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Unabhängige Musik seit 1986.
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044: IRÈNE SCHWEIZER. Many And One Direction – Piano Solo

Intakt Recording #044 / 1996

Irène Schweizer: Piano


Ursprünglicher Preis CHF 12.00 - Ursprünglicher Preis CHF 30.00
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CHF 30.00
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Aktueller Preis CHF 30.00
Format: Compact Disc
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«Ich arbeite bewusst in mehrere Richtungen.»
Sonja Sekula

«Viele und eine Richtung» – so lautet der Titel eines Bildes, das die Schweizer Künstlerin Sonja Sekula 1958 malte. Dunkle Pinselstriche ziehen sich in alle Richtungen über hellen Grund, Bündel gerader und geschwungener Linien, kaum sichtbares Weiss und Nuancen von Blassblau. Aus der Ferne betrachtet bilden sie eine beinahe schwerelose Figur.

«Viele und eine Richtung» – diesen Titel hat Irène Schweizer auch ihrer fünften Solo-CD gegeben, ein treffender Titel, der von einer künstlerischen Wahlverwandtschaft spricht. Sonja Sekula lebte nach vielen Jahren in New York bis zu ihrem Tod 1963 in Zürich und es wäre durchaus möglich gewesen, dass sie die 23 Jahre jüngere Irène Schweizer kennengelernt hätte – etwa im Jazzclub «Africana», den beide Frauen verkehrten. Die Begeisterung der Pianistin für das Werk der bis vor kurzem noch kaum bekannten und heute als bedeutende Schweizer Malerin anerkannten Künstlerin ist über all die Jahre konstant geblieben. «Man hat uns beiden vorgeworfen, keinen richtigen Stil zu haben. Sie hat zwar in mehreren Stilen und mit unterschiedlichen Techniken gemalt, aber ihre persönliche Handschrift ist unverkennbar. Und genau so arbeite ich auch.»

Abwechslung als Programm – so lässt sich Irène Schweizers Klaviermusik treffend beschreiben. Sie enthält von A bis Z alles: Improvisationen, die spontan entstehen – das Instant Composing; Themen, die sie als Ausgangspunkt nimmt und im Laufe der freien Erfindung verändert; Kompositionen, die sie schätzt und als festen Bestandteil ihres Repertoires bewahrt; Stücke «im Stil von», die sie als Hommage an bedeutende Musiker spielt; und schliesslich, ganz entscheidend, ihr musikalisches Material, das wie bei Sonja Sekula aus immer wiederkehrenden Motiven besteht. Bei der Malerin treten diese Motive als formbildende figurative oder abstrakte Elemente auf. Bei Irène Schweizer sind sie die rhythmischen und melodischen Keimzellen, die ihre Musik strukturieren und inspirieren.

Und Inspiration ist für die Musik dieser CD durchaus unverzichtbar, denn Irène Schweizer, die es gewohnt ist, in Konzertatmosphäre mit Duo- und Triopartnern in Dialog zu treten, spielt hier allein und ohne Publikum, ganz auf sich konzentriert. Eine Seltenheit. «Manchmal tauche ich einfach ein und fange irgendwo, irgendwo an und lasse mich treiben. Und plötzlich ergibt sich eine Phrase, die ich im musikalischen Geschehen verwende und die ich später vielleicht wiederhole oder variiere. Aber ich schreibe mir vorher nie etwas auf.» Ist das also die berühmte, vielgeschätzte künstlerische Inspiration, die wie Manna vom Himmel auf den Künstler herabfällt? Alles andere als!

Irène Schweizer schöpft aus sehr irdischen musikalischen Quellen, die sie sich in über vierzig Jahren angeeignet hat: unzählige Jazzstile und -techniken von traditionellem Jazz und Hard Bop bis Free Jazz, südafrikanische Black Music, weiße klassische Moderne und Avantgardemusik, Minimal Music, kollektive Erfahrungen der Feminist Improvising Group. Der Jazz der 1950er Jahre bleibt ihr Mittelpunkt, ihre musikalische Heimat; sein Rhythmus ist die treibende Kraft ihrer Phrasierung. «Ich bin Jazzmusikerin, und ich improvisiere auch frei.» Von dem verrückt-witzigen Machtspiel, mit dem sie manchmal noch identifiziert wird, hat sie sich längst distanziert. «Können um seiner selbst willen demonstrieren, sich durchs Leben drängen, in kurzer Zeit sehr viele Töne sehr laut spielen – das interessiert mich alles nicht mehr. Heute versuche ich, meinen Stücken mehr Raum zu geben, ich lasse sie atmen. Vielleicht wird man sagen, meine Musik sei konventioneller geworden, aber vielleicht ist sie einfach nur reifer.»

