Iréne
Schweizer sucht sich aus, mit wem sie spielt
Von Christian Broecking
Brutale Zeiten erfordern brutale Musik", sagt Jost Gebers in
dem neuen Gitta Gsell-Film "Iréne Schweizer". Gebers
hat die Berliner Free Music Production in Berlin mitgegründet
und jahrzehntelang geleitet, er kennt sich aus im Inneren der deutschen
Impro-Szene. Er berichtet, dass Iréne damals die einzige Musikerin
aus dem Ausland war, die zum "Inneren Kreis" gehörte
- ständig sei man "auf hohem Niveau" auf der Suche
gewesen, "und Iréne gehörte einfach dazu".
Beim Züricher Intakt-Label ist der Gsell-Film, der letztes Jahr
in der Schweiz Kinopremiere hatte, gerade auf DVD veröffentlicht
worden. Die deutsche Erstaufführung gibt es am 3. Juni im Rahmen
des interplay Festivals in der Akademie der Künste, im Anschluss
steht ein Gespräch mit der Regisseurin auf dem Programm.
"Wenn es Jazz nicht gäbe, wäre ich keine Musikerin",
sagt Schweizer, und die Schwarz-Weiß-Bilder aus der Nachkriegszeit
zeigen Kellerbands, die für das große Amateur-Jazzfestival
in Zürich proben. Dann ein Ausschnitt aus der Fernsehübertragung,
ein Moderator verkündet voller Stolz die Preise: eine Schachtel
Zigaretten für den ersten Platz, eine Packung Kaugummi für
den zweiten und ein Herrenhemd für den dritten. Mit 18 hieß
ihre Band Modern Jazz Preachers, später dann Iréne Schweizer
Trio. 1959 wurde in Zürich das Africana eröffnet, der Jazzclub,
in dem Duke Ellington den südafrikanischen Pianisten Dollar Brand
entdeckte, und im Vorprogramm spielte das Schweizer-Trio. 1964 kam
die südafrikanische Jazzband Blue Notes ins Exil nach Zürich,
"das war ein frischer Wind", berichtet Schweizer. Und bis
heute tritt sie mit dem einstigen Blue Notes-Schlagzeuger Louis Moholo
im Duo auf, viele Konzerte fanden im Rahmen der Anti-Apartheidbewegung
statt.
"Wir hatten damals die Energie, alles zu tun", resümiert
Moholo in dem Film, der das Duo 2003 auch auf einer Tournee durch
seine Heimat begleitet. King Louis is back, war damals das Motto,
und konkret sah es so aus: Fünf Mikrofone für Moholo und
nur eins für den Flügel. Doch die 65-jährige Pianistin
sieht das jetzt gelassen, findet es verständlich, sogar ein bisschen
gerecht. "Wir haben lange für die Befreiung des Landes gekämpft",
sagt Moholo, "und jetzt ist Payback-Time." Dann schüttelt
er Iréne dankbar die Hände.
Free Jazz und Blue Notes, Experimente mit Klang und Bild, Musikerkooperativen,
feministische Künstleraktionen, Kaputtspielzeit: "Ich bin
ruhiger geworden", sagt Schweizer heute. Eigentlich spiele sie
gern Schlagzeug, sagt sie, deshalb sei ihr Klavierspiel auch so perkussiv.
Ergänzend zu dem Porträt gibt es auf der DVD noch zwei längere
Konzertausschnitte, die ihr aktuelles Schaffen dokumentieren - mit
dem Schlagzeuger Hamid Drake und dem Saxofonisten Fred Anderson, zwei
Protagonisten der Chicagoer Szene, vom Jazzfestival Willisau 2004,
dazu Aufnahmen mit dem holländischen Schlagzeuger Han Bennink,
2003 im in Zürich mitgeschnitten. Ein sehenswerter Film über
eine radikale Musikerin, die sich aussucht, mit wem sie spielt.
Berliner
Zeitung, Feuilleton, 8. April 2006
Die Pianistin Irène
Schweizer scheint eine besondere Beziehung zum Wasser zu haben. Immer
wieder zeigt die Filmemacherin Gitta Gsell, wie sie sich mutig ins
kühle Nass von Seen und Thermen stürzt, mal allein, mal
mit ihrer musikalischen Mitstreiterin Maggie Nicols. Im Laufe dieses
Filmporträts beginnt man, die Analogie Irène Schweizers
Kunst zum nassen Element, das ja in vielen Mythen für das Unbewusste
steht, als Subtext zu lesen. Da beginnt man, die wirbelnden Luftblasen,
die Iräne Schweizer umspielen, zu hören und man glaubt,
die rasenden Arpeggien, die sie dem Flügel entlockt, zu sehen.
