PIERRE
FAVRE. EUROPEAN CHAMBER ENSEMBLE. INTAKT CD 062
Tänze im magischen Dreieck
Schlagzeuger
Pierre Favre spielt auf seinem European Chamber Ensemble. Eine traumhafte,
verspielte Musik zwischen Jazz, Folklore und Welt-Perkussion.
Der 63-jährige Schlagzeuger
und Perkussionist Pierre Favre, einer der grossen Alten der modernen
Schweizer Jazzszene, ist keiner, der mit lautstarken, wilden Rhythmuskanonaden
von sich reden macht; er ist ein Meister der leisen Töne, der feinen
Klänge und diffizilen Farben. Wer ihm zuschaut, wie er seine Trommeln
und Pauken rührt, seine Gongs und Becken mit Stöcken, Schlegeln und
Besen, mit Stricknadeln, Reisigbesen oder einem Geigenbogen traktiert,
streicht und streichelt, der denkt wohl eher an einen Maler oder Tänzer
als an einen Schlagzeuger. Noch mehr drängt sich, und das gerade in
Solokonzerten, ein anderes Bild auf: Pierre Favre als Dirigent, als
Bandleader seines riesigen Perkussions-Arsenals. Er mischt die Rhythmen
und Klänge seines Schlagzeugorchesters, er holt aus seinen Instrumenten
das, was in ihnen drinsteckt, er rückt Klänge in den Vordergrund, konfrontiert
sie mit überraschenden Hintergründen, organisiert den Fortgang, den
grossen Bogen. Mit dem European Chamber Ensemble, mit dem er 1998 erstmals
am Jazzfestival Willisau auftrat, erweitert Pierre Favre nur, was schon
in seinen Solokonzerten angelegt ist. Weniger aus zahlenmystischen als
musikalischen Gründen hat Favre anfänglich mit einer eigenwilligen 3x3-Formel
experimentiert: Den beiden nicht ganz deckungsgleichen Dreiecken Rhythmus,
Melodie und Harmonie - oder Klassik, Jazz und Welt-Perkussion - hat
er drei Trios mit drei Streichern, drei Bläsern und drei Rhythmikern
zugeordnet. Die Musik aber, die so entstanden ist, und vor allem die
Musiker, die sie zum Klingen brachten, haben die strenge Formel relativiert,
modifiziert und korrigiert. Inzwischen, so auch für die vorliegenden
CD-Aufnahmen, spielt Favre sein 3x3-System, wie Sportreporter wohl sagen
würden, mit einer 4x2-Besetzung: Zwischen den zwei klassischen Streichern
(Karel Boeschoten, Violine; Marius Ungureanu, Viola), den zwei Jazz-Bläsern
(Roberto Ottaviani, Saxofon; Michel Godard, Tuba, Serpent) und den zwei
Perkussionisten (neben Favre sein Freund und Meisterschüler Lucas Niggli)
vermitteln der Bass von Pierre-François Massy und der Gitarrist Philipp
Schaufelberger sozusagen als Liberos. Das alles ist blosse Theorie;
denn natürlich geht es Pierre Favre um lebendige Musik und nicht um
die Vertonung von Konzepten: In seinem eigenen, eigenwilligen und durchaus
etwas entrückten Klangkosmos gelten keine sturen Regeln. "Ich höre Musik
aus verschiedenen Kulturen", sagte Favre, "aber ich wahre eine gewisse
Distanz." Was zählt, sind nicht Stile, sondern das, was er in 45 Jahren
eigener Spielpraxis gehört, entdeckt und erarbeitet hat, was zu seiner
eigenen, individuellen Klangsprache geworden ist. So hat Favre eine
Reihe von Melodien geschrieben, in denen Spätbarock, Klassik und Folklore
ebenso anklingen wie Jazz und die europäische Moderne. Aber es bleibt
beim Anklingen; die unterschiedlichen Spielweisen und Herkunftspartikel
verschmelzen zu einer sanften, zum Teil durchaus meditativen, und oft
wunderschön melodieseligen Musik. "Die Berufsbezeichnung Komponist hat
für mich etwas Lächerliches", sagt er verschmitzt, "der Klang des Wortes
lässt mich an Prokurist denken." Und: "Vielleicht bin ich in dem Sinn
Komponist, wie man sagt, ein feines Menü komponieren. Ich stelle zusammen,
kombiniere, richte an und mache, dass es schmeckt." Vor allem aber schreibt
Favre auch für seine Musiker. Sie sind grossartige Improvisatoren zwischen
Jazz, Folklore und Neuer Musik. Favre und Niggli dirigieren das Geschehen
aus dem Hintergrund, ihre wunderbar melodische Perkussionsmusik ist
diskret und bleibt dennoch das geheimnisvolle Gravitationszentrum, um
das alle Rhythmen, Melodien und Klänge sich drehen und tanzen. Ein leises
Meisterwerk.
