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Werner Lüdi (1936 - 2000)

 

Foto: Sylvia Luckner



Der Bündner Jazzsaxophonist Werner Lüdi über den Eigensinn des Berglers

 

Wie das Leben so spielt


Interview: Patrik Landolt

«Er ernährt sich durch Kraftvergeudung. Über das Dionysische bei Werner Lüdi» titelte in der neusten Ausgabe die deutsche Zeitschrift «Jazzthetik». Lüdi hat das Image der Bündner Saftwurzel. Pass Dir dieses Bild?

Werner Lüdi: Bündner Saftwurzel oder Urgestein: Das ist natürlich alles , na ja, leicht überhöht. Ich bin Sternkreiszeichen Stier, ich habe einen Stierennacken. Ich denke schon, dass ich für siebenundfünfzig Jahre gut zuwege bin. Aber wenn man diese Musik machen will, braucht es einfach Kraft, und die muss man sich irgendwo holen.

Wo gibts die zu haben?

Ich bin ein Bergler, durchaus. Das Landleben tut mir gut. Dieses Leben in den Bergen - andere haben es auch schon festgestellt, ich denke an Daniel Schmid oder an Alberto Giacometti - gibt Kraft. Graubünden ist ein Kraftort. Ich meine das nicht im überhöhten oder esoterischen Sinne, sondern ganz konkret. Ich bin natürlich froh, dass ich immer wieder abhauen kann, sonst wäre es mir auch zu öde.

Nun ist deine Musik alles andere als ländlich. Du spielst Grossstadtmusik. Kann man in den Bergen wohnen und diese Musik spielen?

Ich wohne zwar auf dem Lande, ich bin aber vom Temperament her nicht bäuerlich. Das Urbane, das diese Musik hat, ist eine extreme Möglichkeit, die Baterien wieder aufzuladen. Ich beziehe nicht nur von den Bergen Kraft, sondern auch von der Musik. Es ist eine Wechselwirkung. Ich gehe gut ausgeruht in die Stadt, ich komme sehr müde wieder nach Hause, aber gefüllt mit neuen Eindrücken. Das alles hält mich am Leben.

Du bist 1981 nach fast fünfzehnjähriger Pause und einer erfolgeichen Karriere als Werber wieder in die Jazzmusik eingestiegen. Deine Midlife-Crisis hat uns ein Comeback eines Freejazz-Pioniers beschert. Bereust du heute, zwölf Jahre später, diesen Entscheid?

Ich bin extrem glücklich, dass ich diesen Entscheid gewagt habe. Aber er hat mir auch sehr viele Probleme gebracht. Ich war es gewohnt, ein gut verdienender Werbetexter zu sein. Wenn ich mir überlege, dass ich jeden Monat 10'000 Franken in den Sand setze, die ich verdienen könnte, wenn ich auf dem Beruf geblieben wäre, dann hat dieser Entscheid schon beachtliche Konsequenzen, der glücklicherweise auch von meiner Frau getragen wird. Heute bin ich ein schlecht verdienender Freejazzer, habe ein karges Brot. Und wir mussten alle konfortablen Einrichtungen, die wir gewohnt waren, aufgeben. Aber das wichtigste: Ich gehöre nun zum wunderbaren Kreis der freiimprovisierenden Musiker, habe all diese schönen Freundschaften und diese herrliche Begegnungen, die inspierend sind und einem auch tragen. Die Besuche und freundschaftliche Kontakte, die ich jetzt habe, sind von so grosser Qualität, und bedeuten einen Wertzuwachs, der in keiner Weise mit Geld aufzuwiegen ist. Ich meine sogar, dass unser neunjähriger Sohn durch meinen neuen Bekanntenkreis eine ganze andere Welt kennenlernt: Eine Welt, die nicht auf Konsum ausgerichtet ist, sondern auf kulturelle Werte und gute Gespräche.

Aber davon hst du noch nicht gegessen oder die Miete bezahlt?

Die Rezession hat quasi über Nacht die Jobs für Freiberufliche vernichtet. Als nebenberuflicher Werbetexter bin ich arbeitslos. Vielleicht ist das ein Wink des Schicksals. Ich muss als Musiker noch einmal Gas geben, um noch viel mehr spielen zu können. Und gleichzeitig muss ich die Ausgaben noch mehr drücken. Dann könnte es vielleicht gehen.

