IRÈNE
SCHWEIZERS 60. GEBURTSTAG
2.
Juni 2001: Presse, Reden, Laudatio
Laure Wyss
10. Juni, Schauspielhaus
Zürich
Vor dem Duo-Konzert von Irène Schweizer mit Pierre
Favre aus Anlass des 60. Geburtstags der Pianistin. Organisiert von
Fabrikjazz und Intakt Records.
Meine Damen und
Herren
Ich bin glücklich,
zur Freude dieses Abends ein paar Worte zu sprechen dies, obschon
ich nicht vom gleichen Fach bin wie die gefeierte Musikerin. Die Tatsache
jedoch, dass ich mich in einer andern Branche bewege, gibt mir vielleicht
die grössere Freiheit, unbefangen meine Bewunderung für Irène
Schweizer auszudrücken und meinen ganz persönlichen Dank an
sie zu formulieren. Irène hat mich nämlich in meinen eigenen,
den oft zögerlichen Schreibunternehmungen ernst genommen, mich
angestachelt, vor allem hat sie in mir das Zutrauen in die eigene Produktion
gefördert. Ihre Töne bringen mir Wörter. Ich denke, Irène
hat keine Ahnung davon, darüber gesprochen haben wir nie, aber
für mich ist die heute Gefeierte ein Vorbild, mehr: eine grossartige
Kollegin.
Das kam so:
Vor Jahren, auf
einer Zeitungsredaktion, berichtete mir ein junger Kollege von einem
Konzert, das ihn am Tag zuvor tief beeindruckt hatte und fügte
bei: «Du kannst dir nicht vorstellen, wie diese Pianistin aus
Schaffhausen sich verändert, wenn sie in die Tasten greift, ihr
Spiel macht sie zu einer total andern Person.»
Natürlich interessierte
mich das, ich ging hin, ich hörte fasziniert zu, ich schaute, ich
sah, wie Irène Schweizer in die Tasten griff, die Saiten ihres
Instrumentes zupfte und aufs Holz schlug. Ihr Instrument wurde zum Klangkörper
von vorn nach hinten, von oben bis unten. (Fachleute sagen, die Schweizer
habe das europäische Instrument afrikanisiert.) Nun, ich merkte
bald, dass es sich hier nicht nur um die Äusserungen eines gewaltigen
Temperamentes handelt, ergreifender für mich die Veränderung
der Musikerin selbst, wie wenn ihr Spiel, ihr Werk auf sie zurückschlüge,
sie in eine andere Welt versetzte, eine Welt, der sie in allen Teilen
gewachsen ist, die sie souverän beherrscht. Da sass bescheiden,
fast ein bisschen grau, eine Musikerin, die, spielend, erstrahlt zum
Weltformat. Ich begriff auch, dass eine Begabung, eine Phantasie nur
dann zur grossen Wirkung gelangt, wenn sie auf exaktem Handwerk fusst.
Nur auf geübtes Handwerk ist Verlass. Ich beobachtete die hohe
Konzentration dieser Künstlerin, ihre Unermüdlichkeit, ihre
Stetigkeit, auch ihre Treue gegenüber Mitspielenden und
sie ist unerbittlich in der Frage der Qualität. So spielt Irène
Schweizer seit 30 Jahren mit dem Meister des Schlagzeugs, Pierre Favre,
den wir mit grösstem Vergnügen in einigen Minuten zusammen
mit Irène spielen hören.
Eine schier skurrile
Erinnerung: Als Geschenk für ein junges Freundespaar, das seine
Hochzeitsfeier im Wald am Pfannenstiel oben begehen wollte ich
sollte dort eine Rede halten liess ich mir als Überraschung
Irène Schweizer einfallen. «Ach so», antwortete die
Angefragte, «U-Musik, für eine Hochzeit, na ja, mache ich.»
Schwieriger, viel komplizierter, der Pianistin den ihr angemessenen
Flügel zur richtigen Zeit, bei richtigem Wetter, in die richtige
Waldlichtung zu kriegen. Die Überraschung gelang, die Gesellschaft,
auf steilem Waldweglein hinunter zu einer Wegkreuzung, wo Irène
Schweizer am Flügel spielte. Ein einziger Jogger überquerte
das Bild. «Ist sie es wirklich? Ist sie es? Kann man sie anfassen?»,
wurde gefragt. Später dann kam die Überraschung für mich.
Nach der Rede neues Spiel der Pianistin, ich danke ihr, sie meint trocken,
war ja wohl leicht, ich improvisierte Deinen Text. «Donnerwetter»,
sagte ich mir, «diese Künstlerin nimmt Worte ernst».
Eine nächste
Situation: Es muss 1996 gewesen sein, in der Roten Fabrik, gegen 3000
Leute, sehr viele Darbietungen gleichzeitig zum 15. Geburtstag der WoZ.
Ich sollte, nach einem blendenden Konzert der Irène Schweizer
mit Co Streiff, nach einer Pause im gleichen Saal Gedichte lesen, meine
späten ersten. Ich ging in die Garderobe, um die Beleuchtung für
meine Lesung zu besprechen, Irène sass noch da, sagte, sie bleibe,
um mir zuzuhören. Es war leicht, sie zu bitten, auf der Bühne
Platz zu nehmen, sich also an den Flügel zu setzen. Ich fing an,
sie fiel mir passend in die Lyrik, wir spielten gleichsam zusammen,
es wurde eine grosser Erfolg, das heisst, es war mäuschenstill
im Saal, hinterher zeigte es sich, dass nicht ein Dutzend, sondern 700
junge Menschen zugehört hatten. So war das.
Ich möchte
noch hinzufügen, dass Zürich reicher, urbaner ist, weil seit
Jahrzehnten Irène Schweizer hier wohnt, sie geht durch unsere
Strassen, wir können sie anfassen, wir können sie sehen, wir
können mit ihr reden, auch über Feminismus z. B., wir können
sie oft hören. Und heute gratulieren wir ihr zum Geburtstag und
rufen ihr jubelnd zu: Herzlichen Dank, ein grosses Merci und Evviva
!
Patrik Landolt
16. Mai im Museum
zu Allerheiligen in Schaffhausen
Vor dem Solo-Konzert von Irène Schweizer aus Anlass
des 60. Geburtstags der Pianistin im Rahmen des Jazzfestivals Schaffhausen
Meine Damen und
Herren, liebe Irène
Vor genau 24 Jahren
- ich wohnte damals in Thalwil und war an der Universität Zürich zum
Studium eingeschrieben - organisierte ich als Beitrag zur Belebung des
Schlafvorortes Thalwil eine Konzertreihe im Singsaal des Schulhauses
mit drei Piano-Solos. Es begann Abdullah Ibrahim/Dollar Brand, dann
spielte der amerikanische Pianist Art Lande und als dritte tratt Irène
Schweizer auf. Irène Schweizers Solo war ein aussergewöhnliches Konzert,
mitreissend und die kleine Fangemeinde im Singsaal war von der Musik
von Irène begeistert. - Eine erste Erfahrung mit Irène Schweizer und
ihrer Musik: Wer die Pianistin hört, wer sich auf die Musik einlassen
kann, geht zusammen mit der Improvisatorin auf Abenteuerfahrten und
entdeckt neue Welten.
Über die künstlerischen
Qualitäten von Irène Schweizers Musik ist in den letzten Wochen viel
geschrieben worden. «Sie hat das europäische Instrument afrikanisiert»,
schrieb Ulrich Stock in «die Zeit». Ein grosses Lob. Der amerikanische
Kritiker John Corbett, der für die Jazzzeitschrift «Downbeat» arbeitet,
schwärmte von Irène Schweizers Chicago Solo Konzert vom Februar 2000,
das jetzt als CD dokumentiert und somit für eine grössere öffentlichkeit
nacherlebbar ist: «Es war eine der besten Pianodarbietungen, die ich
je gehört habe». Weitere Beispiele von begeisterten Äusserungen zur
Musik von Irène liessen sich duzendweise anfügen. Die Jazzkritik schreibt
über Irène Schweizer ausschliesslich positiv. Ich habe über all die
Jahre nie eine negative CD-Kritik gelesen.
Seit dem Konzert
in Thalwil Ende der siebziger Jahre hat sich zwischen Irène und mir
eine bis heute dauernde Zusammenarbeit und Freundschaft entwickelt,
deren Resultat Ð unter anderem Ð sich in bald zwanzig CD-Veröffentlichungen
von Irène Schweizer auf Intakt Records zeigt. Es ist eine Zusammenarbeit,
die auch mein Leben verändert hat. Ð Vom ersten Taktlos-Festival, das
wir 1984 in der Roten Fabrik organisierten und an dem Irène Schweizer
im Mittelpunkt stand, sendeten wir die Aufnahmen des Radiomitschnittes
an mehrere CD-Firmen. Wir blieben aber regelrecht auf den Bändern sitzen.