Christian Rentsch,
Tages Anzeiger, 24. Januar 2001 http://www.tagesanzeiger.ch
Best of 2000. Jazz
Der Meisterperkussionist aus
Le Locle bringt nicht «nur» seine Trommeln zu Singen. Umgeben
von sieben individual-Instrumentalisten aus ganz Europa, breitet er
eine Klanglandschaft voller Lyrik und Sehnsicht aus. Dass ihm dabei
der Schalk im Nacken hockt, versteht sich von selbst.
Frank von Niederhäusern,
Radiomagazin, 52/2000
Significant Proportions
European classical concepts collide head-on with the African art of
percussion in a richly textured recording led by Pierre Favre. The Swiss
percussionist units with felow percussionist Niggli in establishing
the talkiing drum motif as the foundation for the European Chamber Ensemble's
broad-based and expressive adventure into rhythmic territory. this group
is neatly balanced with strings, brass, and reeds complementing the
percussive beat in a most unusual manner, yielding a collective sound
that brings out diverse cultural elements. While Favre manipulates his
enormous array of exotic cymbals, gongs, bells, triangles and drums,
Ottaviano soars on high on soprano and Godard puffs mightily and inventively
into his tuba. This builds a scenario for the strings to blur the continental
lines with their defined chamber intensity. Open-ended improvisation
is as much a part of the program as structure, and all hands periodically
speak in unstructured tongues.
Favre authored the entire program, providing exciting segments where
the strings of Boeschoten, Ungureanu, and Massy fill the air with composed
tonality while the horn players imprvise around them. Guitarist Schaufelberger
also plays a unique roll, producing improvised flights more identifiable
with this side of the Atlantic. Interesting images emerge from the tunes.
When the drums are quiet, the strings brood moodily with heavy tension
abounding; then the drums begin to speak, the honrs rise up, and all
life seems fresh and new. The congenial sparring between Ottaviano and
Schaufelberger contrasts with sements where structure is more closely
defined, yet these alternating currents make up much of the recording's
appeal. While the music is not morose, there is cerainly a sense of
weightiness to it. Favre has managed to find a common ground between
free expression and composition, and the result is an album of significant
proportions. It yields new rewards with each new listening experience.
Frank Rubolino, Cadence Magazine, April 2001, New York, USA
Pierre Favre is not only one of the most musically minded freelance
drummers in modern jazz yet also leads the charmingly inventive quartet
known as ÒSinging DrumsÓ. And with his latest endeavor titled European
Chamber Ensemble, the maestro extends his quartet with the addition
of a dual string section, guitar and bass. Favre and fellow percussionist
Lucas Niggli steer the octet through a series of thoroughly memorable
pieces that serve as paradigms for predominately contrasting elements.
Yet the leaderÕs visions once again are put to realization through the
musicianÕs sympathetic passages and expertly articulated soloing. On
ÒAmarcord DÕ Un RossÓ, the percussionists surge onward via booming patterns
and suspenseful developments! However, the strings pronounce a lofty
presence with sonorous melodies amid tuba master Michel GodardÕs pumping
lines as the musicians skirt chamber-like austerity while melding propulsive
rhythms along with various discourses and frenzied modern jazz style
mayhem. Basically, the band takes the listener to forbidden regions
as a sense of mystery or drama prevails atop the often-fertile undercurrents,
intricately executed rhythms, poignant choruses and free-style improvisation.