Also wer von der Jazzmusik leben will, muss arbeiten wie ein Ochse und leben wie eine KirchenmausÉ

Ja, das ist gut gesagt. Wir sehen ja, wie die deutschen Jazzmusiker Peter Kowald, Peter Brötzmann oder Paul Lovens Woche für Woche quer durch Europa brettern und arbeiten wie besessen. Wenn es gut geht, bleiben vielleicht drei- bis viertausend Franken monatlich. Rechnen wir einmal: das durchschnittliche Honorar für ein Engagement beträgt dreihundert Franken pro Musiker. Ein paar Veranstalter zahlen fünfhundert Franken, was schon sehr gut ist. Wenn es mir gelingt, achtzig Veranstalter im Jahr zu prügeln, dass sie mich engagieren, alle bezahlen gut, so komme ich im Jahr auf 40'000 Franken. Wenn ich nun die Spesen abziehe, bleiben vielleicht noch 30 000 Franken. Selbst unsere grosse Pianistin Irène Schweizer, die ja eine Musikerin ist, die man immer gerne engagiert und die darum viel zu tun hat, hätte finanzielle Schwierigkeiten, wenn sie eine Familie unterhalten müsste oder nicht bescheiden leben würde.

Wie ist zu erklären, dass es zur Zeit gerade in der Schweiz eine so breite Jazzszene gibt und zahlreiche junge Leute dieses Leben als Jazzmusikerin oder Jazzmusiker risikieren?

Es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Intensität in der Schweiz eine extrem randständiger Musik gespielt wird. Diese Szene verfügt über eine heilvolle Gegenenergie. Sonst ist in diesem Land ja alles so dröge, fast tötlich zementiert. In der Schweiz hätte man ja, gemessen an anderen Orten, keine Sorge zu haben. Komischerweise machen nun sich alle fürchterlich Sorgen, dieses oder jenes zu verlieren. Wer weniger hat, muss auch weniger Angst haben. Die Schweizerinnen und Schweizer haben einfach zu viel. In so einem Land, können Verrückte ganz gut existieren.

Sind die Leute, die hierzulande Jazzmusik machen, verrückt? Ist die hiesige Jazzszene eine offene Irrenanstalt?

Ich möchte wieder auf die Bergler zurückkommen. Im Laufe der Jahrhunderte ist in den Bergen ein reiches Brauchtum an Musik, an Geisterbeschwörung an dämonischen Riten gewachsen. Was in diesen engen Tälern alles möglich ist, ist umwerfend: der Jodel, der Alpsegen, das Alphorn, das Klaustreiben. Es sind Rituale, die man sonst fast nur im fernen Osten wieder findet. In den Bergen leben ganz schön viel Spinner. Ein Senn auf der Alp, der vier Monate allein lebt, ist kein durchschnittlicher Mensch. Der Berg ist der Ort des Eigensinns. Dieser führt zu den abstrusesten persönlichen Ausdrucksweisen. Der eine macht dann halt dieses, der andere spielt Freejazz.

Du bezeichnest deine Musik als Freejazz?

Ob unsere Musik, da sie die Funktionsharmonik überwunden hat, bereits frei ist? Ich suche nach einer Möglichkeit, mich auf meinem Instrument klar und persönlich auszudrücken. Mir ist es wichtig, dass ich eine persönliche Ausdrucksweise finde. Wir sind ja nicht Interpreten von etwas, sondern sind auf der Bühne uns selbst: eins zu eins. Das ist riskant, vielleicht stur, vielleicht eigenbrötlerisch.

Du vestehst deine Musik als Ausdruck des Lebens?

Ich spiele, wie das Leben so spielt. Das Spiel ist gewachsen aus einer langjährigen Lebenserfahrung, und jedes Konzert ist eine Momentaufnahme. Aber da ist alles drin, was an Frust, Glück, Liebeskummer, Geldnöten hast.

In der Zeitung zum Schaffhauser Festival schreibst du deinem Freund Peter Brötzman einen offenen Brief. Du schreibst, dass ihr Musiker, die seit dreissig Jahren eine Musik machen, wofür die Definition immer noch fehlt, einer raren Spezies angehören: Zu den letzten Helden der Zivilisation? Warum Helden?

Na ja, ich hoffe, dass er beim Lesen lauthals lacht . Aber ein Musiker wie Brötzmann, der schon mit 22 Jahren gewusst hat, welchen Weg er einschlagen will und sich nicht kümmert, woher Hohn und Spott kommen und der sich erfolgreich durchgesetzt hat, ist schon beachtenswert. Er lebt dieses karge Musikerleben, das diese vielen Glücksmomente birgt, aber auf der sozialen Leiter weit unten ist, mit einer grossen Gradlinigkeit. Das hat etwas Heldenhaftes.

Findest du bei Peter Brötzmann den gleichen Stiernacken, den auch du hast?