Der Sprung ins kalte Wasser als Leitmotiv, als immer wiederkehrende
Variation.
Geboren 1941 im Schweizer Grenzstädtchen Schaffhausen als zweites
von drei Mädchen, erwacht Irène Schweizers Interesse an
der Musik schon früh. Vor Kriegende blüht die Schweizer
Jazzszene in einer Art splendid isolation vor sich hin - es wird vor
allem Tanz- und Unterhaltungsmusik zum Besten gegeben. Die kleine
Irène macht ihre ersten tastenden Versuche mit der Handorgel
und dem Akkordeon. Mit 12 steht ihr Berufswunsch fest: Musikerin.
Sie saugt den Jazz ihrer Umgebung auf und spielt alles, was sie hört,
Note für Note nach. Denn Jazz war ihre "Liebe auf den ersten
Klang". Mit 18 tritt sie mit den,,Modern Jazz Preachers"
beim Amateur Jazz Festival in Zürich auf, wo als Preise Kaugummi,
Zigaretten und Herrenhemden (!) winken. In den 60ern emigrieren die
südafrikanischen Blue Notes nach Zürich, weil sie wegen
der Apartheit in ihrem Heimatland nicht auftreten dürfen. Bei
den Blue Notes im Jazzclub "Afrikana" entdeckt Irène
Schweizer ihre Liebe zur afrikanischen Kweela-Musik, und es entwickelt
sich eine Freundschaft mit dem Schlagzeuger Louis Moholo, mit dem
sie bis heute in aller Welt auftritt.
Weitere wichtige Stationen in Irène Schweizers Leben waren
die 68er und die Emanzipationsbewegung, die ihr Spiel hörbar
radikalisiert haben."Brutale Zeiten erfordern brutale Klänge",
sagt FMP-Gründer Jost Gebers. Die Kaputtspieleskapaden sind der
passende Soundtrack zu den Exzessen prügelnder Züricher
Polizisten. lrène Schweizer ist Mitglied der Musikergewerkschaft,
wohnt zeitgemäß in einer Musiker-WG, engagiert sich politisch
und spielt" wie ein Mann", entweiht das "heilige Instrument
der abendländischen Kultur", so dass man immer befürchten
muss, es nach dem Auftritt in Reparatur geben zu müssen. Zwischendurch
bestreitet sie ihren Leben sunterhalt auch mal als Sekretärin
bei einer Schlagzeugfirma, wo Pierre Favre die Cymbals testet und
die zwei in jeder freien Minute gemeinsam spielen. Noch kompromissloser
gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem radikalfeministischen Trio
Les Diaboliques mit Maggie Nicols und Joëlle
Léandre.
Gitta Gsell zeichnet die Geschichte einer kulturellen Befreiung aus
einem engen Land, folgt Irène Schweizer mit der Kamera durch
die ganze Welt, befragt Mitstreiter und Freunde, rückt ihr auf
den Pelz und auf die Finger. Sie zeigt auch ihre Verletzlichkeit,
ihr Lampenfieber vor dem Auftritt, ihre Nachdenklichkeit und ihre
liebevolle Zuneigung zu den Menschen um sie herum. Dabei bedient sich
die Regisseurin einer kontrapunktischen Montagetechnik, die sehr gut
zur Musik des Films passt, teilt die Bildflächen auf, kontrastiert
Landschaften mit Musik, Statements mit Konzertmitschnitten, so dass
die Bilder miteinander in Beziehung treten. Mit dieser experimentierfreudigen
musikalischen Herangehensweise hebt sich der Film wohltuend von ähnlichen
Filmporträts ab und nähert sich der Künstlerin Irène
Schweizer so sensibel und vielschichtig wie es ihrer Musik entspricht.
Zusätzlich bietet die DVD als besonderes Bonbon zwei ausgezeichnete
Konzertmitschnitte.