Es fand sich kein Label, das die Musik herausgeben wollte. So entschieden
wir - das waren Irène Schweizer, Fredi Bosshard und Rosmarie A. Meier
und ich - die Musik selber auf Platte herauszugeben. Irène Schweizers
Musik war Mitte der achtziger Jahren in der Schweiz stark unterdokumentiert.
Ältere Platten, die beim Berliner Label FMP veröffentlicht wurden, waren
im hiesigen Plattenhandel kaum zu finden. Die von uns veröffentlichte
Platte «Irène Schweizer live at taktlos» (Intakt LP 001) wurde zu einem
Erfolg, der uns ermutigte, weitere Projekte in Angriff zu nehmen. Ich
bin also, ohne dass ich mich je bewusst dazu entschieden hätte zum Verleger
geworden. Zufall, ein gewisser Ärger über die damalige Verlagslandschaft
spielten eine Rolle. Ausschlaggebend aber war und ist bis heute ein
Enthusiasmus für diese wunderbare Musik, also ganz wesentlich für Irène
Schweizers Musik.
Von dieser ersten
Begegnung in Thalwil ist mir in Erinnerung geblieben: Die hohe Qualität
der Musik und unsere Begeisterung über die Improvisationen von Irène
Schweizer stand im Gegensatz zum geringen Interesse, welches die Thalwiler
diesem Konzert entgegenbrachten. Der Saal war nicht voll, und da mich
elitäre Zirkel depressiv machen -, drängte sich schon damals die Frage
auf, die sich allen CD-Produzenten von kreativer Musik oder Festivalorganisatoren
dauernd stellt: was kann und muss im Kulturbetrieb getan werden, damit
diese grossartige Musik von mehreren Leuten gehört, anerkannt und geschätzt
wird. Die Frage stellt sich für jene um so dringender, die von der gesellschaftspoltischen
Einsicht geleitet sind, dass Kultur und insbesondere Musik, wie sie
Irène Schweizer spielt, gesellschaftsprägende und zukunftsbestimmende
Werte birgt. Eine Improvisationsmusik, die sowohl traditionsbewusst
wie offen ist, erinnernd und innovativ - und die über aussergewöhnliche
Kommunikationsstärken, Eigensinn und seismografische Fähigkeiten verfügt.
Die Frage nach der
Vergrösserung des Publikums und der Verbreiterung der Musik ist bis
heute eine der grosse Herausforderungen geblieben. Ich möchte Sie jetzt
nicht mit Geschichten aus der unspektakulären Knochenarbeit eines Verlages
langweilen, sondern allgmein formulieren: In der Verlagsarbeit werden
die Schwierigkeiten von Produktion von heutiger Kunst auf eine krasse
Weise deutlich und somit die Produktionsbedingungen aktuellen Kunstschaffens
täglich erlebbar. Die Enge des Kulturschaffens entsteht heute nicht
mehr in erster Linie durch das Leiden des Künstlers an der Mentalität
der Heimat Schweiz, wie dies Paul Nizon in den sechziger Jahren für
die hiesige Literatur formuliert hatte. Die Enge heutiger Kulturproduktion
besteht darin, eingeklemmt zu sein zwischen den Planierungsabsichten
des freien Marktes, sprich: der radikalen Durchkapitalisierung aller
Lebensbereiche, des Kulturbetriebs, der TV- und Radio-Redaktionen, der
Freizeit Ð und andererseits den Regulierungswünschen des Staates, sprich:
der Kulturförderung. Eine Kulturförderung, welche gerade in den letzten
Jahren dazu neigte, sich auch immer mehr der Logik des Marktes anzupassen;
Ð mit verheerenden Auswirkungen auf die kreative, innovative Musik.
Vielleicht klingt
es etwas altmodisch: Ich bin aber überzeugt, jede innovative Bewegung,
jede Kunst von Wert ist entstanden, gereift und gross geworden im Ringen
um Autonomie und im Prozess der Befreiung. Irène Schweizer hat sich
über die letzen dreissig Jahre mit beachtenswerter Hartnäckigkeit frei
gespielt. Dass sie über sämtliche Stile des Jazz verfügt - vom Ragtime
über Bebop bis zum freien Spiel - diente ihr zur Befreiung vom stilistischen
Korsett. Dies gab und gibt ihr erst die Möglichkeit zu einer eigenen,
unverkannbaren Sprache. Ihre Sensibilität für die Fragilität künstlerischer
Freiheit und ihr Interesse an gesellschaftlichen und politischen Realitäten,
prägen den Kosmos ihres künstlerischen Ausdrucks, geben ihrer Musik
quasi Bodenhaftung.
Dafür - und selbstverständlich
zum sechzigsten Geburtstag - möchte ich herzlich gratulieren. Ganz besonders
freut mich, dass diese Musik von Irène Schweizer ein Publikum - wenn
auch ein sehr ausgewähltes - findet; ein Publikum, das in den letzten
Jahren grösser geworden ist, wie auch der erfreuliche Andrang hier im
Museum zeigt. In diesem Sinne freue ich mich, dass Irène dieser Tage
in ihrem Geburtsort Schaffhausen, später in Le Prese und dann im Zürcher
Schauspielhaus gefeiert wird.
Richard Butz, WochenZeitung, WoZ, 9. Mai 2001
Irène Schweizers
neue Soloausflüge
Poetische Improvisationen
Die Pianistin Irène Schweizer hat 1958 in ihrer GeburtsstadtSchaffhausen
begonnen, Jazz zu spielen; Boogie-Woogie, Blues,Ragtime. Bereits in
den sechziger Jahren trat sie im legendären Zürcher Jazzcafé Africana
in Hardbop-Formationen auf. Mitte der siebziger Jahre fand sie den Weg
in die freie Musik und nahm in der Folge regelmässig für das Berliner
FMP-Label auf. Die Musikerin hat die musikalische Frauenbewegung stark
mitgeprägt, etwa zusammen mit der Feminist Improvising Group, der European
Women Improvising Group und Les Diaboliques. Seit langem pflegt sie,
die selber als Schlagzeugerin auftritt, das Zusammenspiel mit Drummern,
so mit Pierre Favre, Han Bennink, Louis Moholo, Günter Sommer oder Andrew
Cyrille. Ein künstlerischer Höhepunkt sind dieAufnahmen mit dem London
Jazz Composers Orchestra aus dem Jahre1992, für die Leader Barry Guy
«Theoria» komponierte. Auffallend ist, dass die Pianistin über Jahrzehnte
hinweg mit den gleichen PartnerInnen, so in jüngerer Zeit auch mit Co
Streiff und OmriZiegele am Saxofon, zusammenarbeitet. Parallel zu diesen
Aktivitäten tritt und nimmt die Pianistin regelmässig solo auf. Ihre
ersten Soloalben liegen über ein Vierteljahrhundert zurück. Seit siev
om Zürcher Intakt-Label mustergültig betreut wird, sind zwei weitere
Soloproduktionen, eines davon ein Doppelalbum, erschienen.Jetzt legt
Intakt zum 60. Geburtstag von Irène Schweizer ein weiteres Soloalbum
vor: «Chicago Piano Solo» ist im Februar 2000 in Chicago live aufgenommen
worden und enthält neun Stücke.
Hüben oder Drüben
mit Innigkeit 1996 spielt Irène Schweizer in der alten Kirche Boswil
live ihre Instant-Komposition «Hüben wie Drüben» ein; hüpfend, perlend,witzig,
ironisch-stolpernd, beherrscht und fast motorisch durchgezogen, bis
hin zum langsam verebbenden Schluss. Diese Interpretation erscheint
1996 auf der Piano-Solo-CD «Many and One Direction», entstanden in Erinnerung
an die im Jahre 1963 verstorbene Schweizer Malerin Sonja Sekula. Vier
Jahre später, im Februar 2000, sitzt die Pianistin an einem etwas weniger
guten, aber tauglichen Instrument im Chicagoer Club «Empty Bottle» und
interpretiert ein Stück mit dem leicht abweichenden Titel «Hüben ohne
Drüben». Es ist jetzt auf dem neuesten Soloalbum als siebtes Stück zu
hören. Ein Vergleich dieser zwei Stücke ist aufschlussreich. Bei der
Chicagoer Version geht die Pianistin ganz anders vor. Sie tippt das
melodische Ausgangsmaterial lediglich an, es folgt eine längere suchende
Phase,in der die Pianistin zu zögern scheint (obwohl sie natürlich immer
weiss, was sie will). Anstatt das Stück verebben zu lassen, gestaltet
sie es konsequent bis zum letzten Ton durch. Neu Ð und dies vor allem
Ð ist diese Version voller Poesie. Der zur Worthülse geratene Begriff
Innigkeit erhält hier seine ursprüngliche Bedeutung zurück.
