Mit ihrem dritten Album beweisen Christoph Irniger, Raffaele Bossard und Ziv Ravitz einmal mehr ihre Kunst, neues Terrain zu betreten und dabei selbst die kleinsten Details nicht ausser Acht zu lassen. Begleitet werden sie auf "Open City" von Loren Stillman und Nils Wogram.
Alles habe angefangen mit ei-ner Basslinie und einer Melodie, erklärt Christoph Irniger im Gespräch. 2015 verbrachte der 42-jährige Zürcher mit seiner Familie nach 2011 zum zweiten Mal sechs Monate in New York. "Ich habe damals an vielen Jam Sessions teilgenommen und die Mehrzahl der Stücke, die gespielt wurden, bestanden aus diesem simplen Konzept, das eigentlich ganz dem Prinzip von Ornette Coleman verpflichtet ist. Man hat eine Grundstruktur und dann schaut man, was passiert." Und so schrieb er auch einen Song, der diesem Muster ent-spricht. "Es ist ein Stück, das sehr offen ist und aus dem, ohne dass ich dies geplant hätte, ein 11-Takt-Blues wurde", schmunzelt er.
Dieser Blues, dem ein Takt fehlt, heisst "Open City" und ist das Titelstück des neuen, dritten Albums des Christoph Irniger Trios. Der Titel ist dem gleichnamigen Roman von Teju Cole entnommen. Julius, der Held des Buches, durchstreift die Strassen New Yorks, allein und ohne Ziel. Während er sich treiben lässt, reflektiert er über seine
Existenz, die sich in der vor ihm aufblätternden Stadt reflektiert.
Irniger macht keinen Hehl aus seiner Faszination von der Metropole am Hudson. Er schwärmt von ihrer kulturellen Vielfalt, dem künstlerischen Potenzial, das sich schier endlos manifestiert. Das erste Album des Trios hiess "Gowanus Canal", 2013 erschienen, benannt nach dem Kanalsystem, das sich mäandernd durch einen Teil Brooklyns zieht. "Ich hatte in der Nähe des Kanals meinen Übungsraum. Er ist ein bizarres Symbol des Quartiers, um das sich unendlich vie-le Geschichten ranken. Etwa, dass die Mafia in dieser Pfütze ihre Leichen deponiert haben soll."
Wer heute acht Jahre später den Gowanus Canal betrachtet, erkennt ihn kaum wieder. Künstlerische Kollektive, Jazz-clubs, Experimentierfelder, Bioläden und neuer Wohnraum: Der Ort verändert sich stetig und unaufhaltsam weiter. Genau so wie das Spiel des Trios, dessen Tondichtungen und Klangmalereien dank der Stadtwanderungen des Bandleaders im selben Zusammenwirken von Identität und Erinnerung immer wieder neue Bahnen brechen.
Dieser kompakte und doch stets flüssige Sound von Raffaele Bossard, Ziv Ravitz und Christoph Irniger hat zudem auf dem neuen Album Gesellschaft erhalten. Altsaxophonist Loren Stillman ist auf allen zehn Kompositionen (acht von Irniger, zwei von Bossard) zu hören, auf deren drei stösst Irnigers langjähriger Freund, Posaunist Nils Wogram, hinzu. "Für mich war im Vorfeld klar, dass ich mit einem Gast eine zusätzliche Farbe reinbringen wollte. Loren Stillman hatte ich schon lange im Kopf. Seine Soli sind so kohärent aufgebaut, wie aus einem Guss. Sie sind ein wahres Statement. Seine Art des Spiels hat auch mich als Saxophonist enorm weitergebracht", erklärt Irniger. "Gleichzeitig", betont er weiter, "ist es mir wichtig, dass man das Trio als Grundton deutlich heraushören kann, deshalb kam dann in einem weiteren Schritt noch Nils Wogram hinzu."
"Open City" ist ein schillerndes Statement, ein groovender, mal wuchtig, dann wieder zärtlich ineinander verzahnter, urbaner Soundtrack und gleichzeitig auch eine Reise durch das kollektive Denken eines Trios, von dem Irniger nicht ohne Stolz sagt: "Ich wage zu behaupten, dass wir einen sehr eigenständigen Sound haben." Er schwärmt von seinen beiden langjährigen Mitstreitern, von Ziv und dessen "typisch frischem New York Sound à la Marcus Gilmore oder Eric Harland" und von Raffaele, der "tief in der Tradition der grossen, alten Bassisten des Jazz" steht. "Gemeinsam mit meiner eigenen musikalischen Sprache ergibt sich daraus etwas völlig Eigenständiges." In der Tat: "Open City" ist alles, was der Titel verspricht: eine Wanderung in zehn Kapiteln, in denen sich die Stadt in all ihren feinsten Verästelungen widerspiegelt. Gleichzeitig aber auch sämtliche Türen offen hält, damit sie lebendig bleibt, sich stetig verändern kann und uns neue Sichtweisen eröffnet. Morgen wird sich auch der Gowanus Canal einmal mehr gewandelt haben und dieses Trio wird uns dann mit seinen Reflexionen aufs Neue überraschen.