Tätigkeitsbericht - so hieß einst die autobiografische Rechtfertigungsschrift des Ludwig Poullain, eines Bankers, der in den späten siebziger Jahren die Hauptfigur eines Bankskandals war. Was das mit dem Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli zu tun hat? Nichts. Aber um mit den vielfältigen Aktivitäten des besten europäischen Schlagzeugers Schritt zu halten, braucht es eben ab und zu einen, genau, Tätigkeitsbericht. Hier ist er.
„Andreas hat mich eingeladen, ein Duo mit ihm zu spielen", schildert Lucas Niggli ganz schlicht die Entstehung des ekstatischen Tonträgers Tyr-Gly-Gly-Phe-Met, bei dem das Aufeinandertreffen des Vokalartisten Andreas Schaerer mit Niggli improvisierende Funken schlägt. „Geprobt haben wir nicht, die CD ist live und ohne doppelten Boden. Es war einer dieser unfassbaren und grandiosen Momente, wo man denkt:, Wie es in der Improvisation möglich ist, dass es so schlüssig und rauschhaft zugleich klingt!' Ich nehme das Wort nicht gerne in den Mund, aber es war eine Sternstunde."
Was nötig ist, um so etwas hinzukriegen, bringt Lucas Niggli nach kurzem Nachdenken auf den Punkt: „Mentale Frische. Und dass man keine Pläne macht. Das Faszinierende an der Improvisation ist ja, dass das Wissen darum, dass man auch scheitern kann, ein Teil der Sache ist. In Echtzeit zu musizieren, muss nicht funktionieren. Aber wenn es funktioniert, kann man in Regionen vordringen, in die man mit Üben und mit Komposition nicht kommt." Die Problematik, beim Improvisieren in Automatismen zu verfallen, ist Niggli durchaus bewusst. „Es wäre vermessen zu behaupten, man kann immer neu sein", konstatiert der Drummer. „Das geht nicht. Ich habe meine Sprache und arbeite mit diesem Vokabular. Wenn ich es schaffe, in Echtzeit mit meinem Rüstzeug, meinem Vokabular eine spannende Geschichte zu erzählen, dann bin ich ganz oben. Das ist die Kunst beim Improvisieren. Man muss nicht unbedingt versuchen,, neu' zu sein - aber man muss jetzt sein."
Über seinen Partner weiß Niggli natur-gemäß nur Gutes zu berichten. „Er ist eine Rampensau und ein Energetiker", grinst der Schlagzeuger. „Andreas hat ein unglaublich großes Ausdrucksspektrum. Zudem ist die Mischung aus Stimme und Schlagzeug sehr archaischdas gefällt mir. Stimme und Trommel ist ja die älteste Musikform überhaupt." Demnächst übrigens auch in einer Studio-Produktion: Bei Nigglis Stamm-Label Intakt erscheint demnächst Arcanum, das bereits vorliegende Live-Dokument im Eigenverlag der Jazzwerkstatt Bern ist eigentlich mehr für Fans, aber unbedingt zu empfehlen.
Das Trio mit Elliott Sharp und Melvin Gibbs war dagegen ein einmaliges Ereignis.
„Gibbs' Trio mit Ronald Shannon Jackson und Bill Frisell war für mich maßgeblich", zeigt sich Lucas Niggli als echter Fan. „Diese Band namens Power Tools, leider nur sehr kurzlebig, war für mich ein Schlüsselerlebnis. Diese Mischung aus atemlos treibenden Grooves, von Freiheit, aber auch Schönheit diese wahnsinnig schönen Melodien - ließ mich immer tiefer in die Welt von Melvin eintauchen. Und als Intakt sich dann vor zwei Jahren in New York präsentieren durfte, wollten sie auch mich mit einer meiner bestehenden Bands dabeihaben. Aber ich wollte nicht den New Yorkern Schweizer Jazz vorspielen. Lieber wollte ich etwas Neues mit New Yorker Musikern auf die Beine stellen. Ich habe dann mit Fred Frith gespielt und mit Tim Berne und mir ein Trio gewünscht mit Elliott und Melvin, was ja kein Problem war, da die auch bei Intakt unter Vertrag sind. Das war natürlich eine tolle Woche in New York. Patrik Landolt von Intakt hat uns dann schnell für einen Tag ins Studio geschickt, und dabei ist Crossing the Waters entstanden. Das Trio war sehr vielschichtig, was das Verständnis untereinander anging, weil wir vom Alter und vom Improvisationsansatz her sehr weit voneinander entfernt waren. Dass es trotzdem gut klingt, ist eigentlich erstaunlich."
Nichts gegen Schönheit!
Nigglis Projekt mit Luciano Biondini und Michel Godard hat sich als langlebiger erwiesen, als es ursprünglich geplant war. Das mit folkloristischen Motiven spielende Trio bringt mit Mavi bereits die zweite CD heraus, und Niggli klingt in diesem Kontext so sanft wie sonst nie. „Die Band gibt es seit mindestens vier Jahren", erinnert sich Lucas Niggli. „Für mich ist sie ein Glücksfall, denn ich wäre nicht auf die Idee gekommen, aber ich bin für jemand anderen eingesprungen. Die Leichtigkeit dieses Trios ist wirklich einzigartig, und ich begreife mich in dieser Umgebung ganz und gar als Jazzschlagzeuger." Dass sich unter all den Originalen auf Mavi dann ausgerechnet Toots Thielemans' früher Hit,„Bluesette" findet, ist eine schöne und äußerst originelle Idee. „Luciano wollte das unbedingt spielen", erzählt Niggli. „Die Jungs stehen auf Schönheit. Ich habe nichts dagegen - die Musik ist so groß, da kann man sich in vielen Berei-chen tummeln. Ich genieße es, auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Ich liebe es, hochkomplexe komponierte Musik zu spielen, ich liebe aber auch ein musikantisches Musiz...