In einem Interview
mit dem Musikkritiker Ulrich Stock(«Jazzethtik» Nr. 5/01) erklärt Irène
Schweizer, dass ihr Technik zunehmend weniger wichtig sei und sie an
ihre Stelle die Poesie setze. Als Beispiele für Poesie im Jazz nennt
sie Pianisten wieThelonious Monk oder Misha Mengelberg sowie Trompeter
Don Cherry und den erdigen Drummer Ed Blackwell. Den 1995 verstorbenen
Don Cherry, der oft ganz einfache Themen zu beseelten Kabinettstücken
verarbeitete, ehrt sie auf dem neuen Album mit dem vierten Titel «Togetherness
One (First Movement)» auf eindrückliche Weise. Gleich anschliessend
greift sie auf «Stringfever» in die Saiten. Sie trommelt mit Fingern
auf Saiten und Holzrahmen, lässt Glöckchenerklingen, spielt gleichzeitig
auf Tasten und zupft oder streicht Saiten, sie schnalzt und ruft, trommelt
einen schnellen Rhythmus.Dies alles ist ganz im Stile der zeitgenössischen
Musik von Cage, Kagel und Stockhausen, die Irène Schweizer als wichtige
Einflüssebezeichnet. Nur vergisst sie Ð anders als die meisten E-MusikerInnen
Ð dabei den Rhythmus nicht.
Hommage an Südafrikas
Jazz
Der Rhythmus ist für Irène Schweizer ein tragendes Element der Musik.
Dies gibt sie im anschliessenden «Circle» kräftig und unmissverständlich
zu verstehen, worauf das ausführlich beschriebene «Hüben ohne Drüben»
folgt. Der kurze, verspielte «Rag»(Stück 8) verweist auf zweierlei:
zum einen auf Thelonious Monk, den die Pianistin verehrt und dessen
vertrackte Eigenwilligkeit oft in ihrem Spiel aufscheint, und auf die
Jazztradition, der sie sich bei aller Experimentierfreudigkeit verpflichtet
fühlt. «Roots», das amSchluss des Albums steht, ist ähnlich wie die
Albumeinleitung «So oder so» eine Hommage an den südafrikanischen Jazz.
Er hat Irène Schweizer schon in den sechziger Jahren in London und Zürichinspiriert.
Doch nicht die säuselnden und verblasenen pianistischen Spielereien
eines Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) von heute sind hier gemeint. Vielmehr
erinnert sich die Pianistin an den einst innovativen Jazz von Dollar
Brand und Makaya Ntshoko, an treibende Rhythmen und zündende Improvisationen,
an Kwela- undTownship-Jazz und an die später ins Exil gegangenen Blue
Notes rundum den Pianisten Chris McGregor. Hier spricht sie mit Hochachtung
vom Bassisten Johnny Dyani und Drummer Louis Moholo, mit dem sie oft
zusammengespielt und auch ein ausgezeichnetes Duo-Album aufgenommen
hat.
Auf «So oder so» folgt als zweites Stück eine Ehrung an den Aufnahmeort:
«To the Bottle» ist ein impressionistisches, fast schon verspieltes,
in seiner Grundhaltungruhiges Stück mit romantischer Stimmung. Dunkel
und brodelnd dagegen beginnt das dritte Stück, «Heilige Johanna». IrèneSchweizer
lässt den Rhythmus treiben, löst ihn auf und geht über in überquellende
Tonkaskaden, die vorgegebenen Strukturenzerhämmernd. Sie führt schliesslich,
als wäre es genug der Derwischtänze, die Musik vorerst in ruhigere Bahnen,
um gegen Schluss noch einmal mit wirbelnden und rasenden Läufen, die
in wahre Klanggewitter ausbrechen, das Feuer anzufachen. Das Ende kommt
fast abrupt, ohne eine eigentliche Auflösung.
Ob all den Referenznamen, die bisher gefallen sind, muss klar unddeutlich
gesagt sein, dass es die ZuhörerInnen für keinen Moment mit Kopien oder
gar Abkupferungen zu tun haben. Sie hören stets Irène Schweizer und
damit eine Musikerin, die sich nie auf Noten abstützt,die vielmehr ständig
am Flügel sitzend komponiert, sich nicht mit Wiederholungen ausruht
und die immer ein klares Konzept hat. «Bottle»-Programm-Mitverantwortlicher,
Jazzkritiker und Liner-Notes-Verfasser John Corbett zitiert in diesem
Zusammenhang die Improvisations-Definition des Grossmeisters Duke Ellington:
«Improvisieren heisst eigentlich, hier eine Idee aufzugreifen und sie
da mit einer anderen Idee zu verbinden, hier den Rhythmus zu wechseln
und dort zu pausieren; jeder musikalischen Phrase muss ein Gedanke,
ein Konzept vorausgehen, sonst macht sie keinen Sinn.» Genau solche
Musik macht die Schweizer Pianokünstlerin auf «Chicago Piano Solo»;
ein würdiges und stimmiges Geburtstagsgeschenk.
Dass sie diese grossartigen Soloausflüge zuerst gar nicht veröffentlichen
wollte, sich jetzt aber freut, zeugt von ihrer Bescheidenheit. Irène
Schweizer gehört nicht zu jenen zahlreichen MusikerInnen, die jede gespielte
Note gleich auf CD verewigt sehen wollen. Sie macht jetzt bereits seit
rund 42 Jahren aktiv Musik und ist mit 60 immer noch das, was sie bisherausgezeichnet
hat: eine Urmusikantin, dabei eine selbstkritischeZweiflerin und Sucherin.
Irène Schweizer weiss aber auch, was sie kann Ð sehr, sehr viel.
Geburtstagskonzerte
Irène Schweizers sechzigster Geburtstag wird an drei Anlässen gefeiert.
Mit einem Solokonzert eröffnet die Pianistin am Mittwoch, dem 16. Mai,
das Schaffhauser Jazzfestival (12.30 Uhr, Museum zu Allerheiligen).
Das Schaffhauser Jazzfestival gibt Irène Schweizer eine Carte Blanche
für den Donnerstagabend, den 17. Mai. Irène Schweizer lädt den holländischen
Schlagzeuger Han Bennink ein für ein Duokonzert. Als zweiter Programmpunkt
wird auf Wunsch von Irène Schweizer das Filmporträt über Thelonious
Monk, «Straight No Chaser», gezeigt. Am Uncool-Festival in Le Prese
tritt Schweizer in drei Formationen auf: mit Les Diaboliques (mit Maggie
Nicols und Joëlle Léandre), im Trio mit Pierre Favre und Rüdiger Carl
und im Duo mit dem New Yorker Schlagzeuger Andrew Cyrille (24.Ð26. Mai).
Am Zürcher Birthday-Concert, am Sonntag, dem 10. Juni, 20 Uhr, im Schauspielhaus
(Pfauen) spielt Irène Schweizer im Duo mit Pierre Favre. Gratulationsworte
halten die Schriftstellerin Laure Wyss und Josef Estermann. Das Zürcher
Birthday-Concert ist eine Koproduktion von Fabrikjazz (Rote Fabrik)
und Schauspielhaus.
Nick Liebmann,
Neue Zürcher Zeitung, 3. Mai 2001
Keine Frühpensionierung
geplant
Irène Schweizers Blick zurück - und nach vorn
Die international bekannte Jazzpianistin Irène Schweizer
wird am 2. Juni sechzig Jahre alt. Aus diesem Anlass besuchten wir die
Schaffhauserin in ihrer Wohnung im Zürcher Stadtkreis 4, wo sie schon
seit 23 Jahren lebt und arbeitet.
Für Irène Schweizer ist der sechzigste Geburtstag kein dramatischer
Lebenseinschnitt. Vielmehr ist ihr der Rummel um ihre Person, sind ihr
die vielen Interviews und die zahlreichen Geburtstagsanlässe eher unheimlich
und anstrengend. Ihre Konzerttätigkeit, ob allein oder mit vertrauten
Musikerinnen und Musikern, möchte und muss sie so lange weiterverfolgen
wie möglich; an eine Frühpensionierung, sagt sie mit einem Lächeln,
denke sie nicht.
Ihr Weg von Ragtime und Dixieland über Souljazz, Cool und Hardbop bis
zum radikalen Free Jazz erfolgte graduell, organisch. Den Anstoss zur
Befreiung gaben Musiker wie Paul und Carla Bley und Bill Evans, bei
dem Irène Schweizer damals, Anfang der sechziger Jahre, erste Zeichen
der harmonischen und rhythmischen Auflösung entdeckte. «Wir hatten damals
ein Trio, mit dem Schlagzeuger Mani Neumeier und dem Bassisten Uli Trepte.