Hence, vigor and cunning interplay along with sprightly call and response
dialogue by electric guitarist Philipp Schaufelberger and saxophonist
Roberto Ottaviano also mark this deeply stylized presentation, brimming
with stately themes and lucid explorations. All in all, Pierre FavreÕs
European Chamber Ensemble is a momentous achievement. - A top pick for
2000! * * * * * (Out of * * * * *)
Glenn Astarita,
All About Jazz, Jan 2001.
Licensed with permission from AllAboutJazz.com. Copyright © 2001 All About Jazz and Glenn
Astarita
WORLD OF MUSIC
Wie Pierre Favre vom Leben erzählt
Sie singen und tanzen durch europäische Landschaften. Mit seinem «European
Chamber Ensemble» entfaltet Pierre Favre einen weiten Prospekt des Klingenden.
Er hat in einem langen Prozess über die intensive Auseinandersetzung
mit der Jazztradition, mit freier Improvisation zwischen Powerplay und
differenzierter Auslotung von Schwingungen, durch die Beschäftigung
mit anderen Kulturen und unterschiedlichen Verfahren des Komponierens
zu einer eigenen Musiksprache gefunden. Von einem Drummer, der die Zeit
vorzugeben hat, entwickelte er sich zu einem Künstler, der frei und
verantwortungsbewusst mit der Zeit umzugehen weiss. Von der Rolle des
Schlagzeugers ausgehend, fand er einen Weg, der ihn als Perkussionisten
in ein klangrhythmisches Universum versetzt. Mit dem neuen Album «European
Chamber Ensemble» (Intakt CD 062) legt er nun ein Meisterwerk einer
im konventionellen Sinne nicht mehr zu kategorisierenden Kammermusik
vor.
Pierre Favre fasziniert mit Kompositionen, die seiner Erfahrung als
Improvisator entspringen. Das ist nur auf den ersten Blick oder beim
oberflächlichen Hinhören ein Widerspruch. Favres Melodien fliessen,
oft angestossen von rhythmischer Motorik, in unkonventionellen Bahnen.
Und die Binnenstruktur seiner Stücke öffnet immer wieder Freiräume für
die Kunst, den Moment auszugestalten, den vorgeplanten Prozess zu verändern.
Pierre Favre gilt als einer der klangsensibelsten Perkussionisten. Eines
seiner Projekte nannte er «Singing Drums». Doch was sich anfangs als
reine Perkussionsgruppe formierte, wandelte sich in ein Quartett mit
zwei Bläsern und Pierre Favre und Lucas Niggli als zweitem Perkussionisten.
Nun sind Violine, Viola und Bass sowie Gitarre hinzugekommen. Die Besetzung
ist überschaubar, ermöglicht dichte Interaktionen. Und sie erlaubt,
in unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen ein erstaunliches Spektrum
orchestraler Klangfarben auszuschreiten.
Favres Kompositionen sind von einem perkussionistischen, einem Rhythmus
und Klang integrierenden Denken geprägt. Auch wenn die Schlaginstrumente
das Geschehen vorantreiben, es geht ihm nicht um die Dominanz der einen
durch die anderen, sondern überwiegend um die Integration der beteiligten
Spieler. Wunderbar, wie sich Perkussions- und Streicherklänge überlagern,
wie die Gitarre mit zuweilen sogar rockigen Assoziationen aufhorchen
lässt und die beiden Bläser mit ihren Melodielinien in das Ganze eingewoben
werden. Der Saxofonist Roberto Ottaviano erweist sich wieder einmal
als der grandiose Melodiker. Und Michel Godards Spiel auf Tuba und Serpent
ist so unverwechselbar, dass Pierre Favre wohl weder anders wollte noch
konnte, als seine Art des Spiels bereits im Prozess des Komponierens
mitzudenken. Lucas Niggli war einst Schüler von Pierre Favre und sitzt
nun gleichberechtigt neben dem Meister. Favre spricht von einem «Verhältnis,
das von Grosszügigkeit geprägt ist». Nur wer so weiträumig und so grosszügig
denkt, vermag wohl integrativ und zugleich inspirierend zu wirken. Befragt
nach seinen Kompositionsmethoden, gab Pierre Favre einmal zu Protokoll:
«Manchmal entsteht eine Komposition aus einem Rhythmus, manchmal komponiere
ich am Piano, es kam auch schon vor, dass ich auf einer Reise ein Thema,
das mir zugefallen war, ins Diktafon gesungen habe. Es gibt Zeiten,
da muss ich Stücke schmieden, ich muss mit Kraft und bei grosser Hitze
die Substanz herausschlagen. Ich habe kein System. Ich arbeite mit verschiedenen
Methoden und komme improvisierend zum Ergebnis.»