Warum nicht? Wir spielen seit 89 wieder zusammen und haben eine Duo-CD gemacht. Aber Brötzmann ist ja nicht dieser normannische Kleiderschrank, für den ihn alle halten. Er ist ein höchst sensibler Mensch, ein grosser Trinker auch, der oft schwere Depressionen hat. Ich bin natürlich glücklich, dass er mich in diese Jubiläumsband «März-Combo» geholt hat, von der jetzt eine aussergewöhnliche CD herausgekommen ist. Diese CD ist ein Hammer. Ich wäre nicht erstaunt, wenn dem Brötzmann damit - 25 Jahre später - wieder ein Meileinstein gelungen ist, wie seinerzeit mit der Platte «Machine Gun».

Nun hat sich in den letzten Jahren diese rare Spezies weiterentwickelt. Neue Musikerinnen und Musiker sind dazugestossen. Wenn du die heutige Musik vergleichst mit dem Jazz, der gespielt wurde, als du vor fünfundzwanzig Jahren begonnen hast, was hat sich verändert?

Die Elektronik hat einen prägenden Einfluss gewonnen. Die Digitalisierung und die Verstärkertechnik erlauben es, eine Musik zu machen, die über die Schmerzgrenze laut ist. Ob man das begrüsst oder nicht, dieser Sound ist da. Heute kann Musik so laut sein, dass sie auf eine neue, bis anhin unbekannte Weise,auf die Hörgewohnheiten Einfluss nimmt.

Was bedeutet das für einen Saxophonisten?

Wir stehen manchmal ganz schön im Regen, wenn andere den Hahn aufdrehen.

Du spielst mit der Gruppe Alboth!, deren Musik Einflusse aus Hard Core und Feejazz verarbeitet. Die Schweizer Jazzkritik hat die Konzerte von Alboth! am diesjährigen Taktlos-Festival rundum abgelehnt. Was interessiert dich an dieser Begegnung mit den jungen Berner Musikern?

Es ist ja erstaunlich, dass nur die Schweizkritik Alboth! nicht goutiert. Die harsche Art der Ablehung erinnert mich an die Ablehnung des «hektischen, lebensfeindlichen, nervösen, kaputten, heroinverseuchten» Bebops in den fünfziger Jahren. Die undifferenzierte Reaktion auf diese rockorientierte freie Musik sind Ausdruck eines Mangels an Verständnis für eine neue Ästhetik.

Was interessiert dich an dieser Ästhetik?

Letztendlich geht es darum, Wege zu finden, eine rockorientierte und gleichzeitig freie Musik zu spielen, welche die Möglichkeiten der neuen Sounds nutzt. Die vier Musiker von Alboth! sind Leute, die sehr genau darüber nachdenken, was sie machen wollen. Diese Musik strebt eine «wall of sound» an, worin die einzelnen Instrumente und Spieler sich bewegen. Es gibt nicht mehr die Soliererei, sondern es ist ein komplexes, kollektives Tongebilde, das wie eine Brandung wirkt. Wir werden nach daran arbeiten müssen, dass sich das Gebläse noch besser in den Gruppensound intergriert. Es macht mir Spass mit den vier Musikern zu spielen und es ist anregend, mit Leuten zu tun zu haben, die dreissig Jahre jünger sind als ich.

In den letzten zehn Jahren hast du hauptsächlich mit zwei Gruppen gearbeitet: zuerst Sunnymoon mit verschiedenen Besetzungen, dann der Blaue Hirsch. Beides sind Gruppen, die freie Musik spielten, die offen sind für Einflüsse aus dem Rock. Lüdi als Dauer-Pionier?

Grenzen und Extreme haben mich immer interessiert. Eine Grenze ziehen und darüber hinausgehen, das ist es, was in der Musik angesagt ist. Man muss der Ängstlichkeit die Stirne bieten. Man ist heute ja so schnell ängstlich. Und es verträgt so viel mehr!!

Nachdem du die Gruppe Sunnymoon aufgelöst hast, spielst du hauptsächlich mit dem Blauen Hirsch. Der Blauer Hirsch ist rockorientierter als SunnymoonÉ

Der Blaue Hirsch besteht aus einer unglaublichen Sound- und Rhythmusgruppe mit dem Bassisten Mich Gerber, dem Gitarristen Wädi Gysi und dem Schlagzeuger Mani Neumeier (jetzt: Michael Werthmüller). In diesem Sound- und Rhythmusgebilde kann ich als Solist, wie zu den besten Zeiten, die Sau rauslassen. Bei diesesm Spiel herrscht eine so grosse Konzentration, dass man genau weiss, was man macht, ohne mittelbar zu denken. Es ist wie bei der Kunst des Bogenschiessens. Du weisst genau, wann der Pfeil losgeht, aber er ist dann, wenn du es weisst, schon losgegangen. Es ist ein totales Loslassen. Die Unmittelbarkeit und Spontaneität muss so gross sein, dass das Improvisieren wie von selbst geht. Reaktionen und Aktionen in Bruchteilen von Sekunden. Das Tempo ist wichtig. Der Name der CD «Brain Drain» ist ein Bekenntnis.