Ich erinnere mich noch genau an eine Probe, an der Mani plötzlich den
Beat nicht mehr gespielt hat. Wir schauten uns an und fragten uns: Was
haben wir denn jetzt gerade gespielt?», erinnert sich die Pianistin.
Free Jazz war damals in Europa noch gar kein Begriff, man experimentierte
und wollte neues Terrain erkunden.
Kaputtspielmusik
Wenn Irène Schweizer Aufnahmen von damals hört - Aufnahmen übrigens,
die nächstens wieder aufgelegt werden -, dann hört sie Elemente in ihrem
Spiel, die sie immer noch verwendet. «Es war schon vieles da vom Spielmaterial,
auf das ich heute in meinen Improvisationen zugreife - wobei ich dieses
Material heute ganz anders einsetze.»
Damals war Irène Schweizer eine Improvisatorin mit Wut und ungezähmter
Energie, heute wirkt ihr Spiel viel sanfter. Diese Entwicklung hält
die Pianistin nicht nur für ein Zeitphänomen, sondern spricht auch von
einer persönlichen Entwicklung. «Ich habe heute einfach keine Lust mehr,
mit den Fäusten auf ein Klavier einzuschlagen; es macht mir keinen Spass
mehr, einen Cluster an den anderen zu reihen und immer meine pianistische
Technik unter Beweis zu stellen.» Irène Schweizer ist ruhiger und reifer
geworden, gelassener, weniger impulsiv und aufbrausend.
Die «Kaputtspielmusik» von damals passe allerdings auch nicht mehr zu
unserer Zeit. Damals, in den siebziger Jahren, reflektierte man so über
die politischen Ereignisse, glaubte an Revolution, an das Aufheben aller
Gesetzmässigkeiten. Man wollte auf Rhythmus und Harmonie verzichten
und damit die Welt verändern. Die Anhänger der radikalen deutschen Schule
empfanden Dreiklänge als Verrat - Irène Schweizer, die immer wieder
ihren Jazz-Background betont, hat sich allerdings schon damals nicht
an solche Vorschriften gehalten.
Worüber regt sich Irène Schweizer heute auf? «Über die Beliebigkeit,
die Gleichgültigkeit und die Gesichtslosigkeit in Kultur und Politik!
Früher war Jazzmusiker eine Berufung. Heute kann jeder, und sei er noch
so unmusikalisch, eine Jazzschule besuchen - genauso wie andere eine
Schreinerlehre absolvieren oder Grafiker werden können.» Irène Schweizer
bleibt eine aufmerksame Beobachterin solcher Entwicklungen, möchte aber
nicht mehr mit der Musik gegen Missstände kämpfen. Die Wut und auch
ihr Engagement für die Sache der Frau innerhalb und ausserhalb der Musik
sind in den Hintergrund getreten - obwohl sie der Meinung ist, es gebe
immer noch viel zu wenig Frauen in der Musik. Von Resignation will sie
allerdings nichts hören.
Der Jazz-Stadt Zürich erteilt Irène Schweizer heute schlechte Noten.
«Das Moods ist kein Jazzklub, sondern ein Musikklub. Die lokale Szene
hat Mühe, Auftrittsmöglichkeiten zu finden. Es müsste in Zürich wieder
einen Jazzklub geben, wo eine Band zwei oder drei Tage lang auftreten
kann. Heute sind in Zürich alles One-Night-Stands». Als Mitinitiantin
hat die Pianistin, die schon früher in Zürich Jazzkonzerte mitveranstaltet
hat, vor ein paar Jahren die Organisation OHR ins Leben gerufen. «Da
kann sich die lokale Szene wenigstens jeden Mittwoch - zum Beispiel
im Café Casablanca - präsentieren. Und da gibt es auch immer wieder
Neues zu entdecken.»
Jazz-Nostalgie
Mit einem gewissen Wehmut denkt Irène Schweizer an die goldenen Zeiten
des Jazz in Zürich, die sie zwischen Ende der sechziger und Ende der
siebziger Jahre sieht. «Modern Jazz Zürich im Restaurant Hinterer Sternen
beim Bellevue, die Konzerte im Poly Foyer, der Anfang des Bazillus -
damals war Aufbruchstimmung in unserer Stadt.»
Irène Schweizer übt selten. Wenn sie übt, dann mit den Partnern, mit
denen sie festgelegte Tunes spielt, oder ganz allein an ihrem Flügel
Stücke des grossen Thelonious Monk. Dabei entdeckt sie immer wieder
neue Wendungen und Phrasen, auf die sie in ihren Konzerten zurückgreifen
kann. Ihre Stücke notiert sie grundsätzlich nicht; sie hat alle Themen
in ihrem Kopf. Die Titel sind dabei völlig unwichtig und nicht programmatisch
zu verstehen. Unerfüllte Träume? «Einer meiner Träume wird leider unerfüllt
bleiben. Ich wollte schon immer mit dem Schlagzeuger Billy Higgins im
Duo musizieren - leider ist er vor wenigen Wochen verstorben. Aber ein
paar Wunschpartner hätte ich da schon noch: den Saxophonisten Steve
Lacy, den Perkussionisten Milford Graves und den Posaunisten Rosewell
Rudd zum Beispiel.»
Aktuelle CD: Irène Schweizer: Chicago Piano Solo (Intakt/ RecRec). Das
Zürcher Birthday-Concert findet am Sonntag, 10. Juni, um 20 Uhr am Schauspielhaus
Zürich im Pfauen statt. Irène Schweizer wird im Duo mit ihrem langjährigen
Schlagzeugpartner Pierre Favre musizieren, Laure Wyss und Stadtpräsident
Josef Estermann werden Gratulationsworte an die Jubilarin richten.
Mainrad Buholzer,
Neue Luzerner Zeitung, 2.Mai2001
Die Jazzpianistin
Irène Schweizer wird sechzig
«Das Improvisationsrisiko törnt an»
Irène Schweizer hat einen grossen Teil der Jazzgeschichte
verarbeitet. Nun ist sie selbst Teil der Jazzgeschichte. Zu ihrem 60.
Geburtstag am 2. Juni ein Interview mit der Pianistin.
Irène Schweizer, zurzeit wird noch ein anderer 60. Geburtstag gefeiert,
jener Bob Dylans. Haben Sie eine Beziehung zu ihm?
Irène Schweizer: Ja, sehr. Ich habe in den Sechzigerjahren alle seine
Platten gekauft. Seine Texte haben mich fasziniert, aber auch seine
Musik. Ich fands einfach gut. Wie auch Frank Zappa. Die Beatles und
die Rolling Stones habe ich weniger gehört. Aber Dylan war für mich
auch musikalisch wichtig.
Gibt es da auch einen Bezug zum Jazz?
Schweizer: Ja, vor allem durch den Blues. Gerade auch seine Band, The
Band, war eine fantastische Gruppe. Die spielte sehr jazzig, sehr schwarz.
Auch der Free Jazz kam ja zur gleichen Zeit auf? Schweizer: Klar, mit
Archie Shepp, Ornette Coleman, mit dieser Oktoberrevolution in New York,
bei der Paul Bley dabei war, John Tchicai, Cecil Taylor. Das war eine
sehr wichtige Zeit. Ich glaube sowieso, dass es seit den Sechzigerjahren
nie mehr gleichzeitig so viel gute und verschiedene Musik gab. Die sind
einfach unschlagbar. Auch in der Popmusik, die damals von England kam,
dann Janis Joplin, Aretha Franklin, die Soul-Music mit Otis Redding,
Wilson Pickett, Stevie Wonder und so weiter. Das war eine richtige Flut
und alles sehr gut. Heute muss man ja lange warten, bis wieder etwas
kommt, das einen überhaupt interessiert.
Was bedeutet Ihnen Free Jazz im Rückblick?
Schweizer: Ich habe den Free Jazz in seiner Hochblüte erlebt, in den
Sechziger- und Siebzigerjahren. Ich möchte ihn nicht missen. Ich habe
sehr viel gelernt und sehr viel Kraft geschöpft in dieser Zeit. Die
war sehr wichtig für mich. Heute finden viele den klassischen Free Jazz
antiquiert. Fragt sich nur, ob Gruppen, die postmodernes Zeug spielen
oder Standards aus den Fünfzigerjahren, nicht auch antiquiert tönen.
Etwas eigentlich Neues gibt es ja seit zehn Jahren nicht mehr. Ich war
auch nie eine radikale Free-Musikerin. Reines Powerplay, nur energetisch,
das habe ich nie gemacht. Ich habe meinen Background mit den jazzigen
Elementen, mit denen ich aufgewachsen bin. Das hört man heute immer
noch.