Frank Kukat, Jazzpodium, Stuttgart, Juni 2006
Der Titel IRÈNE
SCHWEIZER - A Film by Gitta Gsell (Reck Filmproduktion / Intakt DVD
121) verrät es schon: hier handelt es sich um einen Dokumentarfilm
über die Jazz-Pianistin und, nicht zu vergessen, Schlagzeugerin
Irène Schweizer (*1941). Weltpremiere hatte dieser Film im
Herbst 2005 in Luzern, am gleichen Oktober-Wochenende als Schweizer
innerhalb der Konzertreihe 'Director‘s Choice‘ zu einem
Solo-Konzert ins Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) eingeladen
war, das von Radio DRS 2 live übertragen wurde. Eine Würdigung
ihres langjährigen musikalischen Wirkens, dem meinem Empfinden
nach im großen Konzertsaal des KKL mehr Hochkultur- als Jazzfans
beiwohnten. Trotzdem gab es lang anhaltende Standing Ovations - das
würde in der Roten Fabrik nicht so schnell passieren, obwohl
man ihre Musik dort vermutlich ernsthafter zu würdigen weiß.
Der Film zeichnet in einer geschickten Montage von jetztzeitnahen
Interviews mit der Künstlerin und ihren Wegbegleitern (MusikerInnen,
VerlegerInnen, FreundInnen), altem Archivmaterial und neuen Live-Aufnahmen
ein Portrait einer der wichtigsten PianistInnen der europäischen
improvisierten Musik. Durch Studenten, die im Gasthof ihrer Eltern
musizieren, kommt Irène im Alter von 12 Jahren mit Dixieland-Jazz
in Berührung. In den 1960er Jahren gewinnt sie mit ihrem Irène
Schweizer Trio den ersten Preis bei einem Amateur-Jazzfestival, zusammen
mit Mani Neumaier und Uli Trepte. Die 70er Jahre sind auch in der
Schweiz eine wilde, vom politischen Aufbruch geprägte Zeit. Schweizers
Musik radikalisiert sich - eine Reaktion auf die politische Lage.
„So eine brutale Zeit erfordert brutale Musik“, sagt dann
auch Jost Gebers (von FMP) in die Kamera. In diese Zeit fällt
auch Schweizers Engagement in Musikerkooperativen und der Emanzipationsbewegung
sowie der Homosexuellen Frauengruppe (HFG). All dies wird nicht streng
chronologisch erzählt, so werden die Verbindungen zwischen den
„alten Zeiten“ und dem Hier & Jetzt deutlich gemacht.
Mit dem Perkussionisten Louis Moholo, den sie in den Sechzigern als
Mitglied der im Zürcher Club Africana gastierenden Blue Notes
kennenlernt, geht sie 2003 auf Südafrika-Tour. Diese wird auch
in diesem Film dokumentiert. Mit den durchaus schönen Afrika-Bildern
(und auch den Schwimm- und Unterwasserbildern zu anderen Gelegenheiten)
schweift die Kamera leider etwas vom musikalischen Thema ab. Mit der
Formation Les Diaboliques, die aus der 1977 gegründeten Feminist
Improvising Group hervorging, ist sie heute noch unterwegs - und irgendwie
wirken Irène Schweizer, Maggie Nicols und Joëlle Léandre
so als wären sie eine Freundinnen-Band.
Aber ich möchte jetzt nicht alles nacherzählen, was in diesem
Film in kompakten 75 Minuten auf kurzweilige Art und Weise dargelegt
wird. Ergänzend befinden sich auf dieser DVD noch zwei Live-Mitschnitte.
Einmal Irène Schweizer zusammen mit Hamid Drake und Fred Anderson
auf der Bühne des Jazzfestival Willisau 2004 (22 Minuten) sowie
ein Jahr zuvor mit Han Bennink live im Moods Zürich (34 Minuten).
Diese DVD sei nicht nur Intaktlos-Freaks empfohlen. Schließlich
ist sie auch genau das Richtige für Leute wie mich, die andernorts
als „Spätgeborene“ beschimpft werden. Und bitte nicht
warten bis der Film irgendwann mal auf den Frequenzen der unterstützenden
Sender Schweizer Fernsehen DRS oder 3Sat ausgestrahlt wird ...
PS: Als Soundtrack zu diesem Film und als Irène Schweizer-Kennenlern-Album
sei hier auch noch mal die in BA 48 auf Seite 32 so rigoros besprochene
CD Portrait (Intakt 105) empfohlen.
Guido
Zimmermann, Bad
Alchemy, Deutschland, 6.