Wer das Riskio sucht, fällt gelegentlich auch auf die Nase. Die Art und Weise, wie Du 1990 in der Roten Fabrik zusammen mit Cecil Taylor auf der Bühne gescheitert bist, war unerhört. Angesagt war eine musikalische Begegnung von Cecil Taylor und Werner Lüdi. Taylor weigerte sich jedoch auf er Bühne, mit Dir zu spielen. Was war damals wirklich passiert?

Mein Fehler war, dass ich ihn zu stark angebaggert habe. Man kann das vergleichen mit einer Liebesbeziehung. Wenn sich der eine Teil zu stark bemüht, geht es nicht. Cecil fühlte sich von mir genötigt.

Nun hat Cecil Taylor eine stark konstruierte, geradezu architektonisch gebaute Musik. Passt diese Spiel zu Lüdi?

Cecil Taylors Musik ist für mich die energetischste Musik, die es gibt. Es ist ungeheur. Dass er so architektonsich ist, habe ich früher gar nicht gemerkt. Ich habe vor dem Konzert nochmals viele Platten von ihm gehört und habe zur Musik gespielt. Das ging. Erst nach dem Auftritt, als es nicht ging, bekam ich einen Hinweis von Hans Koch, der sagte, hör es dir doch einmal genau an: Diese Musik ist so streng strukturiert. Wenn er nicht aufmacht, kommst du nie rein. So geschah es: Er liess mich nicht in seine Musik hinein.

Vielleicht war es doch eine kleine Anmassung, mit dem grossen Meister zu spielen?

Ich wollte diese Herausforderung bestehen. Das Zusammenspielen mit Cecil hatte für mich den Charakter einer Meisterprüfung. Aber sicher, es war meinerseits eine Selbstüberschätzung. Das muss ich auf mich nehmen. Dazu kommt, dass alle mit Cecil spielen wollen. Der Schlagzeuger Don Moye kam ins Hotelzimmer von Cecil und sagte: «I'm ready». Cecil fragte: «Ready for what?» - Das klingt nach Aufforderung zum Kampf. Das muss in die Hose gehen. Taylor ist ein ungemein empfindlicher Mensch. Max Roach hat ihn für ein Duokonzert nach Chicago eingeladen. Cecil kommt hin, blättert das Programmheft durch, sieht ein Foto von Max Roach, keines von sich und geht wieder anch Hause. Diese Empfindlichkeit sind natürlich auch Ausdruck von Erfahrungen von Rassismus, von Ausgegrenztheit als Homosexueller und ein grosses Stück Stiernackigkeit. Peter Brötzmann war der einzige, der mir vor dem Konzert gesagt hat: Lüdi, du könntest ganz schön alt aussehen. Brötzmann hat die gleichen Probleme mit Cecil. Brötzmann ist rein äusserlich schon zu mächtig, zu fleischig für diesen kleingliedrigen Indianer.

Hast du dieses Scheitern verarbeitet?

Es war anfangs sehr hart. Es war mir unverständlich, so über den Tisch gezogen zu werden. Aber es hat mir gut getan. Letzte Woche traf ich Cecil Taylor in Berlin. Wir haben uns mehrere Stunden unterhalten und auch über dieses Konzert diskutiert. Und wir haben uns wieder als gute Freunde getrennt. Naja, es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Nun wieder die Starrköpfigkeit des Berglers?

Wir werden sehen. Auch ein 57jähriger muss lernen, dass alles seine Zeit braucht. Vielleicht wird man um so mehr ein Mensch, je mehr man sich erlaubt, in die Brüche zu gehen.

Am Schluss des Briefe an Brötzmann fragst du: «Angenommen, du liegst dereinst auf dem Totenbettlein, wofür würdest du am liebsten gelebt haben? Für die Musik? Für den Widerspruch? Für die Liebe?» Lüdi ist zu vital und und die Musik zu lebendig, um ans Totenbettlein zu denken. Deshalb möchte ich die Frage umformulieren: Wofür lebst Du? Für die Musik. Für den Widerspruch, für die Liebe?

Lass uns jetzt einen trinken gehen.

Erschienen in: WochenZeitung, WoZ Nr. 18/1993

 

 

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Werne

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