Aber man spielt ja heute, dank dem Free Jazz, auch die traditionellen
Elemente ganz anders?
Schweizer: Klar, ganz genau. Es war sehr wichtig, dass es eine Periode
gab, in der man alles über Bord warf, die ganze Harmonik, die Rhythmik.
Man machte sauberen Tisch. Jetzt kann man es wieder hervorholen und
anders umgehen damit.
W as ist für Sie das Wesentliche des Jazz?
Schweizer: Es gibt Verschiedenes, aber für mich ist es das Rhythmische.
Und der Swing; das tönt vielleicht blöd, man wird dann immer den Jazzpuristen
zugeordnet. Aber diese bestimmte Art von Swing und Puls, die gibt es
in keiner anderen Musik.
Improvisieren, das ist immer auch Risiko?
Schweizer: Ja, das reine Improvisieren ist immer ein Risiko. Mit Han
Bennink zum Beispiel. Wir vertrauen einander, machen nichts ab, gehen
zusammen auf die Bühne, einer fängt an, aber wir wissen weiter nichts.
Da müssen beide natürlich in der richtigen Stimmung sein, dann läuft
es gut. Es kann aber auch sein, dass einer mal nicht so auf dem Damm
ist, nicht so viel Ideen und Punch hat. Dass es ganz in die Hosen gehen
würde, glaube ich zwar nicht, dafür haben wir beide zu viel Erfahrung.
Ist dieses Risiko eine Belastung für Sie?
Schweizer: Nein, aber eine Art Anspannung. Keine Belastung, im Gegenteil,
es törnt mich an. Wenn da eine Gruppe einfach ein Programm einübt und
das dann spielt im Konzert Ð sie wissen genau, wie sie anfangen und
so weiter Ð, das langweilt mich tödlich. Ich brauche das Risiko als
Kick; obwohl ich zwischendurch auch wieder feste Stücke spiele. Mit
Pierre Favre zum Beispiel, wir gehören zur gleichen Generation, haben
den gleichen Background, kennen die Geschichte des Jazz. Da kann ich
irgendetwas antönen und er weiss Bescheid. So macht es Spass, Musik
zu spielen. Dann wird das wirklich ein Dialog auf gleicher Ebene.
Üben Sie viel?
Schweizer: Es kommt drauf an, mit wem. Es gibt Leute, mit denen ich
sehr viel übe, mit andern wenig. Aber allein am Klavier übe ich eher
wenig. Mir ist auch die Technik immer weniger wichtig. Mir ist anderes,
das man nicht üben kann, wichtiger geworden. Man kann nicht Ideen üben
oder das Geschichtenerzählen.
Und zu viel Technik verhindert das Geschichtenerzählen?
Schweizer: Ja.
Was macht das Schlagzeug?
Schweizer: Das wird etwas vernachlässigt, leider. Ich habe zu wenig
Möglichkeiten, es zu spielen.
Ist das Schlagzeug für Sie eher eine Ausweitung des Klaviers, oder schafft
es eher Distanz zum Klavier?
Schweizer: Eher Distanz als Ausweitung. Ich habe ja praktisch gleichzeitig
begonnen mit dem Klavier und dem Schlagzeug, habe eigentlich immer parallel
gespielt. Man sagt mir ja auch, dass ich das Klavier sehr perkussiv
spiele. Das stimmt schon, das ist mir auch wichtig. Man hört die Verwandtschaft
mit dem Schlagzeug.
Ende der Achtzigerjahre haben Sie mal den Wunsch geäussert, sechs Duo-CDs
zu machen. Dieses Ziel haben Sie fast erreicht.
Schweizer: Ja, eine ist noch offen. Ich habe letztes Jahr mit Paul Lovens
gespielt. Das könnte die sechste Duo- CD sein. Aber entschieden ist
noch nichts.
Ihre neuste Solo-CD ist eine Aufnahme aus einem Klub in Chicago. Sie
waren offenbar zuerst nicht begeistert von der Idee dieser CD?
Schweizer: Das war ein Konzert in einem Klub. Ich habe es nicht für
eine CD gespielt. Aber das wurde aufgenommen, und ich kam mit der Aufnahme
zurück in die Schweiz. Ich gab es Intakt zum Hören, wollte aber nicht
eine CD machen. Dort fand man es toll. Ich war zuerst gar nicht begeistert.
Aber sie wollten auch etwas zu meinem 60. Geburtstag machen, meinten,
es sei eigentlich wieder Zeit für eine Solo-CD, die Letzte liegt ja
auch schon wieder fünf Jahre zurück. Und da fragte sich, wie treibt
man so schnell eine Solo-CD auf. Wir habens dann auch ein bisschen gekürzt
und umgestellt. Jetzt finde ich es okay.
Irène SCHWEIZER Eine führende Free-Jazz-Pianistin
Die Pianistin Irène Schweizer feiert am 2. Juni ihren 60. Geburtstag.
Sie ist in Schaffhausen aufgewachsen, begann mit zwölf Jahren zu spielen.
In den Sechzigerjahren zog sie nach Zürich und bildete mit Mani Neumeier
und Uli Trepte ihr erstes Trio. Prägend war für sie die Begegnung mit
dem südafrikanischen Pianisten Dollar Brand (heute Abdullah Ibrahim)
und mit dem Free Jazz; beide Einflüsse sind heute noch hörbar in ihrem
Spiel. Schweizer gehörte bald zu den wichtigsten Vertretern des Free
Jazz Ð und später des Feminismus Ð in der Schweiz. Unverwechselbar ist,
wie sie die Tradition des Jazz unangestrengt, aber sehr eigenwillig
in ihr Spiel einfliessen lässt. Ihre neuste CD ist eine Solo-Live-Aufnahme
aus Chicago (Chicago Piano Solo, Intakt/RecRec). Im Schauspielhaus Zürich
findet am 10. Juni (20 Uhr) ein Birthday-Concert statt. Irène Schweizer
spielt mit Pierre Favre; Laure Wyss und Zürichs Stadtpräsident Josef
Estermann ehren die Pianistin in Worten.
Sandro Stoll,
Schaffhauser Nachrichten, 17. Mai, 2001
Fulminantes
Plädoyer für die Neugier
«Ein Fest auch für Irène» soll
das Jazzfestival sien. Die Pianistin kerhte das Motto um: Sie sorgte
für ein Fest für die Zuhörer:
Irène Schweizer ist mehr als Schaffhausens berühmteste Musikerin.
Als Pianistin und Komponistin gehört sie zu den anerkanntesten
Musikerinnen des auropäischen Freejazz und der frei improvisierten
Musik überhaupt. Kein Wunder also, dass das grosse Publikum, das
sich gestern über Mittag im Oberlichtsaal des Museums zu Allerheiligen
einfand, bunt gemischt war: Politiker waren zu sehen, Kulturschaffende,
Gewerbetreibende, Manager, Medienvertreter darunter manche, die
dem Dialekt nach einen weiten Weg hinter sich hatten.
Die Einleitung zu
diesem besonderen «Lunchgespräch», das zugleich den
Auftackt zum 12. Schaffhauser Jazzfestival darstellte, war wohltuend
kurz und kompetent. Patrik Landolt, der wohl profundeste Kenner von
Irène Schweizer, übernahm die Aufgabe, ins Werk der Musikerin,
die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert, einzuführen.
Ringen um Autonomie
Wie alle bedeutende Kunst sei Schweizers Musik «aus dem Ringen
um Autonomie entstanden», meinte Landolt, der Irène Schweizer
als Journalist und Herausgeber ihrer Platten über 20 Jahre lang
begleitet hat. Resultat ihrer kompromisslosen Arbeit sei ein Werk, das
«zugleich erinnernd und innovativ» sei, ein Werk auch, das
wegen des Interesses der Künstlerin an gesellschaftlichen Veränderungen
«seismografische Qualitäten» habe.
Seismografisch nicht
besonders begabt musste man in der Folge als Zuhörer sein, um die
nach wie vor ungebrochene Energie der Pianistin Irène Schwezer
zu entdecken. Kraftvoll konzentriert, dunkel-perkussiv machte sich die
Pianistin, die das «europäische Instrument afrikanisiert
hat» (Ulrich Stock in der «Zeit»), ans Werk. Elegant
variierte sie die Intensität, leicht wechselte sie Rhythmen und
Stimmung und hielt dabei doch scheinbar mühelos Zusammenhalt und
Spannung ihrer Improvisationen. Drei Stücke bot sie dem Publikum,
Material der eben erschienenen CD «Chicago Piano Solo».
Zum Schluss ein Blues dann ein langer, warmer Applaus.