Was Pierre Favres Schaffen heute auszeichnet, kann man durchaus als
Reife bezeichnen. All die unterschiedlichen Erfahrungen sind eingeflossen.
Vom frühen hochenergetischen Spiel mit Irène Schweizer und Peter Kowald
über die Zurücknahme des Klangs bis an den Rand der Stille mit der Sängerin
Tamia. Von der Arbeit mit Jazzgruppen bis zum Solo als Perkussionist
und zur Potenzierung mit Gruppen von Schlaginstrumentalisten unterschiedlicher
musikkultureller Herkunft. Von der völlig auf das Spontane konzentrierten
Improvisation bis zum konzeptionellen, strukturbestimmenden Denken.
Vom Auszug nach Paris und der Rückkehr in die Schweiz Anfang der neunziger
Jahre. Von den «Singing Drums» zum «European Chamber Ensemble».
Wie klingen die Stücke? Für mich hallt in ihnen die europäische Musikkultur
wider. Nicht die Welt der Klassik, sondern die des Mittelalters und
der Renaissance. Zeiten, die uns oft näher stehen, weil in ihnen - wie
heute - vieles in ständiger Bewegung war. Und auch die Musik des Mittelmeerraums
klingt nach und klingt mit, die Öffnung zu orientalischen und afrikanischen
Kulturen. Hier freilich finden sich Schnittstellen zur hymnischen Melodik
eines John Coltrane, zum Aufbrechen der Klänge im Schaffen späterer,
auch über den Jazz hinausschauender Generationen. Pierre Favres Stücke
entfliehen der traditionellen Liedform, aber sie sind angefüllt mit
Gesanglichem. Das unterscheidet sie vom Schaffen der Komponisten Neuer
Musik. Favre feiert das Leben mit tänzerischer Leichtigkeit des Klingenden.
Doch er weiss auch um das Melos der Melancholie, um die Schärfe der
Dissonanz und das Stimmengewirr in der Nacht. So sind diese Titel nicht
nur in sich, sondern auch im Verhältnis zueinander komponiert. Ein grossartiges
Porträt, ein gross angelegtes Gruppenbild und eine von Perkussionsrhythmen
durchzogene Klangfolge, die uns viel über das Leben erzählt.
Bert Noglik, Die WochenZeitung, WoZ, Zürich, 21. Sept. 2000.
www.woz.ch
ECOUTER - Le monde dans
sa batterie
Il faut imaginer la batterie de Pierre Favre. Tout autour de lui, des
fût en bois nobles et ancien, des cymbales, cloches et gong en
métaux patiemment travaillés aux quatre coins du monde.
C'est un bel ensemble d'instruments rassemblés au fil des ans,
et dont il connaît chaque secret, sachant les frapper, les caresser,
faire chanter leur matière. Avec l'ochestre au'il a réuni
dans ce nouvel album, c'est un peu pareil. Il s'agit d'une combinaison
pas commune. Aux percussions, où l'on trouve également
Lucas Niggli - l'ancien élève devenu alter ego de Favre,
se mélangent et se mêlent le saxophone de Roberto Ottaviano
et le tuba de Michel Godard , la guitare de Philippe Schaufelberger,
le violon de Karel Boesschoten, l'alto de Marius Ugureanu et enfin la
contrebasse du Lausannois Pierre-François Massy.
