as a stately processional with Sommer droning on with a deep tattoo played on a drum with a loose head. "Es war..." Is ethereal swamp music with Sommer setting the tone with croaking mouth harp and Bauer adding eerie multiphonics.
David Dupon, Cadence, October 2006



These German volkslieder themes recall medieval dances and marches with the spritz of circus music, but the razzle-dazzle is in the way the avant-jazz group tears them up and tosses them around. Conrad Bauer, who mangles trombone as gruffly as anyone since Albert Mangelsdorff, is the main perpetrator, with piano, reeds, and drums getting their share of the action.
Tom Hull, Village Voice, New York, August 29th, 2006

 

Bruce Carnevale, CODA, Canada, November/December 2006

 

Kehren wir noch einmal zum Kern zurück - Musik "Aus teutschen Landen" zu exportfördern. Zunächst allerdings müssen wir die erfrischenden Bearbeitungen hochmittelalterlichen Minnegutes reimportieren. Aus der Schweiz. Das Zentralquartett, einstiges Zentralorgan und gewitzter Haudrauf der fruchtbaren DDR-Jazzszene, ist beim Züricher Intaktlabel untergekommen und die produzieren fleißig extrem gute Scheiben mit den Ossis. Bereits mit dem neuen (!) Ulrich Gumpert Song "Der alte Thüringer" geht die tänzerisch-heitere Post ab, wie wir es bisher nur von den Besten der italienischen Genuss-undLebensfreudeFraktion gewohnt sind.
Aus einem wunderbaren Posaunensolo (Conny Bauer) erhebt sich in "Dat du min Leevsten büst" ein stürmischer Gospel, der Lester Bowie im Grab animieren kann einzusteigen und wie iin "Great Pretender" seine Trompete frohlocken zu lassen. Hier schwelgen die alten Herren in entfesselten Improvisationen, lachen Tanzweiber, wiehern Pferde und maulen Landsknechte, während Pauken und Trommeln von Seuchen, Hunger und Tod künden, nur um gleich drauf wieder in einen wilden Reigen zu fallen. Fabelhaft!.
Michael Scheiner, LICHTUNG Kulturmagazin, Juli 2007

 

Bernd Schwope, Hannoversche Allgemeine Zeitung, Deutschland, 14. Januar 2009

 


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