Eigentlich könnte man erwarten, dass Barry Guy nach 20jähriger Arbeit den Rahmen und die Richtung für das London Jazz Composers’ Orchestra festgelegt hätte. Die enorme Kraft der Komposition «Double Trouble» für das 17köpfige Orchester, wo inmitten eines beträchtlichen Tumultzustandes ein diffiziles Gleichgewicht zu halten versucht wird, vermittelt jedoch vielmehr den Eindruck, dass Guy das beinahe unerschöpfliche Potential eines herausragenden Ensembles immer wieder aufs neue auszuloten versucht (und zum Ausbruch bringt).
«Double Trouble», das wohl kraftvollste Werk in der „dritten Ära“ des LJCO – so Barry Guy -, ist in seiner Gesamtheit ein aufrüttelndes Erlebnis. Das ist emotionale Sprache, gewiss, aber angesichts der Wirkung, die die Aufführung hervorruft, ist es schwer nüchtern zu bleiben. Der Titel bezieht sich auf die ursprüngliche Konzeption als Doppel-Konzert für die Pianisten Howard Riley und Alexander von Schlippenbach, die dabei beide je im Rahmen des LJCO beziehungsweise des Globe Unity Orchestra auftreten. Angesichts der schier unglaublichen Kraftentfaltung der hier vorliegenen „einfachen“ Version von «Double Trouble», lässt sich der Tonsturm, den die beiden Grossorchester zusammen erzeugen, nur schwer vorstellen. Es gibt schon hier so heftige Momente – zum Beispiel wenn das gesamte Orchester die Furore des Trios Guy, Evan Parker und Paul Lyton begleitet –, dass die Grenzen des Erträglichen fast erreicht werden. Dies ist gefährliches Gelände, äusserst schwierig darin standzuhalten und ebenso schwierig, den Überblick zu bewahren: wenn sich vereinzelte Instrumentalistengruppen vom Kern der Komposition loslösen, muss die Versuchung gross sein, den Sturm sich austoben zu lassen und ihnen zu gestatten, Musik und Orchester Wer-weiss-wohin mitzureissen. Diese Enerige aber im falschen Moment abzudrosseln läuft Gefahr, eine solch ausgedehnte Komposition auf eine Reihe von zufällig aneinandergereihten Episoden zu reduzieren.
Es ist Barry Guys Verdienst, dass die Komposition «Double Trouble» auch dort kohärent ist, wo sie in rasendem Tempo eine nicht absehbare Richtung einschlägt. Als erste Hauptstütze erweist sich Howard Riley: sein doppelfäustiges Solo hört sich an, als ob zwei Musiker am Klavier wären, doch sein Solo-Spiel hat genau die feste Struktur, die das Werk als ganzes sich zunutze zu machen sucht. Von diesem Punkt aus entwickelt sich die Komposition durch eine Reihe von Instrumentalkombinationen und wird zwischenhinein mit kurzem, punktuell eingesetztem Kollektivspiel strukturiert. Was die Gruppenzusammensetzungen bedingt, ist das, was Barry als „statistische Gewichtsstreuung“ bezeichnet. So wird Phil Wachsmanns fragiles Spiel neben Barry Guys dröhnendem Soundteppich in einen Dialog mit dem vollen Orchester eingewoben, während das Trio Parker-Guy-Lytton aus dieser Passage mit der ihm eigenen, unwiderstehlichen Kraft hervorgeht; und die von Peter McPhail und Steve Wick betretenen Pfade wirken gerade vor dem schlichtesten Hintergrund.
Als „Bauch-Hörerlebnis“ vermag «Double Trouble» sowieso zu bestehen – was diejenigen befriedigen sollte, die Improvisation primär für eine kopflastige Auseinandersetzung halten (Häresie vielleicht, doch könnte dieser Zugang weiter verbreitet sein als manche Leute annehmen mögen). Wiederholtes Anhören der Aufzeichnung offenbart aber auch die Anziehungskraft, die Guys Komposition auf die Musiker ausübt. Nur bei aufmerksamstem Zuhören stellen sich die Komplexitäten von Barrys Partitur heraus, besonders bei der Saxophonsektion, die im Anfangsteil der Komposition Töne hervorzubringen hat, die sich wie improvisierte, ungestüme Stösse anhören. In Wirklichkeit werden sie in ausführlichster Einzelheit vorgezeichnet. Die Einführung melodischer Motive ist eine Hauptbedingung des musikalischen Kontinuums: die Orchesterpassage, die Rileys mächtigem Zwischenspiel folgt, besitzt eine harmonische, Bley-ähnliche Melancholie, und das Zusammenspiel und die Koda am Schluss haben den Charakter einer sinfonischen Wiederholung – allerdings in einer etwas unkonventionellen From!
Das alles mag diejenigen überraschen, die erwarten, dass das LJCO entweder auf überaus akademische Art oder als Verkünder eines apokalyptischen Orchester-Blowouts auftritt. Das Schöne an «Double Trouble» ist aber seine eigentliche Harmonie: Zwichen Solisten und Orchester; zwischen Guys Komposition und der Möglichkeit freier persönlicher Entfaltung; zwischen Improvisatoren verschiedener „Generationen“, von der Erfahrung eines Paul Rutherford und Marc Charig zu den vergleichsweisen Newcomers wie Peter McPhail und Simon Picard; und vielleicht, zwischen einer Ordnung und grossartiger Unordnung.
Mit jeder Aufführung des LJCO wird die Reichhaltigkeit dieser Übereinstimmung weiter erschlossen. Das Stück «DoubleTrouble», so wie man es in Zürich hörte, mag nicht mehr als eine Fahrtunterbrechung auf einer Reise gewesen sein, die schon 20 Jahre dauert und immer noch weitergeht. Aber gut ist, dass es hier vorliegt, als Andenken einer belebenden, leidenschaftlichen Aufführung, auf die man gerne zurückgreift. Das LJCO ist immr noch ein Ensemble, das allzu selten auftritt, mit einer verhältnismässig kleinen Schar von AnhängerInnen. Möge «Double Trouble» diesem grossartigen Ensemble weitere Ohren und Türen öffnen.
Richard Cook, Liner Notes
Richard Cook ist Redaktor der britischen Musikzeitschrift «The Wire»