EUROPÄISCHE JAZZLEGENDEN
BEGEGNUNGEN MIT DEN WEG-BEREITERN TEIL 5
„Ich stamme nicht aus den Staaten, ich bin in Europa geboren. Klassik gehört zu meinen Wurzeln wie auch die Musik des skandinavischen Jazz", sagt Geiger Adam Bałdych an anderer Stelle in diesem Heft. Dass wir seine Musik heute ganz selbstverständlich als eine Form von Jazz wahrnehmen, ist nicht zuletzt ein Verdienst der europäischen Jazzpioniere, die wir in dieser Serie würdigen. Autor Götz Bühler und Fotograf Lutz Voigtländer sind für die neueste Folge nach Zürich, München und Helsinki gereist.
PIERRE FAVRE erinnert sich an frühe Lehrstunden als neugieriger Zuschauer vor dem Schlagzeug von Kenny Clarke - und als reaktionsschneller Schlagzeuger im Orchester einer Stripteasebar.
KLAUS DOLDINGER berichtet über große Auslandstourneen mit Gruppen wie AC/DC als Support und zeigt sich mit seinem Schicksal sehr zufrieden.
DUSKO GOYKOVICHS Wohnung erweist sich als eine Art Museum seiner 65 Jahre währenden Karriere, die ihn von Belgrad über Deutschland hinaus in die USA und die ganze Welt geführt hat - viel Stoff für Erinnerungen.
EERO KOIVISTOINEN hat kein Problem damit, wenn ihm andere immer wieder vorwerfen, dass er sich verzettele - als Jazzer sei er nun mal per se kein Purist und für alles Mögliche offen.
PIERRE FAVRE
ICH FINDE ES WICHTIG, DASS DER SCHLAGZEUGER AUCH MELODIEN HAT. DIE LASSEN EINEN FREI.
„Ich bin überall zu Hause, aber hier fühle ich mich wohler", sagt Pierre Favre. Der melodieverliebte Schlagzeuger meint nicht nur die Schweiz oder seinen Bungalow in einem Vorort von Zürich, sondern vor allem: nicht Paris, wo er immerhin 14 Jahre gelebt hat. „In Paris war es mir zu monarchisch. Zu viele Cliquen und zu viele Probleme, wenn man nicht zur richtigen gehört. Aber es ist die beste Kinostadt. Unglaublich, was es da zu sehen gibt! Die Franzosen sind mehr Gesicht und weniger Ohr, die Deutschen mehr Ohr. Das ist die Kultur. Deswegen bin ich immer eher in den deutschsprachigen Ländern. Man hört anders."
Pierre Favre kam vor 76 Jahren in Le Locle, der Wiege der Schweizer Uhrmacherei, zur Welt. Eigentlich wollte er Bauer werden, aber das Schicksal und sein Bruder hatten andere Pläne. „Mein Bruder ist Schriftsteller, aber als junger Mann hat er Akkordeon auf Bällen gespielt. Ich sollte dazu Schlagzeug spielen. Er hat mir das diktiert.
„Das kommt nicht infrage. Ich will Bauer werden." - „Du spielst, weil Mama gesagt hat, dass ich auf dich aufpassen soll - und ich muss auf diesem Ball spielen." Dann hat er mich ans Schlagzeug gesetzt und mir alles gezeigt: Tango, Paso doble ... Der Ball war ja in zehn Tagen, und bis dahin musste ich das können. Und ich habe es gekonnt. Frag mich bitte nicht, wie. Es war dieses Fieber. Das ist heute noch so. Das Fieber ist sogar gestiegen. Ich bin meinem Bruder dankbar dafür."
Schon bald fieberte Favre vor allem für Jazz. „Mein Bruder brachte mich zu einer Jamsession mit einem Max-Roach-artigen Drummer. Ich sage immer, dass ich keinen Lehrer gehabt habe, aber den hatte ich: Ich war zweimal bei ihm. Er hat gesagt:, Mach so: barampampambadadabambam. Das musst du können, aber du kannst es immer wieder umdrehen und damit spielen.' Zwei weitere Dinge hat er mir außerdem gesagt. Erstens:, Wenn du Musik hörst, egal was, dann denke dir immer, ob du dazu etwas beitragen kannst. Wenn nicht, lass die Hände in den Taschen. Das war meisterhaft! Das Zweite war:, Kümmere dich nicht, was die Leute sagen, mach, was du denkst. Man wird dir sagen, es ist modern und nicht gut, kümmere dich nicht drum und mach einfach weiter."
Nach diesen essenziellen Grundsätzen hat Pierre Favre seitdem, wie er sagt, „eigentlich die ganze Jazzgeschichte gespielt". Er war mit Bud Powell zu hören, mit Albert Nicholas, Benny Bailey, Booker Ervin, Mal Waldron, Lil Armstrong und einmal, als er in der Band von Max Greger spielte, auch mit deren Exmann Louis, dazu viel mit der Sängerin Tamia, Albert Mangelsdorff, den Michels Portal und Godard und natürlich im fantastisch freifliegenden Duo mit der Pianistin Irène Schweizer. „Ich habe auch zum Teil mit denen gespielt, die diese Musik ganz am Anfang geprägt und gemacht haben. Das ist sehr familiär: Warst du nicht gut, wurdest du sofort rausgeschmissen, warst du gut, gehörtest du zur Familie. Das ist heutzutage nicht mehr so. Die Produkte kommen heute sehr viel von Schulen, aber unsere Schule war auf dem Podium in diesen Rattenlöchern und das war nicht leicht. Ich war Berufsmusiker mit 17. Ein Kind! Und ich habe so viele Väter gehabt. Sie sagten:,Du bist gut, ich zeig dir was.' Eine Zeit lang habe ich in einem Nachtclub in Basel zum Tanztee gespielt und jeden Nachmittag kam der Saxofonist Benny Waters vorbei. Wenn man ihn fragte, was er da wollte, sagte er:,Ich komme, um nachzusehen, wie es meinem Sohn geht.' Ist das nicht toll? Er hatte mich ausgesucht als einen, den er beschauen wollte, wie er sich entwickelt. Diese Men-talität erlebe ich heute nicht mehr so viel."
Pierre Favre ist nicht sent...