«Plié» ist so etwas wie ein Knicks, ein Kniebeugen, ein Tanzschritt. Ballettsprache. Jedenfalls habe es etwas mit Tanzen zu tun, sagt Sommer. Was Petrowsky sagt, klingt ähnlich, ist aber vielleicht etwas anders gemeint. Das Zentralquartett handelt auch nach zwanzig Jahren noch nach den Prinzipien der direkten Demokratie. Oder war das damals anders? Aber das ist eine andere Geschichte.
Aber nicht vergessen. Hören Sie Conference bei Lutens! Da ist er wieder. Der Sound des Aufstands, den ehrenwerte Historiker vielleicht etwas zu früh der Tradition zugeschrieben haben. Eher einer Tradition des Ausstiegs. Bestenfalls eines völligen Ausstiegs aus dem Anderen. Weg von der afroamerikanischen, schwarzen Musik, die einst einfach Jazz hieß. Das wollte keiner so, sagt man heute. Das Zentralquartett swingt. Schon immer swingen wollten?
Der Sound der Vorstädte und der Konferenzen. Die Urzeiten von Synopsis, dem Vorläufer des Zentralquartetts. Sessions in Pretowskys Hütte am Rande Berlins, um die Ecke vom Großflughafen. Landhaus nennt Gumpert das. Kompositionsexperimente und Diskussionen über Musik, stundenlanges Beisammensitzen und Schwatzen.
Damals in den sechziger Jahren, als Jazz von der Voice of America in Tanger um ein Uhr nachts in die ostdeutschen Wohnzimmer gesendet wurde. Petrowsky kann sich an 32 Takte Piepsen, swingenden Groove erinnern und daran, dass er nicht mal in den Osten abhauen konnte. Nicht mal in der polnischen Szene untertauchen, das hätte Petrowsky getan. Die DDR war jedenfalls sehr weit weg von den Quellen.
Deshalb gab es damals auch diese fürchterliche Prüderie und diesen unbeholfenen Wolga-Don-Swing zwischen behäbigen Marschrhythmen und klassischen Musestimmungen.
Vernachlässigung, Entbehrung. Punkt. Dann die Unabhängigkeit, die Theoretiker, die Euphorie, die Sorgen und Nöte. Swing war für die Orthodoxen tabu, «Kindergarten!», das lässt sich heute leichter sagen. Aber die Leute gehörten dazu, oder nicht? Aber das ist eine andere Geschichte.
«Plié» bedeute auch Verbeugung, Rückkehr zu den amerikanischen Wurzeln, Besinnung, Statement. Sagt Petrowsky. In gewisser Weise stimmt Bauer zu, aber nicht ganz. Improvisierte Musik, sagt Bauer, und das Zentralquartett, die Vierergruppe des DDR-Jazz. Direkte Demokratie. Auch Verpflichtung dem Publikum gegenüber, Offenlegen von Ideen, politischem Denken, Suggestion und Autosuggestion.
Und Peitz, das Fischerdorf bei Cottbus. Open Air und Free Jazz, Rausch und Ruhe. Das ganze Zwischen-den-Zeilen-Ding und der Glaube, dass zwischen den Klängen noch mehr zu finden sei. Free Jazzer, die so populär wurden wie Rockstars. Die Leute in den grauen Parkas, die Geheimpolizei, konnten mit dieser Musik genauso wenig anfangen wie die Staatsbosse, sagt Petrowsky. Ein Zitat von Uschi Brüning, der einsamen Sängerin.
Halb-5, Bauer mag Stufenbarren, der Trick mit der Spannung funktioniert durch Halbieren. Was sich geändert hat? Telefonnummern. Und dass es früher ein Privileg war, nicht jeden Morgen zur Arbeit zu gehen. Heute scheint es, als blieben alle zu Hause. Mit einem Ausdruck des Erstaunens erklärt Bauer, dass Halb-5 afrikanisch klingt, das jedenfalls hätten ihm die Leute einmal nach einem Konzert gesagt. Vor drei Jahren war er in Nigeria. Ansonsten hat seine Reiselust seit der Grenzöffnung eigentlich nachgelassen. Dass man das Zentralquartett sogar in New York kennt, hätte er wirklich nicht erwartet. Und in Kanada. Und in Japan.
Marul ist der Name eines kleinen Dorfes in den österreichischen Alpen, vier bis sechs Häuser mit Kirche, aber ohne Durchgangsstraße. Seine Oase, sagt Sommer, zum Skifahren, Komponieren, Entspannen; derselbe Sommer, der einst für Hit Pieces verantwortlich war. Vor vier Jahren brach er zu einer langen Reise auf, eigentlich wollte er nach Italien, blieb aber in Konstanz hängen. Die Band probte für diese Aufnahmen am Bodensee, Conference at Baby’s. Und Plié für Inge, die Tänzerin, die auch dort lebt.
