Am Kern dran
Sie ist mit ihrem Lisbeth Quartett hierzulande anerkannt.
Doch die Jahre in New York, wo sie wohnt, haben Saxophonistin CHARLOTTE GREVE entscheidend geprägt und geweitet. Sie möchte sich nicht festlegen lassen und tut in Folge vieles, das sehr unterschiedlich ausfällt - immer im Einklang mit ihrem Wesen aber.
WENIGE STUNDEN VOR IHREM AUFTRITT in der Darmstädter Stadtkirche bin ich mit Charlotte Greve in einer Bar um die Ecke verabredet. Es ist der vorletzte Abend ihrer Tour mit dem Lisbeth Quartett. Die neue CD >>Release<<< (Intakt) ist letztes Jahr erschienen und wird in diesem Winter auf einer Reise durch Deutschland, die Schweiz und Italien präsentiert. Nach dem Konzert in Darmstadt geht es am folgenden Abend noch ins bereits ausverkaufte A-Trane nach Berlin. Dann wird Greve wieder alleine zurück nach Brooklyn fliegen, denn die Wahlheimat der in Uelzen geborenen Saxophonistin ist seit über einem Jahrzehnt New York. Beim Treffen umgibt Greve ein Hauch von Melancholie gepaart mit zufriedener Erschöpfung.
Es hätte nicht unbedingt die Welthauptstadt des Jazz sein müssen, sagt Greve: »Aber eine große Stadt mit einer brodelnden internationalen Musikszene hat es schon gebraucht.<<< Es ging darum, sich selbst auszuprobieren: »Und wenn man das schafft, gibt es einem Selbstbewusstsein, Ideen und Energie. Es hat mir einfach gut getan.<<<
Vielleicht war es der frühe Erfolg, der Greve dazu bewog, es in einer anderen Umgebung ganz von vorne zu versuchen. Mangelnde Anerkennung war es jedenfalls nicht, die Greve nach New York getrieben hat: Schon bei ihrem Erscheinen auf der deutschen Jazzszene wurde sie in den Medien als sympathische, zielstrebi ge Künstlerin mit absolut eigenständigem musikalischen Profil wahrgenommen. 2012 wurde die heute 35-Jährige mit dem ECHO Jazz als Newcomerin des Jahres ausgezeichnet. 2022 bekam sie den deutschen Jazzpreis als Künstlerin des Jahres. Ihr Markenkern ist das seit zwölf Jahren in konstanter Besetzung spielende Lisbeth
Quartett, das nach fünf CD-Produktionen und unzähligen Auftritten von Kritik und Publikum gefeiert wird.
Erste Beziehungen zu New York hatte Greve bereits als 19-Jährige beim dreimonatigen Au-pair-Aufenthalt in einer Diploma-tenfamilie geknüpft. Als sie später in Berlin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler ihren Bachelor vorbereitete, kehrte sie für zwei Monate nach New York zurück. Sie nahm Unterricht und versuchte herausfinden, ob sie noch einmal für länger hier leben wollte. Sie wollte. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihr ein Jahr an der New York University. Sie errang eine Verlängerung des Stipendiums und schloss nach zwei Jahren das Studium mit dem Master ab. Jeden Abend war sie alleine in den Jazzklubs unter-wegs: >>Ich hatte mich in die Stadt verguckt.<<<
In Berlin hatte Greve da bereits ihr erfolgreiches Lisbeth Quartett, spielte in ein paar Bigbands, war zwar sonst kaum als Side-woman unterwegs, fühlte sich aber bereits festgelegt. Jeder schien zu wissen, wie sie spiele und welche Musik sie mache. Dabei war sie noch auf der Suche ... Greve: >> In New York kannte mich keiner. Das ist einfacher. Man fühlt sich freier und kriegt mehr Mut.<<<
Natürlich hatte die Stadt nicht auf sie gewartet. Es brauchte einen langen Atem. Sie hielt sich mit Jobs über Wasser. Nach fünf Jahren aber wurde sie wahrgenommen und für Projekte angefragt. Und sie startete ihre Band Wood River. Der Auslöser war eine Komposition, die im Lisbeth Quartett mit seinem streng akustischen Line-up nicht funktionierte. >>Der Mittelteil dieses Stückes brauchte Synthies und Gitarre - also Lautstärke und viel Sustain. Da habe ich gemerkt: Ich brauche noch eine andere Band, wo ich das mehr ausleben kann«, sagt Greve. Wood River mischt Ambient, Progressive Rock und Spurenelemente von Jazz zu gesangsorientierten Popsongs zusammen. Anfangs spielte Greve dort nur Saxophon, nahm aber bald elektronische Sounds dazu und begann ein paar Töne zu singen. Später schrieb sie auch ihre eigenen Texte. >>Niemals hätte ich in Berlin gewagt, mit dem Singen anzufangen<«, sagt sie.
Viel Anerkennung auch außerhalb der Jazzszene brachte Greve das Crossover-Chorprojekt >>Sediments We Move«. Der Anruf einer Schulfreundin, die im Berliner Chor Cantus Domus singt, gab den Anstoß für die Idee, ein Stück für vierstimmigen Chor und Saxophon zu schreiben. Der ambitionierte Laien-Chor hatte schon Projekte mit Songwritern wie Damien Rice und Bon Iver gemacht. Es gab keinen Kompositionsauftrag, keine Fördermittel, nur sehr viel Arbeit und die Herausforderung, sich einen ganz neuen musikalischen Bereich zu erarbeiten, aber Greve hatte große Lust darauf, den Klang zweier unterschiedlicher Sphären miteinander zu verbinden - sie hat von der New Yorker Mentalität was gelernt. Crowdfunding machte zum Schluss auch eine CD-Produktion möglich. Daraus entwickelten sich Folgeprojekte, weitere Aufträge und wieder neue Kontakte, abseits der Jazzwelt