Avec cette palette d'excellents musiciens à l'aise dans plusieurs
genres, Favre peut explorer tous les territoires qui le composent, trouver
les infimes nuances de couleurs et les combinaisons de timbres qui racontent
le mieux ses émotions. On pourrait reconnaître ici entre
autres des musiques médiévale, africaine, répétitive,
classiques contemporaine, free, enfantine, des musiques de films intérieurs.
Mais à quoi bon? Mieux vaut se laisser emporter dans cet univers
féeriques, harmonieux et unique. Un vrai régal.
Pierre-Yves Borgeaud, 24 heures, Lausanne, 17. Octobre, 2000
Free your drums and the
rest will follow
Als er anfing, sein Drum-Set mit allerlei seltsamem Schlagwerk zu erweitern,
zeigten sich selbst offenste Kooperationspartner wie George Gruntz,
Peter Kowald oder Evan Parker ratlos. Seine Vision eines von der Timekeeping-
Funktion befreiten Schlagzeugs verwirklichte Pierre Favre dann im Schlagzeugorchester
Singing Drums, das inzwischen um Bläser, Streicher und Gitarre erweitert
wurde. Auf dessen neuester Produktion haben sich Favre und seine Mitstreiter
wieder einiges einfallen lassen, um das Ohr des Hörers zu narren.
Ich traf ihn das erste Mal 1998 auf einem Jazzfestival. Das heisst: Ihn
sah ich mal irgendwo weiter hinten im Gespräch mit seinem Partner Michel
Godard. In Wirklichkeit hatte ich als Fahrer vor allem mit seinem Equipment
zu tun. Und zwar alle Hände voll und ziemlich lange. Es ging schliesslich
um ein ganzes Percussion-Orchester. Auch das spätere Konzert mit Greetje
Bijma bekam ich nur halb mit. Aber es reichte, um festzustellen, dass
Favre sich mit dem Bandnamen ãSinging DrumsÒ einen Namen ausgesucht
hatte, der pointiert wie kaum ein zweiter (vielleicht «Jazz Butcher»?)
das dahinter stehende Konzept auf den Punkt brachte. Die Drums zu befreien
von ihrer Timekeeping-Funktion, ihre Stimme zu finden, hörbar zu machen
und das, was gemeinhin als ihre Beschränkung gilt - die Monophonie -,
als ihren Reichtum zu entdecken: Damit wäre in einer Nussschale sein
Lebenswerk benannt.
Die komplette Geschichte ist komplexer, noch lange nicht abgeschlossen.
Sie beginnt mit dem jungen Pierre Favre, Autodidakt, Schlagzeuger in
Tanzorchestern und aufmerksamer Rezipient der progressiven Signale amerikanischer
Musiker wie John Coltrane. «Es gab keine Schulen, wir haben durchs
Hören gelernt. Wir haben unsere Erfahrungen ausgetauscht, aber Schulen
wie heute
das war nicht denkbar. Wir konnten auch nicht wirklich
'lesen'. Ich wurde engagiert im Radioorchester mit dem Versprechen,
lesen zu lernen, wenn sie mich nähmen.»
Beim Erarbeiten einer eigenen Sprache stiess Favre schnell an die Grenzen
der seiner Rolle, wurde der Monotonie der Beckenklänge müde. «Hör
dir eine beliebige Platte an. Nun gut, ein Gehör entwickelt sich, aber
es fällt mir immer als erstes auf, dass ein Crashbecken verwendet wird.
Bei jedem Akzent hauen sie auf denselben Deckel - das ist unerträglich!»
So fiel die Entscheidung, das Schlagzeug zunächst um weitere Becken,
dann um einen Gong zu erweitern, schliesslich um eine grosse Anzahl weiterer
Perkussionsinstrumente. Doch auch wenn er in dieser Zeit mit George
Gruntz, Peter Kowald oder Evan Parker keineswegs von konservativen Ignoranten
umgeben war, stiess er mit dieser Erweiterung meist auf Unverständnis.
