INTAKT RECORDS
Lucas Niggli Big Zoom

Peter Weber. Liner Notes. Intakt CD 083 (deut. + engl.)


Ranken, Phrasen, blaue Blüten: Alles entwächst dem Unterholz

Phoenix: Der Setzling spriesst unter Flöten, im Irgendwo, erste Wurzelspitzen im schwarzen, noch rauchenden Boden, im einst überfetteten, jetzt brachgefallenen Achzigeracker, bekrochen von blinden Schleichen, Tausendasseln, ein Nährboden für hellgrüne Sprossen, schnell greifendes Wurzelwerk gräbt sich durch die Aschfetzen, kleines Buschwerk rankt sich, wurmt sich hoch: Freche Wicken, sich windend, bestückt mit Flageolettblättern, die sich schrill auffächern, aber auch glänzendes, prächtiges Gefieder: Drosseln, Elstern, Perlhühner, dahinter die wohlbekannten Elefanten, Rüssel und Tröten, weitere eigentlich ausgestorbene Dickhäuter auf fernem Trott, während die Raubtiere auf schwarzen Pfoten ihre Schleichwege ziehen, sprungbereit Ð wieder Wicken, sich windend, sie murmeln sich zu Stauden, ein ganzer Mischwald entsteht, kaum entstanden, steht er in Flammen, es knistert unentwegt im Unterholz, denn der Schlagzeuger spielt mit Zünd- oder Schwefelhölzern, legt alles wieder in Asche.

Big Zoom beginnt jeden Auftritt frei, wie ich erfahre, um die Raumtiefen auszuloten, die Gegenwartschemie zu brauen, in der Augenblicksschmiede. Sobald die Instrumente vermählt sind, werden die geschriebenen Motive angespielt. Phoenix setzt dort an, wo ich mich Ende der achziger Jahre heimisch fühlte, bei den Neuralgien, im Flimmerbereich, bei den Flageolettranken. Die populäre Musik der späten achziger, frühen neunziger Jahre: In prärepetitiver Staulage, unerlöst, in alle Richtungen schlagend, ohne Gestalt zu finden, Melodien drehten im Leeren, ohne sich zu erneuern, submonotone Schwere, düster, plastifiziert, ohne Eleganz, so meine Erinnerung, es war eine Schwellen- und Übergangszeit, aus der man sich rettete, indem man mit allen Konventionen brach, sich ins Freie schlug: In der Plötzlichkeit, ins Unvorhergesehene eben. Wiederholung galt es zu vermeiden, Repetition wurde als regressiv empfunden, Progressionen sah man in der Steigerung ins Individuelle, vieldeutig Schillernde. Aber auch die freie Musik begann sich zu wiederholen, erkältete sich an sich selber, wurde idiomatisch, damit vorhersehbar.

Als ich Lucas Niggli Ende der achziger Jahre in der Werkstatt für improvisierte Musik begegnete, liess er sich in kein Korsett und keine Konvention packen, er war ein Flimmerling, der streng ab Blatt und am Puls spielte, ohne sich um Einschränkungen zu kümmern, ein heller Erzähler ohne Berührungsängste, der sich selber hinterwirbeln konnte. «Zwingli. Möckl. Gloor. Tanner. Abderhalden. Kielholz. Niggli. Escher. Bösch. Grundsätzlich sind wir nervös», stand auf einem Flugblatt zu einem Auftritt mit seiner damaligen Formation Kieloor entartet im Moods im Dezember 1993, zu dem ich aus meinem ersten Roman las. Man war absichtsvoll unberuhigt. Kieloor entartet spielte ironiegesteuert, schnitt streng ausgeschriebene, atonale Passagen in die freien Flächen, Sangliches stand neben Funk und Tanz. Die Konzertlesung stand ganz im Zeichen der Überlagerungen, schriffer Schnitte, der Stilvielfalt. Wenig später stand ich an einem Tanzanlass neben einer mannshohen Boxe, im neuen Wellenbad: rein repetitive elektronische Musik, sie bestand aus Basspulsen und giftigen treibenden Obertonschlaufen: progressive acid, verstörend gegenwärtig, nervennah. Ein Paradigmenwechsel: Plötzlich wurde Wiederholung stilbildend, der einfachste Rhyhtmus prägend.

Es waren die Flageolettschweife, die von der improvisierten in die repetitive elektronische Musik hinüberführten, in die neuen Borduntonweiten, vom Unvorhergesehenen ins Vorhersehbare somit, wo Einzelne hinter Plattentellern ganze Keller zum Kochen brachten, während die «gespielte» Musik an Boden verlor; zu teuer wurden die spielenden Musiker, und sie waren weniger präzis und pflegeleicht als die Rechner; viele Formationen lösten sich auf. Eine melodielose Zeit brach an, die Jahre der Monotonie, sie haben die Hörlandschaften verändert, untilgbar Viervierteltakte gefurcht. Das Einsilbige, Eindeutige, das streng Metrische setzte sich durch. Auf den Bildschirmen hat sich die elektronische Musik dem Auge doppelt anverwandelt, sie ist sichtbar geworden und in den Wiederholungen vorhersehbar. Ich erlebte diesen Wechsel als Verengung und Erweiterung zugleich, war von der neuartigen Unmittelbarkeit überwältigt. Die in der elektronischen Musik vorkommenden Textreste waren imperativistisch: Aufforderungen zur Körpersprachlichkeit, zur Kollektivität.