Juni 2006
Ce qu'à su saisir
la cinéaste Gitta Gsell dans ce documentaire consacré
à la pianiste Irène Schweizer est précieux. Précieux
comme la rencontre. Précieux comme ces dialogues fidèles
que la pianiste a su nouer au fil des ans avec les Bennink, Favre,
Moholo, Streiff et autres Diaboliques. Et c'est justement cela que
ce film nous donne à voir et à entendre: le dialogue
avec l'autre. Qu'il se déroule dans une clarté évidente
(Bennink, Favre, Moholo) ou dans un questionnement que j'imagine douloureux
(Fred Anderson), Irène est là qui scrute, analyse, anticipe
et jamais ne relâche l'attention. Poussant encore plus loin
la frontière des possibles, la cinéaste revient sur
son parcours exemplaire (pas de fautes de goût chez la pianiste,
aucun casting douteux... il n'est peut-être pas inutile de le
rappeler).
Toute jeune retraitée, elle nous rassure: elle n'en a pas fini
avec la musique. La retrouver ici aux côtés de quelques
magnifiques percutants (Favre, Moholo, Bennink, Drake) en dit assez
long sur son rapport avec la batterie et sur la frustration de n'avoir
pas été la grande
percussionniste qu'elle est pourtant.
Irène revient sur son enfance, sur ce jazz qui I'a envoûtée,
sur cette improvisation reliée avec la nature, sur les Blue
Notes de passage à Zürich. Elle râle contre un piano
placé en fond de scène, évoque les luttes politiques
et sexuelles des seventies, délire avec Les Diaboliques (ces
trois-là le sont réellement !), regrette de n'avoir
pas encore joué au Japon ...
Tout au long de ces 75 minutes, Irène n'est que musique : inquiète
ou joyeuse, profonde et passionnée, humble et généreuse,
Irène nous semble ici si proche, si sensible.
A noter deux boni (entièrement d'accord avec Agnès Varda:
des Boni valent mieux que des bonus), de larges extraits de deux concerts
: le premier avec Han Bennink, le second en trio avec Hamid Drake
et Fred Anderson.
Indispensable !
Luc BOUQUET, Improjazz, France, Novembre/Dezembre 2006
Irène Schweizer,
A film by Gitta Gsell
Reck Filmproduktion Zürich - Vertrieb Intakt Records, 2006
Iréne Schweizer, die Gastwirtstochter aus Schaffhausen, wird
mit circa zwölf Jahren zuhause bei Tanzveranstaltungen infiziert,
lebt seitdem für die Musik, den Jazz. Um das Klavier, ihr Instrument
geht es ihr nicht, sondern um die Musik, die sie damit macht. Die
Dinge, die ihr wichtig sind, arbeitet der Film sehr anschaulich heraus,
nicht die Technik in der Musik, sondern die Emotion. Mag sein, dass
sie in jüngeren Jahren als Mitbegründerin des europäischen
Free Jazz noch anders gedacht hat, als sie noch mit allen möglichen
Körperteilen spielte, heute bewegt sie in erster Linie die Poesie
in der Musik. Beeinflusst hat sie vor allem die afrikanische Musik,
die Begegnung Ende der 50er Jahre in Zürich mit den südafrikanischen
Exilanten, Dollar Brand oder Louis Moholo, mit dem sie seit den 70er
Jahren im Duo durch Europa spielt und 2003 seine Heimat besucht hat.
Die Emanzipation als Frau in der reinen Männerwelt, die die Musik
darstellt, war und ist ihr ein großes Anliegen, prägt ihre
Musik in einem unvergleichlichen perkussiven Spiel. Mit dabei war
sie bei dem Aufbegehren der 68er Zeit, hat die Frauenemanzipationsbewegung
in der Schweiz mit begründet und unterstützt. Musikalisch
zeigt der Film vor allem das legendäre Trio „les Diaboliques“
mit Maggie Nichols und Joelle Leandre.
Viele bekannte Beispiele, Duos mit Pierre Favre, Co Streiff oder Han
Bennink oder das großartige Trio mit Hamid Drake und Fred Anderson
in Willisau 2003, das man wie auch ein Konzert mit Han Bennink im
Moods in Zürich in voller Länge erleben kann, machen den
Film zu einem großartigen Musik-Filmdokument.
Immer wieder taucht die Präsens von Intakt Records in Person
von Rosemarie Meier und Patrick Landolt auf, kein Wunder, beginnt
doch mit Irène Schweizer die Existenz dieses heute nicht mehr
weg zu denkenden Labels in der internationalen Improvisierten Musik.
Hans-Jürgen von Osterhausen,1/2007, Jazzzeitung,
Deutschland

Frances Morgan, The Wire, Dec 2016
to:
www.intaktrec.ch
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