Rausgehen, zuhören
Die Reihe war jetzt an Stadtrat Thomas Feurer. Ein Satz, erklärte
Feurer in siener Rede, sei ihm während seinen Recherchen über
die Künstlerin Irène Schweizer hängen geblieben: «Go
out and listen» Irène Schweizers Aufforderung an
junge Musiker, so viel Musik wie möglich zu hören, am besten
hautnah, «live», und möglichst überall. «Go
out and listen» der Rat, neugierig zu seinund sich auf
Unbekanntes einzulassen ist auch ein gutes Motto fürs 12.
Schaffhauser Jazzfestival, das bis am frühen Sonntagmorgen noch
drei weitere Nächte voller Musik und Experimente bietet.
Tom Gsteiger,
Bund, 23. Mai, 2001
Die Wonnen der
Unabhängigkeit
JAZZ / Eine kraftvolle Poetin des freien Jazz ist Irène
Schweizer, die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert: Auf ihrem neuen
Soloalbum «Chicago Piano Solo» spannt die unerschrockene Pianistin einen
weiten Bogen von erdigen Melodiefetzen zu verspielter Abstraktion.
Ihre Bewunderung gilt nicht den gewieften Alleskönnern, die die Geschichte
des Jazz vor- und rückwärts buchstabieren können, sondern kauzigen Eigenbrötlern
und hellwachen Träumern wie Thelonious Monk, Misha Mengelberg, Don Cherry
oder Ed Blackwell. Da kann es nicht verwundern, dass die Pianistin Irène
Schweizer, die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert, den Jazzschulen
mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet: «Heute muss ich schon
staunen, wie schnell die Jugen lernen, aber mir fehlt dann halt auch
etwas, wenn sie spielen, es ist oftmals oberflächlich.»
Schweizer, die in ihren Anfängen Boogie-Woogie, Blues, Ragtime und Hardbop
gespielt hat und in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre zur Pioniergeneration
des europäischen Free Jazz stiess, hat sich ihr facettenreiches Vokabular
weitgehend autodidaktisch angeeignet. Das war ein langer, machnmal beschwerlicher
Weg des Anhörens und Ausprobierens, der sich allerdings gelohnt hat.
Was Schweizer spielt, hat Hand und Fuss, trägt auch dort eine persönliche
Handschrift, wo sie deutliche Anleihen bei Vorbildern wie Monk oder
Dollar Brand macht, und verliert auch dann nichts von seiner lustvollen
Dringlichkeit, wenn die Pianistin zu experimentellen Klangerkundungen
im Innern des Flügels aufbricht. Schweizer ist keine, die ihr Werk bis
in alle Verästelungen hinein analysiert, keine abgehobene Theoretikerin,
sondern eine unbekümmerte Pragmatikerin. Das heisst nun nicht, dass
sie einfach wild drauflos spielt, wohl aber, dass sie bereit ist, ihren
konzisen Gestaltungswillen zu suspendieren, um sich vom Moment mitreissen
zu lassen.
Zu zweit und zu dritt
Dies wird besonders deutlich, wenn sie sich als vorurteilsfreie Interaktionistin
betätigt. Eine Spezialität von Schweizer sind Duos mit Schlagzeugern
(zuweilen setzt sie sich selber gerne ans Schlagzeug, dem sie zwar beseelt,
aber auch reichlich amateurhaft zu Leibe rückt). Dem Label Intakt verdanken
wir Live-Aufnahmen aus den Jahren 1986 bis 1995, auf denen sie mit Louis
Moholo, Günter Sommer, Andrew Cyrille, Pierre Favre und Han Bennink
zu hören ist. Auf diesen Alben begeistert Schweizer mit Einfühlungsvermögen,
Einfallsreichtum und Kraft - dem Powerplay mit dem enorm physisch trommelnden
Moholo zeigt sie sich ebenso gewachsen wie den Traumtänzereien mit dem
verspielten Tüftler Sommer.
Eine wichtige Konstante in Schweizers Leben ist ihr feministisches Engagement,
sie gehörte zu den Geburtshelferinnen der Feminist Improvising Group
und der Europaen Women Improvising Group. Diese internationalen Netzwerke
haben wichtige Kontakte ermöglicht. Als künstlerisch besonders ergiebiges
Resultat dieser Frauensolidarität darf Schweizers Zusammenarbeit mit
der englischen Vokalistin Maggie Nicols und der französischen Kontrabassistin
Joëlle Léandere im Trio Les Diaboliques gelten. Das freche und aufmüpfige
Schaffen dieser Gruppe ist mit drei Intakt-Alben ebenfalls recht gut
dokumentiert.
Anstrengendes Single-Dasein
Abgerundet wird die sorgfältige Pflege, die das unabhängige Label Intakt
der Pianistin seit über einem Jahrzehnt angedeihen lässt, durch eine
Reihe vorzüglicher Solo-Produktionen. «Piano Solo Vol. 1 und 2» und
«Many And One Direction» wurden 1990 bzw. 1996 bei Auftritten in der
Alten Kirche Boswil aufgenommen, für kommenden Sommer ist die Re-Edition
der legendären Scheiben «Wilde Senoritas» und «Hexensabatt» aus den
Siebzigerjahren angekündigt und soeben ist «Chicago Piano Solo» erschienen.
Auf diesem Konzertmitschnitt vom Februar 2000 lässt Schweizer durch
ihre zupackende Herangehensweise die nicht über jeden Zweifel erhabene
Qualität des Flügels im Nu vergessen. Einmal mehr erweist sich Schweizerin
als Meisterin des Selbstgesprächs, sie verfügt über die nötige Konzentration,
um im freien Flug der Ideen nicht den roten Faden zu verlieren, aber
bleibt gleichzeitig locker genug, um nicht pedantisch zu wirken - ihr
gelingt als der Brückenschlag zwischen Konstruktion und Intuition. In
ihren atmosphärisch dichten «Instant Compositions» geht sie der Gefahr
der Verzettelung aus dem Weg, indem sie sich jeweils auf ein klar eingegrenztes
Sortiment ihrer Qualitäten fokussiert. Zusätzlich aufgelockert wird
das abwechslungsreiche und kurzweilige Album durch Schweizers Interpretation
eines Stücks des 1995 verstorbenen Don Cherry, mit dem sie die Fähigkeit
zur eigenständigen Assimilation unterschiedlichster Stile teilt.
Geburtstagsfeierlichkeiten
Über Auffahrt Vom 24. bis 26. Mai tritt Irène Schweizer mit drei verschiedenen
Formationen am Uncool Festival in Le Prese am Lago di Poschiavo auf,
nämlich im Duo mit Andrew Cyrille, im Trio mit Pierre Favre und Rüdiger
Carl und mit Les Diaboliques (mehr Infos unter www.uncool.ch oder Telefon
081 844 05 71). Am 1. Juni wird Schweizer auf Radio DRS 2 mit drei Sendungen
gewürdigt. Um 11 Uhr gibts ein Interview mit ihr in der Sendung Reflexe
(Wiederholung um 22 Uhr). Am Abend folgen ein Mitschnitt vom diesjährigen
Jazzfestival Schaffhausen, wo ein Duo mit Han Bennink auf dem Programm
stand (22.30 Uhr) und die Präsentation des Albums «The Storming Of The
Winter Palace» (23.30 Uhr). Das offizielle Geburtstagskonzert findet
am 10. Juni im Schauspielhaus Zürich statt. Schweizer wird mit ihrem
langjährigen Weggefährten Favre konzertieren (Vorverkauf: Telefon 01
265 58 58).
Christian
Rentsch, Tages-Anzeiger, 8. Juni 2001
Wilde Señorita
spielt Hexensabbat
Am 2. Juni ist Irène Schweizer, die weltweit renommierteste
Pianistin der europäischen Free-Szene, 60 geworden. Am Sonntag gibt
sie ein Geburtstagskonzert.
Seit vielen Jahren spielt sie Monk. "Aber eigentlich nur für mich allein",
korrigiert sie, "erst in den letzten paar Jahren wage ich, Stücke von
Monk auch in den Konzerten zu spielen." Überraschend, wenn jemand wie
Irène Schweizer das sagt, weltweit eine der besten Pianistinnen zwischen
Freejazz und frei improvisierter Musik, doch auch eine, die nicht kokett
auf falsche Bescheidenheit macht. Aber Irène Schweizer spielt eben nicht
Monk-Stücke, sie hat sich Monk angeeignet, ihn durch eigene Erfahrungen
analysiert, nicht bloss die berühmten Melodien, sondern sein Ringen
um den Klang.