Wie hat ein Schlagzeuger die Schwellenzeit zwischen analog und digital überdauert, wie komponiert er zehn Jahre später, auf der anderen Seite der grossen Digitalblase, und von einem «starren» Instrument aus, für das es kaum zeitgenössische Literatur gibt, das von den Drummaschinen ersetzt, ja überstampf wurde? Er spricht unverdrossen vom Schlagzeug aus, denkt in Wirbeln, in Silben, sprengt auf, schafft seinem Instrument Atem. Er schreibt Musik auf dem Reisbrett und aus dem Mund heraus, aus dem Gesang, aus der Bewegung. Er probt vor seinen drei Kindern, die ihn zum Tanzen bringen. Er bedient sich freimütig, nach eigenem Geschmack und Gefallen: was groovt, ist gut. Er benutzt keinerlei Elektronik, stellt eine Formation aus den wendigsten Musikern zusammen, die frei und ab Blatt, jede Flüssigkeit und jeden abstrakten Apparat spielen können und durch Verschmolzenheit überzeugen. Niggli rhythmisiert die Tonfolgen, lagert sie seinem Schlagwerk vor, spielt dirigierend hnter den Bläsern, dem Bass und der Gitarre, steuert mit Finesse, mit Druck und Wut. Es entsteht Musik, die sich aus sich selber schält, durch sich hindurch läuft, sich laufend transformiert, aus sich heraus wächst, Höhe gewinnt, Brücken übers ganze zwanzigste Jahrhundert spannt. Indem sich Niggli rückbesinnt auf unterschiedlichste Strömungen und sie zusammenströmen lässt, greift er vor.

Phoenix durchmisst Jahrzehnte, überbrückt die gläsernen neunziger Jahre leichterdings: Aus dem versengten Unterholz steigt Qualm in Schwaden, die Bläser blasen Balsam und Trost, blasen blaue Ferne, Linien, ihnen stickt sich die Gitarre unverwüstlich entlang, als hätte sie nie aufgehört zu spielen, wie Ahnungen stehen sie über den rauchenden Rodungsflächen, Melancholien, die Bläser blasen Wolken und warme Ballone, wahscheinlich über gläsernen Städten, weisen den Weg in den nächsten Dschungel, der Ð wie wir wissen Ð zwischen Glasbauten spriesst. Niggli liebt komplexes Gehölz, baut Treppenmelodien, Leitern und Stiegen, um die höherliegenden Beeren zu pflücken, errichtet ein filigranes Leiterwerk, das in die Baumkronen führt, über die Wipfel. Die Musiker besteigen die bereitgestellten Reisekörbe, Bass und Schlagzeug bewegen die Luft, die Bläser werden solierend ins Licht entlassen, ins Heiterhelle, in die treibenden und ziehenden Winde, die triolischen Himmel, wo gute Musik immerwährend fliesst. Wir entschweben gerne und landen bei den bereitgestellten Treppen. In der Gegenwart.

Mengelberg. Schönberg. Wittwer. Pliakas. Blum. Favre. Parker. Schweizer. Puntin. Wogram. Schaufelberger. Herbert. Niggli. Big zoom: Grundsätzlich spielen sie alles: Wunschranken, Baumschulen, Tiere, Wolken, wilde Winde. Alles entwächst dem Unterholz. Der Achzigeracker lebt. Und treibt seine Blüten im neuen Jahrtausend.

Peter Weber, 2003

 

 

 

Tendrils, Phrases, Blue Blossoms:
Everything Grows from Undergrowth

Phoenix: The seedling sprouts from under flutes, in some somewhere, the tips of first roots in black, still smoking ground, in the once overgrown, now fallow eighties field crawled over by blind worms, millibugs, a breeding ground for bright green sprouts; quickly spreading roots dig through bits of ash; small bushes grow, worm their way up: cheeky vetches, winding round, armed with flageolet leaves that shrilly fan out - but also brilliant, splendid plumage: thrushes, magpies, guinea fowls, behind them the well-known elephants, trunks and trumpetings, and more actually extinct pachyderms trotting in the distance while on their black paws the predators go down their secret paths, ready to pounce - vetches again, winding round, murmuring till they are bushes; a whole mixed forest is born, just born and already in flames, crackling incessantly in the undergrowth, for the drummer plays with matches, turns everything back into ashes.