Der Blues kommt von Gumpert, sagt Bauer. Er war schon immer ein Fan von Blue Note-Platten. Altersweisheit, sagt Sommer. Innerer Zwang, sagt Petrowsky. Für ELP. Gumperts Geburtstagsständchen zu Lutens Sechzigsten. Da ist was schiefgelaufen. Die Markowitz-Bluesband und Uschis Gesang, die große Tradition der Adderley Brothers, nur für Luten alias Petrowsky. Markowitz, der schlagfertige TV-Cop, der nach der Wende im Rausch in den ehemaligen Zonen Berlins nach Verbrechern sucht. Der im ganz privaten Dreck wühlt und auf dem Bildschirm demonstriert, dass die Geschichte Spuren hinterlässt. Narben, die tief gehen. Wie zweiunddreißig Takte Pieptöne. Lamprechts Rolle und Gumperts Musik. Markowitz wird laut Drehbuch so geschrieben, wie er gesagt wird.
Die Weisheit des Alters, sagt Sommer. Nicht immer allein für Hit Pieces! Fünf Miniaturen verantwortlich zu sein. Die Band klingt wie ein großes Orchester mit mehreren Kontrabässen. Das Geheimnis dieses gewaltigen Klangs wird nicht verraten. Zwei große Trommeln, unbequeme Positionen, der Alt im Tenorbereich: Materialforschung. Die Miniaturen seien die am deutlichsten wiederholbaren Teile, erklärt der Komponist. Hier entwickelt sich nichts in etwas anderes, alles dreht sich um einen klaren Umgang mit vorgegebenem Material. Als Schlüsselwort wird «Linear» genannt und «Partitur» auch.
Rue Sthrau, eine kleine Straße und ein kleines Hotel im Südosten der Seine-Metropole. Viele Ausländer wohnen hier. Hier ist auch das Zentralquartett untergebracht. Der Stadtteil habe wirklich etwas, sagt Gumpert.
Zusammenkommen und funky Riffs. Solus? Nein, Soul Plexus, Soul wie in spiritueller Soul. Blueslastiges Theater ist Petrowskys Kommentar.
Und Schmetterling. Das erinnert Bauer an seine Tanzmusik-Zeiten in den 60er-Jahren. Hat nichts mit dem Flattern eines Schmetterlings zu tun, eher mit «schmettern», was so viel heißt wie schmettern, wie eine Trompete. Ein Wortspiel.
Vieles wurde damals übertrieben. Das Volksliedmaterial war als Sticker einst sehr erfolgreich. Einst mehr für Gumperts Workshop Band, aber auch für das Zentralquartett. DDR-Volksmusik und eigener Jazz? Nein, das war nie unsere Absicht, sagt ausgerechnet Gumpert. Aber das Lied und der Free Jazz, das war das Zentralquartett, sagt Bauer.
Exotik-Bonus? Hinter der westlichen Fassade sieht Petrowsky mafiöse Strukturen bröckeln. Wohin mit den großen Namen? Sie werden einzeln mit anderen zusammengetan, für irgendwelche Old School-New School-Bluffs oder andere fragwürdige Festival-Geschäfte auf die Schlachtbank geschickt. Das Zentralquartett spielt mittlerweile etwa zehnmal im Jahr. Jeder hat seine eigenen Projekte, jeder schafft es irgendwie, sich über Wasser zu halten. «Das Wichtigste geschah, als es noch eine DDR gab und wir reisen durften», sagt Gumpert. In den Achtzigern, in Island: Nervenkitzel, Kick. Und was wurde aus der Tradition, was kam danach? Eigener Stil und Meinungen. Underdog-Status, niedrige Gehälter, Privatquartiere und Manager-Blues, Fax, Computer und Subventionsdschungel, irgendwie doch Alltag, normales Leben. Ein fieses kleines Willkommen in der Welt des Jazz. Ernüchterung. Der Exotik-Bonus hatte nichts mit der Musik zu tun.
Vor zwanzig Jahren hätten sie als konsequent improvisierende Gruppe begonnen, erinnert sich Bauer. Altersweisheit, sagt Sommer. Nicht mehr so unerbittlich frei, nicht mehr so verbissen entschlossen. Direkte Demokratie. Möglicherweise «Plié» vor der Jazztradition, im Sinne von Leichtigkeit, sagt Gumpert. Der die DDR-Vorgabe nie wirklich durchschauen konnte, aber weiß, dass Musik die größte Hure ist: Sie lässt sich für alles gebrauchen.
Auf die große Synopsis-Rebellion folgte einst das künstlerische Formgefühl, auf das Zentralquartett-Ost folgte das Zentralquartett-Nach-der-Mauer. Das Zentralquartett-Heute klingt irgendwie befreit. Und das nicht nur, weil die Herren älter geworden sind, die Systeme begraben und mit ihnen die großen Theorien. Ob die Gesellschaft ihren Ausdruck in der Musik findet? Nun, diese vier Anhänger der direkten Demokratie sind unterschiedlicher Meinung. Ob sich die Musik verändert hat?
Christian Broecking, Berlin 1994