Umbra I - Offene Formen, fremde Farben
Umbra I ist das offenste, am stärksten dezentrierte Werk der Reihe. In zehn Klangstudien erforscht das Duo gemeinsam mit seinen Gästen Brandon Seabrook (Banjo), DoYeon Kim (Gayageum), Peter Evans (Piccolotrompete) und Russell Hall (Bass) unerhörte Klangpotenziale. Besonders markant ist der Einsatz der Gayageum, einer traditionellen koreanischen Wölbbrettzither, deren metallisch flirrende Klänge zwischen perkussiver Attacke und melismatischer Biegsamkeit changieren. Der Klangkörper dieser Zither verleiht der Musik eine fernöstliche Färbung, die jedoch nie folkloristisch wirkt -sie wird zum Bestandteil eines vielschichtigen, globalen Klangkontexts.
Neben der ungewöhnlichen Instrumentierung ist auch die dezente elektronische Klang-manipulation zentral für Umbra I. Stemeseder setzt gezielt digitale Verfremdungstechniken ein, um den akustischen Raum subtil zu dehnen, zu verschieben, zu irritieren. Es sind keine vordergründigen Effekte, sondern mikrotonale Verschiebungen, räumliche Dissonanzen, kleine Brüche in der Textur, die den Eindruck ständiger Bewegung und Unsicherheit erzeugen. Die Elektronik wirkt nicht als Zusatz, sondern als integrales Element des kompositorischen Denkens – ein Werkzeug, das die fragile Balance zwischen Materialität und Abstraktion weiter zuspitzt. Das Ergebnis ist eine Musik, die sich jeder Einordnung entzieht - zu frei für Jazzpuristen, zu strukturiert für freie Improvisation, zu sperrig für das breite Publikum. Genau darin liegt ihre Kraft: Umbra I ist eine radikale Verweigerung von Konvention, eine offene Form, die das Disparate nicht versöhnt, sondern produktiv macht.
Umbra II - Tradition unter Spannung
Mit Umbra II schließt sich ein Kreis, ohne sich zu wiederholen. Wieder mit Peter Evans und Russell Hall erweitert zum Quartett, wendet sich das Duo einer stärker akustischen Klangsprache zu. Aufgenommen im legendären Van Gelder Studio, schwingt hier nicht nur Geschichte mit - die Musik selbst ist durchdrungen von jazzhistorischen Resonanzen. Im Unterschied zum elektronisch strukturierten Vorgänger wird hier vollständig akustisch musiziert, doch die zuvor eingesetzten Techniken der Klangverfremdung wirken nach. Der Umgang mit Raum, Textur und Dynamik bleibt elektronisch geschult – man hört in der Struktur, was zuvor noch in Effekten lag. Die Musik ist kompakter, dichter, aber nicht glatter, obwohl die Jazzanklänge vertraut wirken. Die Spannungen sind nicht aufgehoben, sondern unter die Oberfläche verlegt. Umbra II zeigt: Auch innerhalb „klassischer" Bandkontexte kann Radikalität wirken - nicht als Geste, sondern als Haltung.
Umbra III - Die Zukunft ist offen
Mit Umbra III öffnet sich ein neues Kapitel -intensiver, dichter, gleichzeitig noch stärker ins Offene gewandt. Die Aufnahme entstand live unter Coronabedingungen 2021 beim Jazzfestival Saalfelden mit Craig Taborn als Drittem im Bunde. Wo Umbra II noch im Resonanzraum des Bop wurzelte, steht Umbra III für eine komplexe Intertextualität: Hier begegnen sich europäische und amerikanische Avantgarde, nicht als Antipoden, sondern als vielstimmige Referenzräume. Die Musik lebt von Reibung. In der Begegnung von Taborns und Stemeseders Pianowelten -ergänzt durch Spinettklänge - und Lillingers perkussiver Energie entfaltet sich ein dreistimmiges, sich ständig verschiebendes Klanggeflecht. Stränge laufen parallel, reiben sich, stoßen sich ab, finden kurz zueinander, nur um gleich wieder auseinanderzudriften. Es gibt keine Auflösung, keine „Lösung" - nur Prozesse. Umbra III zeigt, wie in einem Moment globaler Verunsicherung musikalische Energie utopische Räume schaffen kann. Die Musik tänzelt auf der Grenze des Verständlichen, bleibt dabei aber körperlich erfahrbar. Klang wird hier nicht nur als Bewegung verstanden, sondern als lebendige Struktur, die sich permanent verändert. Die Gegen-sätze - akustisch/elektronisch, komponiert/improvisiert, strukturiert/chaotisch – werden nicht aufgelöst, sondern bewusst ausgestellt. Klang als Möglichkeit
So bilden Umbra I-III eine Art musikalisches Triptychon über das Spannungsverhältnis von Struktur und Freiheit, Klang und Geste, Vergangenheit und Gegenwart. Kein Projekt der Wiederholung, sondern der Differenz. Oder um es mit dem Philosophen Ernst Bloch auszudrücken, es ist eine permanente „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". In einer Zeit, in der stilistische Sicherheit oft höher geschätzt wird als künstlerisches Risiko, setzen Stemeseder-Lillinger – und ihre Gäste ein starkes Zeichen: Dass neue Musik nicht gefällig sein muss, um zu bewegen. Und dass Avantgarde - egal ob akustisch oder elektronisch grundiert – in ihren radikalsten Momenten immer auch eine Frage der Haltung ist.