Fast klassisch – oder vielleicht klassizistisch – klingen Irène Schweizers neue Soli. Doch das ist nur die Oberfläche. Wer tiefer geht, findet sich plötzlich in einer Atmosphäre der Ruhe wieder, in der die Dramaturgie der dreizehn Stücke wie von selbst zu folgen scheint. Impressionistische Klangbilder wechseln mit rhythmisch komplexen Liedern, die eine wundersame Fröhlichkeit ausstrahlen. Subtile Sophistereien im Inneren des Klaviers weichen einem ununterbrochenen 12-Takt-Blues. Eine unbekannte, himmlische Ballade von Thelonious Monk bildet den Gegenpol zu einem ungestümen, wild artikulierten Thema von Carla Bley. Ein hypernervöser Sisyphos reißt durch die Szene, und ein melancholischer Frühling nimmt seinen Lauf. Mittendrin Irène Schweizer, souverän, ganz im Griff. Sie spielt mit Traditionen, beschwört John Cage, grüßt Erik Satie, verneigt sich vor Don Cherry, spielt ein Dollar-Brand-Finale – das in Wirklichkeit ihr eigenes Werk ist. Ihr Klavierspiel ist kraftvoll, geradlinig, oft perkussiv auf Klaviatur, Streichern oder Holz, äußerst feingesponnen, luftig und witzig. Romantisches Schwelgen in großen Klangwogen ist nicht ihre Art. Das überlässt sie anderen.

«Ich liebe Klarheit, Transparenz, schnörkellose Einfachheit.» Doch diese Musik ist alles andere als kühl und distanziert, denn der Hörer wird unmittelbar in ihre Entstehung einbezogen. Die immer wiederkehrenden Motive – ein Melodiefetzen, eine kurze rhythmische Klopffolge, zwei zusammengespielte Töne – sind das Terrain, auf dem wir uns Hand über Hand bewegen. Schwindelfreiheit ist nicht garantiert, Überraschungen sind angesagt, denn auch mit minimalem Material gehen der Künstlerin die Ideen nie aus. Irène Schweizers Formgefühl ist so phänomenal, dass sie ständig darauf angesprochen wird. Sie formt die Musik im Kopf, in den Ohren, auf den Tasten. Nicht auf dem Papier, denn wie sollte es möglich sein, all diese Nuancen niederzuschreiben? Sie presst ihre Stücke nicht in ein Korsett, sondern gibt ihnen einen Rahmen, in dem sie sich entfalten können. Die Form ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit. Obwohl alles seinen Platz hat, ist nichts festgelegt, alles ist jederzeit frei, davonzusausen, zu springen, zu fliegen. Freie Strukturen, daraus besteht diese Musik. Und es ist nie eine Note zu viel. Keine sinnlosen Läufe, kein Geklimper, nur weil das Klavier so viele Tasten hat. Alles trifft ins Schwarze. «Alles, was ich anfasse, ist etwas ruhiger geworden. Ich versuche, die Kunst des Weglassens von Noten zu kultivieren. Weniger Noten, mehr Musik.»

Die Kunst des Weglassens. Hier trifft Jazz auf Neue Musik. Miles Davis propagierte sie, aber auch Anton Webern und John Cage. Irène Schweizer kennt beide. Sie ist fasziniert von der Neuen Wiener Schule, vor allem von Weberns auf das absolute Minimum reduzierten Kürzestkompositionen. Und natürlich Cage, der die Saiten des Klaviers präpariert und so im Inneren des Instruments neue Klangwelten erschließt. Cage, der zeitweise mit Sonja Sekula im selben Haus in New York lebte, mit Merce Cunningham und Morton Feldman. Ein Zufall eben: der elementare Rhythmus des Jazz. Die überempfindlichen Klänge der Avantgarde. Die scheinbar zufälligen Zeichen der experimentellen Malerei.

«Viele und eine Richtung»: Irène Schweizer geht in viele Richtungen und verliert dabei nie die Orientierung. Mit klarem Verstand findet sie ihren Weg im Gewirr der Einflüsse, Traditionen und Stile. Was auch immer sie spielt, ihre individuelle Handschrift ist unverkennbar. Ihre Musik ist das Gegenteil von musikalischem Umweltschmutz, aber auch von Purismus und Sterilität. Es ist die konzentrierte Musikerfahrung von vierzig Jahren. Klare, schnörkellose, direkte Musik mit Sinn für Humor. So spielt sonst niemand.

Lislot Frei

Album Credits

Cover art: Rosina Kuhn
Fotos: Sylvie Luckner
Liner notes: Lislot Frei

All compositions by Irène Schweizer, except Ictus by Carla Bley and Chordially by Thelonious Monk. Recorded April 4, 1996, at Alte Kirche Boswil, Switzerland. Engineer: Peter Pfister.
Produced and published by Intakt Records. Executive production: Rosmarie A. Meier, Patrik Landolt

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