Es klingt immer noch etwas Verwunderung in seiner Stimme, wenn er davon
erzählt. «Sie sagten: Was machst du denn mit diesem ganzen Zeug,
bleib doch bei deinem Schlagzeug. Später, als ich meine Soloproduktionen
veröffentlichte, fanden sie es gut. Aber so ist es: Am Anfang ist man
immer alleine.» Das Soloprogramm erwies sich als die beste Methode,
abseits von den Erwartungen musikalischer Partner die eigene Identität
zu finden.
Im gleichen Zusammenhang sieht Favre auch den häufigen Wechsel des Wohnsitzes.
Er lebte einige Zeit in Frankreich, dann in Süddeutschland, entledigte
sich auf diese Art allzu verbindlicher Wurzeln und Identitätszwänge.
«In Frankreich glauben viele, dass ich Franzose bin. In Zürich,
in der deutschsprachigen Schweiz dagegen bin ich - wegen meines französischsprachigen
Hintergrundes und weil ich viel gereist bin - auch ein bisschen 'Fremder
im eigenen Land'. Was eine gute Balance mit sich bringt.»
Der Schritt zu einer universalistischen Musiksprache war von hier aus
nicht mehr weit. Gerade Perkussionisten sind wohl dazu prädestiniert,
auf den europäischen Tellerrand zu pfeifen, um in Musikkulturen fündig
zu werden, in denen das Schlagzeug eine weitaus wichtigere Rolle spielt
als im von Funktionsharmonik und Marschmusik verseuchten Europa. Afrikanische
Polyrhythmik, der religiös motivierte Einsatz von Gongs und Tamtams
in asiatischen Kulturen und die Bedeutung von Obertonschwingungen gehören
zu den Inspirationen, die Favres musikalische Philosophie definieren
halfen. «Ich bin interessiert an Klang. Ich habe auch mit einer
Big Band gespielt, mit Barry Guy, ganz traditionell. Aber auch da frage
ich mich: Wenn das Orchester in die Tiefe geht, welches Crashbecken
nehme ich da? Ich will nicht den Klischees aufsitzen. Und so habe ich
in der Mitte meines Schlagzeugs auch keine Snare mehr, sondern eine
Djembé. Die kleine Trommel ist abseits. Wenn ich also diesen Militärklang
haben will, muss ich ihn mir holen.»
Um solche Erkenntnisse auszutauschen, nahm Favre den Dialog mit anderen
Musikern auf. Zunächst die Kombination von vier Gleichgesinnten zu einem
Schlagzeugorchester - als Manifestierung der Emanzipation des Schlagzeugs:
Nana Vasconcelos, Paul Motian und Fredy Studer waren seine Traumbesetzung,
und so wurde 1984 Singing Drums geboren. Nach einer Produktion für ECM
wurde das Ensemble erweitert um den Tubaspieler Michel Godard und den
italienischen Holzbläser Roberto Ottaviano. Und vor allem fand Favre
in seinem Schüler Lucas Niggli eine ideale Ergänzung an den Drums. Ein
sehr vertrautes und, wie er betont, «ohne jedes Konkurrenzdenken»
auskommendes Verhältnis gewährleistet Sicherheit und intensivstes Arbeiten.
Jeder ist dem anderen Kontrollinstanz und Bündnispartner. Klar, dass
dabei das Schüler-Lehrer-Verhältnis auch mal auf den Kopf gestellt wird.
Vielleicht weil er selbst auf jede pädagogische Betreuung verzichten
musste, betont Pierre Favre heute die grosse Bedeutung, die die Wissensvermittlung
von einer Generation zur anderen habe.
Neben den Bläsern von Singing Drums gilt seine Liebe der Konfrontation
mit der menschlichen Stimme, dokumentiert unter anderem auf der CD «Freezing
Screens» (enja 1996) mit der niederländischen Extremvokalistin
Greetje Bijma und Jasper vanÕt Hof. Favres Gefühl für die Tiefe des
Hör-Raumes und der erstaunlich düster gestimmte Keyboarder exekutieren
ausgerechnet mit der rätselhaft-schrillen Holländerin mehr Illbient,
als jede «Illbient» genannte Einzelproduktion es jemals
war.
