Ein Saxophon-Koloss
Mit gleich mehreren neuen Veröffentlichungen beweist James Brandon Lewis, warum er bereits jetzt zu den ganz Großen des Jazz gezählt werden darf.
Ornette Coleman entwickelte ein schier unverständliches musiktheoretisches System mit Namen „Harmolodics", das eine Art Befreiung von den akkordischen Einschränkungen des Jazz beschreiben und weit über das modale Spiel eines Miles Davis hinausgehen sollte. Henry Threadgill entwarf eine „intervallic language", eine serielle Sprache, in der sich von Takt zu Takt Intervallreihen verändern und verschieben. Anthony Braxton veröffentlichte ein dreibändiges musik-philosophisches Werk mit dem Titel „Tri-Axium Writings"; seine Kompositionen sind oft in grafischen Modellen notiert, die eher mathematischen Gleichungen und Diagrammen ähneln. Es scheint bei den avantgardistischen Vertretern des Jazz insbesondere bei Saxophonisten einen Hang zum theoretischen Überbau zu geben. Beim vermutlich versiertesten und interessantesten Saxophonisten und Komponisten seiner Generation, James Brandon Lewis, darf das ebenfalls konzediert werden: „Molecular Systematic Music" nennt er sein Modell. Die dahinterstehende Idee sei es, so erklärte er mal, wissenschaftliche Theorien als Methode zur Konstruktion von Musik zu verwenden. Improvisationen werden da in komplexe Systeme wie eine Doppelhelix übersetzt (und umgekehrt), es geht um Intervalle als Informationsstränge und um die vier grundlegenden harmonischen Umgebungen, die Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin entsprächen, den Basen eines DNA-Moleküls.
Das Tolle an diesen Versuchen, dem genialischen Moment des Spiels eine wissenschaftliche Beschreibungsebene unterzujubeln: Sie mögen den kreativen Prozess erklären oder sogar vorantreiben, beim Hören von Lewis' Alben verwandelt sich der akademische Ballast aber sofort in schwerelose Schönheit, die mehr als an Coleman, Threadgill oder Braxton an die spirituelle Energie John Coltranes, Pharoah Sanders' oder Albert Aylers denken lässt und an die Power eines Sonny Rollins, von dem Lewis auch einen Sinn für affizierende Melodielinien geerbt zu haben scheint. Mit all diesen Namen tut sich nicht nur eine Ahnenreihe auf. Sondern mit ihnen ist auch ein Anspruch verbunden, den der 1983 in Buffalo, New York, geborene James Brandon Lewis mehr und mehr einlöst. Sein Ton, rau und kräftig, zuweilen von der rauchigen Wärme Coleman Hawkins' und des späten Bluesman Archie Shepp durchdrungen, sucht seinesgleichen. Und seine vielseitige Produktivität ebenfalls: Allein in den letzten Monaten sind vier Alben erschienen, die den Traditionshorizont und die Zeitgenossenschaft von Lewis aufzeigen können.
Mit seinem wunderbar eingespielten Quartett Aruán Ortiz am Piano, Brad Jones am Bass und Chad Taylor am Schlagzeug - hat er gerade beim Schweizer Avantgarde-Label Intakt ein raumöffnendes, soghaftes Album veröffentlicht: „Abstraction Is Deliverance" erscheint, im Vergleich zu Vorgängeraufnahmen, geradezu balladesk angelegt, das Hymnische von Lewis' Spiel ist absolut präsent, aber verhaltener und auf subtilere Weise expressiv. Das erste Stück „Ware" ist dem Free-Jazz-Saxophonisten David S. Ware aus dem Umfeld Cecil Taylors gewidmet, den man als Bindeglied zwischen Ayler und Lewis betrachten könnte.
James Brandon Lewis mag es, mit seinen Alben Geschichten zu erzählen, immer neue, in unterschiedlichen Klangfarben, Grooves, Tonalitäten. Früher in diesem Jahr ist die von Hip-Hop-Rhythmen und Funk bestimmte Platte „Apple Cores" herausgekommen, wieder mit dem langjährigen Wegbegleiter und umtriebigen Schlagzeuger Chad Taylor und mit Josh Werner an E-Bass und Gitarre. Es ist eine pulsierende Improvisation, eine wilde Jamsession, die sich zum einen auf Schriften des afroamerikanischen Poeten und Aktivisten Amiri Baraka bezieht und zum anderen im Dialog mit Don Cherrys Werk steht und dessen „musikalische Neugier kommentiert" (Lewis).
Diese musikalische Neugier muss man auch dem neuen Saxophone Colossus attestieren: Nicht lange her, da hat Lewis mit der aus der Hardcore-Szene heraus entstandenen Band The Messthetics bei Impulse! ein Album eingespielt. Die Gruppe besteht aus Joe Lally am Bass und Brendan Canty an den Drums, ehemaligen Mitgliedern der Punk-Band Fugazi, sowie dem Gitarristen Anthony Pirog. Deren energiegeladener Instrumental-Rock ist so direkt und roh, dass er so manches Fusion-Projekt der Vergangenheit wie laue Fahrstuhlmucke erscheinen lässt. Er möge eben Tenor-Sounds, die ein bisschen Fleisch haben, sagte Lewis mal.
Aber es geht noch mal ganz anders: Bei Manfred Eicher hat er vor Kurzem sein ECM-Debüt vorgelegt, im Quartett mit Giovanni Guidi (Piano), Thomas Morgan (Bass) und João Lobo (Schlagzeug). Auf „A New Day" ist eine kammermusikalische Zurückgenommenheit zu entdecken, eine ausdifferenzierte Form von Spiritualität, die wenig mit der Intensität eines Albert Ayler zu tun hat, mehr mit der nordischnüchternen Eso-terik klassischer ECM-Aufnahmen.
Apropos Ayler – mit dem teilt Lewis d...