Big Zoom begins every concert with free improvisation, they tell me, in order to sound out the depths of the room, to brew the chemistry of the present, in the forge of the moment. As soon as the instruments are wedded, the written motifs begin to be played. Phoenix starts where I felt at home at the end of the eighties, with neuralgias, in flickering areas, with flageolet tendrils. The popular music of the late eighties and early nineties: in pre-repetitive gridlock, unredeemed, beating in every direction without taking shape, melodies spinning on in emptiness without renewal, submonotone heaviness, somber, laminated, inelegant - that's how I remember it; it was a time of thresholds and transition; one escaped by breaking every convention, by heading into the open: into every suddenness, into the unforeseen, that is. Repetition was to be avoided; repetition was considered regressive; progressions were found by heightening things into what was individual, what was ambiguously shifty. But even free music began to repeat itself; it caught its own cold, became idiomatic - and thus foreseeable.

When I met Lucas Niggli at the end of the eighties in the workshop for improvised music, he could not be put into any straitjacket or convention; he was a flickerer who could both rigorously sight-read and play on the pulse without worrying about limitations, a shining narrator with no fear of contact, getting behind himself with every drum roll. "Zwingli, Möckl, Gloor, Tanner, Abderhalden, Kielholz, Niggli, Escher, Bösch. We are nervous on principle," was written on a flyer for a concert in Moods in December 1993 with his band back then, Kieloor entartet, where I read from my first novel. One was intentionally not calm. Kieloor entartet was a band steered by irony, cutting entirely written, atonal passages into the free areas, singable stuff alongside funk and dance. The whole concert-reading was colored by combinations, abrupt cuts, the variety of styles. A little later, I stood beside a speaker as tall as I was at a dance event, at the new swimming pool with the artificial waves: completely repetitive electronic music made up of bass pulses and garish, driving overtone loops - progressive acid, distressingly present, close to the nerves. A paradigm shift: suddenly, repetition began to shape a style, the simplest rhythm became its determining characteristic.

Flageolet wanderings showed the way from improvised music to repetitive electronic music, to the new, drawn-out drones, from the unforeseen into the foreseeable, that is, where individuals behind turntables could make whole basements cook, while "played" music lost ground; players became too expensive, and they were less precise and harder to take care of than computers; many bands broke up. An age without melody began, years of monotony, changing the landscapes of listening, furrowing indelible four-four time. The monosyllabic, the unambiguous, the strictly metrical took over. On the screens, electronic music turned toward the eye in two ways: it became visible and, in its repetitions, foreseeable. For me, this change was both a restriction and an opening; I was overpowered by the new immediacy. The remnants of text appearing in electronic music were imperatives: calls for a bodily language, for collectivity.

How did a drummer survive the transitional period between analogue and digital; what does he compose ten years later, on the other side of the great digital bubble, and on a "stiff" instrument that has hardly any contemporary literature, which has been replaced, even stamped out, by drum machines? Undaunted, he speaks from the drums, thinks in rolls, in syllables, breaks out, catches breath for his instrument. He writes music on the drawing board and from his mouth, from song, from movement. He practices in front of his three children, who make him dance. He happily serves himself from what he likes and what he enjoys: whatever grooves is good. He uses no electronics at all, forms a band of the most nimble musicians, who can play free and sight-read, who can play any fluid and any abstraction, and who are convincing because of how they melt together. Niggli makes rhythms out of sequences of notes, sets them up on his drums, uses his playing to conduct behind the horns, bass, and guitar, and steers with finesse, with pressure and fury. The music thus created peels out of itself, runs through itself, constantly transforms itself, grows out of itself, lifts off, puts up bridges across the entire twentieth century. By returning to radically different currents and flowing them together, Niggli moves forward.

Phoenix traverses decades, easily bridges the glassy nineties: clouds of smoke rise from the scorched undergrowth; the horns blow balsam and comfort, blow blue distance, lines; the guitar inexorably embroiders alongside them, as if it had never stopped playing; like premonitions they hover over smoking clear-cut areas, over melancholies; the horns blow clouds; warm balloons, probably over glassy cities, show the way into the next jungle, which - as we know - shoots up between glass buildings. Niggli loves complex thickets, builds stair-step melodies, ladders and stairs to pick the higher berries, erects filigreed ladders up into the crowns of the trees, over the treetops. The musicians mount the waiting trunks; bass and drums move the air; the horns are set free in the light to solo, into the joyous brightness, into the driving, blowing winds, the triplet sky, where good music constantly flows. We love wafting away and landing at the waiting stairs. In the present.

Mengelberg. Schönberg. Wittwer. Pliakus. Blum. Favre. Parker. Schweitzer. Puntin. Wogram. Schaufelberger. Herbert. Niggli. Big Zoom - on principle they play everything: dream tendrils, tree nurseries, animals, clouds, wild winds. Everything grows from undergrowth. The eighties field lives. And blooms in the new millennium.

by Peter Weber. Translation: Andrew Shields