Das hört man, wenn Irène Schweizer Monk spielt: Dass sie seine Klangsprache
kennt, seine Phrasierungen und seine haarsträubenden Melodiekonstruktionen;
und zugleich ist sie immer ganz sich selbst, mit ihrer ganzen 40-jährigen
Spielerfahrung, dem Freejazz der 70er-Jahre, mit Frauenmusik der 80er-
und der frei improvisierten Musik der 90er-Jahre. Irène Schweizer gehört
zu den ganz wenigen, die der Musik von Thelonious Monk wirklich eine
Facette abgewinnen und hinzufügen.
Am Anfang war Dixieland
Als Jazzmusikerin wird man nicht geboren, schon gar nicht im Schaffhausen
jener Jahre. Dixieland war noch das Beste, was Irène Schweizer im Saal
des Restaurants "Landhaus", das ihre Eltern führten, zu hören bekam.
Als Autodidaktin begann sie Klavier zu spielen, imitierte die Boogie-Woogie-
und Ragtime-Figuren, die sie aufschnappte.
Die eigenen Klavierstunden schienen keine bleibende Wirkung hinterlassen
zu haben, Irène Schweizer blieb eine Autodidaktin. Sie nahm die Mühen
auf sich, eine Sache selber zu ergründen, anstatt sie schnell auswendig
zu lernen und dann wieder zu vergessen. Auch das hört man: Dass Irène
Schweizer zu den Dingen, die sie sich angeeignet hat, ein völlig eigenes,
liebevoll kritisches Verhältnis hat, dass der Kampf um die Aneignung
seine Spuren hinterlassen hat.
Als Irène Schweizer 1959 mit den Modern Preachers am Amateur Jazz Festival
Zürich auftrat, hatte sie sich grad knapp den Hardbop angeeignet, viel
anders als bei Junior Mance und Horace Silver klang das nicht. Mit 20
ging die gelernte Sekretärin nach England und landete irgendwann in
London, im "Ronnie Scott's Club", dem legendären Jazzclub, wo damals
neben den grossen amerikanischen Namen vor allem die englische Modernjazz-Szene
zu hören war. Hier lernte sie englische Musiker kennen, gelegentlich
spielte sie mit den Saxofonisten Dick Morissey und Joe Harriott.
1962 kehrte sie in die Schweiz zurück, das war gleichsam der Anfang
der Eigenständigkeit. Mit dem Bassisten Uli Trepté und dem Schlagzeuger
Mani Neumeier, bildete sie ein Trio. Und dann geschah es einfach, gleichsam
die Geburt des Schweizer Freejazz: "Während einer Probe merkten wir,
dass wir alle drei eigentlich viel lieber frei spielen würden, jenseits
der konventionellen Harmonieschemen von Bebop und Hardbop, mit aufgelösten
Rhythmen." Aber sicher lag der Ausbruch aus dem Gefängnis der Funktionsharmonik
auch in der Luft.
Allerdings: In der Zürcher Jazzszene wurde der Streit zwischen Modern-
und Freejazz als eine Art Glaubenskrieg ausgetragen. Das Zentrum des
Streits war das legendäre "Africana", die düstere, kleine Jazzhöhle;
hier gab es neben viel Schweizer Swing und Mainstream und dem urigen
Blues-Pianisten Champion Jack Dupree auch hin und wieder Musiker der
neuen englischen Szene zu hören, die Exil-Südafrikaner Chris McGregor,
Johnny Dyani und Louis Moholo. Und Dollar Brand, dessen melancholische
Sehnsuchts für Irène Schweizer zu einer Art Eintrittspforte zum Freejazz
wurde.
Und dann kam, 1966, der definitive Kick: In Stuttgart hörte Irène Schweizer
den Pianisten Cecil Taylor, eine der grossen Vaterfiguren des schwarzen
Freejazz. Er war schon dort angekommen, wo Irène Schweizer erst hinwollte.
"Ich war derart beeindruckt, dass ich ernsthaft darüber nachdachte,
mit dem Klavierspielen aufzuhören." Aber dann hat sie es sich doch anders
überlegt. "Early Tapes", eine Aufnahme des Irène-Schweizer-Trios aus
dem Jahr 1967, zeigt die Pianistin unterwegs nach Anderswo, aber noch
nicht ganz angekommen. Eine Musik, die ein bisschen nach Dollar Brand
und Chris McGregor, ein bisschen nach Cecil Taylor klingt. Und ein bisschen
auch schon nach Irène Schweizer. Aber es wäre gelogen zu behaupten,
dass Irène Schweizer damals in Zürich viel mehr als ein paar Dutzend
begeisterter Zuhörerinnen und Zuhörer hatte.
Uneigennützig engagiert
Als das "Africana" zuerst verkam, dann seine Pforten schloss, spielte
Irène Schweizer hin und wieder in der "Platte 27", einem Club in einem
Abbruchhaus an der Plattenstrasse. Zusammen mit Remo Rau initiierte
sie die Musikerkooperative Modern Jazz Zürich, welche während Jahren
im "Hinteren Sternen" Konzerte organisierte. Das übrigens hat sie bis
heute beibehalten, ihr uneigennütziges Engagement für eine lebendige,
vielfältige Zürcher Jazzszene: Sie gehörte, was ihr von Seiten des Jazzpublizisten
Peter Rüedi den ehrenvollen Titel einer "Mutter Courage der Schweizer
Free-Szene" einbrachte, Ende der 70er-Jahre zu den Mitbegründerinnen
der Werkstatt für improvisierte Musik (WIM), Anfang der 80er-Jahre zu
den Initiantinnen der Fabrikjazz-Gruppe, des taktlos-Festivals, des
Zürcher Intakt-Labels, Ende der 90er-Jahre der Konzertreihen im Café
"Casablanca" und "Karl dem Grossen". Für Irène Schweizer immer auch
eine Gelegenheit, den Kontakt mit jüngeren Schweizer Musikern zu halten,
mit ihnen zusammen zu arbeiten und aufzutreten, mit der Saxofonistin
Co Streiff etwa, dem Saxofonisten Omri Ziegele, der Sängerin Dorothea
Schürch und vielen anderen.
Dennoch blieb die Schweiz für die Schweizer bis Mitte der 70er-Jahre
ein hartes Pflaster. Ihre ersten grossen internationalen Erfolge buchte
sie in Deutschland, an Joachim Ernst Berendts Berliner Jazztagen 1967,
im gleichen Jahr mit einem "Jazz meets India"-Programm an den Donaueschinger
Musiktagen, an den "Total Music Meetings" im Berliner "Quartier Latin".
Da standen die deutschen Freejazzer wie deutsche Eichen auf der Bühne,
die geschwellte Brust notdürftig von roten Hosenträgern zusammengehalten.
Und dazwischen Irène Schweizer, kräftemässig und musikalisch den deutschen
Eichen durchaus ebenbürtig.
Überhaupt: Mit starken Männern hatte sie, die Feministin, nie ihre Probleme.
Während sie Anfang der 80er-Jahre mit der Feminist Improvising Group,
mit der Bassistin Joëlle Léandre, der Sängerin Maggie Nicols, der Fagottistin
Lindsay Cooper und anderen, den Schritt vom Freejazz zur europäischen
frei improvisierten Musik probte, nahm sie eine Reihe von Platten mit
starken Männern auf, mit dem deutschen Klarinettisten und Saxofonisten
Rüdiger Carl, dem englischen Saxofonisten Evan Parker, dem Bassisten
Peter Kowald. Und in den 80er- und 90er-Jahren mit einer langen Reihe
grossartiger Duo-Aufnahmen mit verschiedenen Schlagzeugern, dem unberechenbaren
Emotionshaufen Louis Moholo, dem Gaukler Günter Sommer, dem Intellektuellen
Andrew Cyrille, dem Clown Han Bennink und, immer wieder, mit dem Philosophen
unter den Schlagzeugern, mit Pierre Favre.
Unverwechselbar
Neben diesen Duo-Aufnahmen und der umwerfenden Komposition "Theoria"
aus dem Jahr 1991, welche der britische Komponist Barry Guy für sie
und das London Jazz Composers' Orchestra schrieb, gehören aber vor allem
ihre Solo-Einspielungen zum Besten, was es von Irène Schweizer zu hören
gibt, von "Wilde Señorita" (1976) und "Hexensabbat" (1977) bis hin zu
den "Piano Solos" aus dem Jahr 1991, "Many And One Direction" (1996)
und zum eben erschienenen Konzertmitschnitt "Chicago Piano Solo". Da
ist alles drin, was ihre unverwechselbare Spielweise ausmacht: diese
grossartige Mischung von Kraft und Weichheit, von dichter, hoch energetischer
Musik und Klangfarbenspiel, von hoch virtuoser Pianistik und verspielten
Aktionen im Innern des Flügels, kristalline Formen, Schnitte, Brüche
einerseits und aufbrechende, explosive Clusterbögen. Und immer wieder
Anklänge an Thelonious Monk. Irène Schweizer, angekommen auf ihrem Weg
nach Anderswo.