Dem auch hier ganz auffälligen Reiz der Kombination weicher, sinusartiger
Klänge mit dem Percussion-Park ging Favre nun weiter nach: durch die
nochmalige Erweiterung der Singing Drums. Ergebnis ist die neueste Produktion
unter dem Titel «European Chamber Orchestra» (Intakt/ Records).
An der Seite von Godard und Ottaviano finden sich nun noch die Saiteninstrumente
Violine, Bratsche und Kontrabass sowie die Gitarre von Philipp Schaufelberger.
Abgesehen von der studiotechnischen Meisterleistung, den gesamten Trommel-Becken-Gong-Park
und die anderen Instrumente live komplett auf zwei Spuren (sic!) aufzunehmen,
ist Favre damit eine der reichsten, komplexesten Produktionen des Jahres
gelungen. Sein atemberaubendes Zusammenspiel mit Niggli ist dabei nur
der Kern. Sein Interesse gilt den Zusammenklängen, den spezifischen
Eigenheiten bestimmter Klangkonstellationen. Alle Instrumente werden
solistisch eingesetzt, zu Unisoni oder mehrstimmigen Geweben gebündelt,
in Zwiesprache mit perkussiven Mikrostrukturen verwickelt.
Niggli und Favre haben sich die verrücktesten Techniken einfallen lassen
(unter anderem spielen sie die Pauken mit den Füssen), um das Ohr zu
narren. Welcher Klang hat welchen Ursprung? «Für dieses Orchester
habe ich sehr viel geschrieben. Mit Lucas habe ich immer viel ausprobiert.
Patterns unisono spielen, um den Klang zu vergrössern. Wir spielen gar
nicht so viel, aber wir mischen uns mit dem Klang der Melodiker. Die
Mischung von Perkussion mit anderen Instrumenten verändert den Klang.
Das ist ein sehr interessantes Gebiet.» Word up! In einer Zeit,
in der sich beinahe alle Musikausübenden mit klarem Kopf mindestens
einmal am Tag fragen sollten, ob sie da wirklich neue Geschichten erzählen,
steht dieser freundliche, besonnene Mann fast allein vor einem ganzen
Meer der Möglichkeiten.
Eric Mandel, Jazzthing 37, Köln, Februar 2001.
www.jazzthing.de
Das European Chamber Ensemble
ist die logische Weiterentwicklung von Pierre Favres Singing Drums,
ursprünglich ein reines Multi-Percussion-Projekt, dann ein Quartett
mit Lucas Niggli als zweitem Perkussionisten und zwei Bläsern, jetzt
noch einmal erweitert um einen Gitarristen und ein Streichertrio. Die
Ausweitung des Klangspektrums und die Integration der Schlaginstrumente
in den Gesamtklang waren die Hauptziele von Altmeister Pierre Favre.
Einmal mehr faszinierend ist das Zusammenspiel mit seinem Alter Ego
Lucas Niggli. Die beiden Musiker haben zu einem Grad der Übereinstimmung
gefunden, der phänomenal ist: sie ergänzen oder doppeln einander, spielen
je nach Bedarf auch mit Füssen oder Stricknadeln, drängen aber nicht
in den Vordergrund. Vielmehr schafft Favre wundervolle Features für
seine Solisten Roberto Ottaviano (ss), Philipp Schaufelberger (g) und
den Tubavirtuosen Michel Godard, der auch am seltenen Serpent zu hören
ist. Favres Kompositionen sind rhythmisch hochkomplex, meist melancholisch
gefärbt, erinnern auch an Alte Musik und sind ganz auf die Mitwirkenden
zugeschnitten. ÒIch lebe in und mit Rhythmen. Aber die Rolle des Time-Keepers
lasse ich heute jüngeren Musikern.Ó Favre sucht das Melodische im Rhythmus
und das Rhythmische in der Melodie. Die Intensität und Klarheit, die
er hierbei erreicht hat, untermauert seine singuläre Stellung innerhalb
des europäischen Jazz.
schu, Concerto, Wien, April 2001
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