Birthday Concert mit Pierre Favre im Zürcher Schauspielhaus, Sonntag
20 Uhr.
Nickl Liebmann,
Neue Zürcher Zeitung, 12. Juni 2001
Irène swingt
Birthday Concert von Irène Schweizer
Swing City Zurich nennt sich ein bevorstehendes Festival an der Limmatstadt.
Auch wenn die Wahlzürcherin Irène Schweizer mit dem Jazzstil, der sich
Swing nennt, kaum etwas am Hut hat, mutiert sie je länger, je mehr zur
«Swingerin». An ihrem Geburtstagskonzert hat die sechzigjährige Pianistin
wenig freie Musik gespielt, dafür umso mehr vital swingende Stücke von
Thelonious Monk, Paul Bley und Jimmy Giuffre interpretiert.
Das grösste Geburtstagsgeschenk
für die inzwischen weltbekannte Musikerin aus Schaffhausen dürfte der
Publikumsaufmarsch gewesen sein. Das Schauspielhaus war restlos ausverkauft,
unter den Anwesenden waren nicht wenige Persönlichkeiten, die man in
einschlägigen Zirkeln bisher kaum ausgemacht hat. Stadtpräsident Josef
Estermann charakterisierte Irène Schweizer als eine, die ohne Noten
Musikgeschichte geschrieben hat. Den im Zusammenhang mit der Jubilarin
oft verwendeten Ausdruck «First Lady of Jazz» relativierte er - sie
sei nicht die Erste, sondern einzig. Die Schriftstellerin Laure Wyss
zollte der Musikerin, die «spielend zum Weltformat erstrahlt» sei, sogar
ein noch grösseres Lob: «Ihre Töne bringen mir Worte.» Zürich sei reicher
und urbaner, weil Irène Schweizer hier wohne.
Seit dreissig Jahren
musiziert Irène Schweizer mit einem anderen Wahlzürcher, dem am gleichen
Tag (aber nicht im gleichen Jahr) in Le Locle geborenen Schlagzeuger
Pierre Favre. So war der einfühlsame Schlagwerker als Duopartner für
das «Zürcher Birthday Concert» geradezu prädestiniert. Während die freien
Passagen auf sublimste Weise faszinierten, die gegenseitige Telepathie
und die damit verbundene Präzision oft den Atem stocken liessen, spürte
man gleichzeitig eine gewisse Entfremdung. Während nämlich die Pianistin
immer mehr zum swingenden Time-Spiel zurückfindet und sich längst nicht
mehr scheut, über bekannte Jazz-Tunes zu improvisieren, erscheint das
metrische Spiel für den Schlagzeuger zu beengend. Favre, der jahrelang
als Schlagzeuger traditionelle Big Bands (wie die DRS-Band oder Max
Gregers Orchester) antrieb, scheint sich in diesem Idiom nicht mehr
wohl zu fühlen. Solche Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen
Entwicklungen tragen zur Faszination einer Musik bei, in der intelligenter
Diskurs als Tugend gilt. Hier hat Irène Schweizer Wesentliches geleistet.
Schauspielhaus am Pfauen, 10. Juni.
Blick, 12.
Juni 2001
Zürich
feierte Irène Schweizer
Zürich - Mit einer rauschenden Party wurde am Sonntag
der 60. Geburtstag der grossen Jazzpianistin Irène Schweizer (Bild)
gefeiert. «Irène Schweizer hat Musikgeschichte geschrieben», sagte Stadtpräsident
Josef Estermann (53) im Zürcher Schauspielhaus. Die eigentliche Geburtstagsrede
hielt die Schriftstellerin Laure Wyss (88). Irène Schweizer bedankte
sich mit einem einstündigen Duokonzert, zu dem sie den Schweizer Schlagzeuger
Pierre Favre (63) geladen hatte
Urs Burderer.
Berner Zeitung, 12. Juni 2001
Irène Schweizers
Geburtstagskonzert
Freiheit, gemischt
mit Kontrolle
In einer Stunde
zeigte sie die Summe ihres Schaffens: Mit einem sehr souveränen Auftritt
im Zürcher Schauspielhaus feierte Irène Schweizer, die Pionierin des
Schweizer Free Jazz, ihren 60. Geburtstag.
Es war ein grosser
Geburtstag und eine geheime Galanacht des Schweizer Jazz. 600 Leute
fanden am Sonntag den Weg ins ausverkaufte Schauspielhaus Zürich, wo
die Pianistin Irène Schweizer, die vor einer Woche 60 Jahre alt wurde,
im Duo mit dem Schlagzeuger Pierre Favre auftrat. Was Anlässe dieser
Art sonst so unsympathisch macht, fehlte: das wirklichkeitsverfremdende
Fernsehen, die Ersetzung des Inhalts durch Blabla und die grinsenden
Gratiscüpliträger.
Obschon, Reden wurden
schon gehalten. Der Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann und die Schriftstellerin
Laure Wyss lasen ihre Gratulationsworte auf die Meisterin der freien
Improvisation ab und erwiesen sich damit nicht als Meister der freien
Rede. Doch ihr Lob war aufrichtig. Immer schon habe Irène Schweizer
alles selber verstehen wollen, sagte Estermann. Sie habe sich durch-
und freigespielt zur improvisierten Musik. Der Titel «First Lady des
europäischen Free Jazz» sei unpassend, weil sie nicht die erste sei,
sondern die einzige.
Laure Wyss bezeichnete
die Pianistin als geheime Förderin ihrer eigenen Produktion: «Ihre Töne
bringen mir Worte.» Schweizers Qualitäten seien echtes Handwerk, hohe
Konzentration, Unerbittlichkeit. Zürich sei eine reichere, urbanere
Stadt, weil die gebürtige Schaffhauserin hier wohne, sich hier anfassen
und auch in Gespräche ziehen lasse, etwa über Feminismus. Und dann beschrieb
sie die Veränderung der Musikerin: Bescheiden, fast ein bisschen grau
wirke sie vor ihrem Auftritt, doch beim Spielen werde aus ihr eine Musikerin,
die zu Weltformat erstrahle.
Geburtstagskinder
im Duo
Als Schweizer und Favre die Bühne betraten, fing das Publikum (vor
allem das weibliche) an zu singen: «Happy Birthday to You.» Worauf die
Gemeinte verriet, dass sie Pierre Favre nicht nur deshalb zu diesem
Konzert eingeladen habe, weil er seit dreissig Jahren und damit ihr
ältester musikalischer Partner sei, sondern auch, weil er am selben
Tag Geburtstag habe wie sie.
Und nach so viel
rührender Seligkeit geschah, was Laure Wyss vorausgesagt hatte. Zwei,
drei kristallklare pianistische Tupfer von ihr, ein Beckensausen von
ihm, und schon hatten die beiden im blinden Flug zueinander gefunden.
Eindrücklich, wie viel Nähe sie im improvisierten Spiel aushielten,
ohne einander eng zu machen. Irène Schweizer hatte die Zügel fest in
der Hand. Sie schien genau zu wissen, wo sie hin wollte, nur den Weg
dorthin entdeckte sie jeweils neu. Wo die Grenze zwischen frei und komponiert
verlief, war kaum je zu sagen, obwohl die Pianistin stets sehr klar
und transparent spielte. Das Zögern, Suchen findet bei ihr nicht mehr
auf der Bühne statt.
Das Piano als
Schlagzeug
Das Duo kam ohne Mikrofon aus. Das geht, wenn einer wie Favre am
Schlagzeug sitzt, der so sehr auf den Klang seines Instruments hört.
Er gehört auch zu den Wenigen seiner Zunft, die mit einem weit über
das Notwendige hinaus bestückten Drumset umzugehen wissen.
Cecil Taylor soll
einmal gesagt haben, man könne das Klavier auch als 88-teiliges Schlagzeug
spielen. In den Augen Irène Schweizers ist das natürlich eine Untertreibung:
Für eine Nummer griff sie, die gelegentlich auch als Schlagzeugerin
auftritt, zu einem Paar Schlegel und traktierte für einen irrwitzigen
perkussiven Dialog nicht nur die Tasten, sondern auch die Saiten, den
Deckel und die Wände des Flügels. In wenig mehr als einer Stunde zog
die Pionierin des Free Jazz in der Schweiz eine Summe ihres Schaffens:
Nirgends ein Anflug von Exzess oder Experiment. Von den Freiheiten der
Form und der Technik ist übriggeblieben, was vor dem abgeklärten Altersurteil
noch musikalischen Sinn macht, und das war an diesem Abend eine einzigartige
Mischung von sehr viel Freiheit und sehr viel Kontrolle. Kurz: Es war
ein grosser, souveräner Auftritt.
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