Gespür für Schattierungen und Kontraste
Pierre Favre
An der Anzahl der Schlagzeuger gemessen, ist die Schweiz das afrikanischste Land Europas: Nirgendwo sonst gibt es so viele vorzügliche Drummer. Ob im Jazz, Rock oder der experimentellen Avantgarde im Schlagzeug haben die Schweizer ihr Instrument gefunden. Die Liste reicht von Charly Antolini und Daniel Humair über Fritz Hauser, Fredy Studer, Jojo Mayer und Lucas Niggli bis zu Christian Wol- farth, Julian Sartorius, Samuel Rohrer und Peter Conradin Zumthor. Und über allen thront Pierre Favre: der Doyen des Schweizer Jazzschlagzeugs, der das moderne Trommelspiel entscheidend mitgeprägt hat und einer der wichtigsten Drummer Europas wurde! Am 2. Juni ist er 80 Jahre alt geworden.
Die Faszination der Schweizer für das Trommeln ist nicht leicht zu erklären. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das Schlagzeug ein sehr individuelles Musikinstrument ist und die Eidgenossen große - manchmal leicht verschrobene -Individualisten sind. Denn: Ein Standard-Drum set existiert ja nicht! Jeder Schlagzeuger muss sich sein Instrument selbst zusammenstellen, die Trommeln und Felle auswählen, sich für die passenden Becken und Stöcke entscheiden. Ob es dieser subjektive Faktor ist, der der eigensinnigen Mentalität vieler eidgenössischer Musiker entgegen kommt? Bei Pierre Favre könnte das stimmen. Ein Blick auf sein Schlagzeug offenbart ein Instrument, das es so nicht noch einmal auf dem Planeten gibt und das aus einer Vielzahl ethnischer Trommeln, einem Riesentambourin, einem Wald aus Metallbecken, diversen Glocken, Holzblöcken und Gongs zusammengebaut ist. An diesem Schlagzeug verbringt Favre seine Tage, wenn er nicht gerade zu Konzerten unterwegs ist. Er arbeitet an Kompositionen, probt mit seinem Ensemble, probiert ein neues Trommelteil aus oder bereitet sich auf einen So loauftritt vor.
„In dem Tal, aus dem ich komme, ist der Himmel hoch und die Talschle tief, und manchmal werden beide eins. Es gibt extremes Licht, wenn die Sonne scheint. Es kann aber auch stockfinster werden, wenn ein Gewitter aufzieht. Dann rumpelt es richtig", erzählt Pierre Favre, der heute in Uster bei Zürich lebt, von seiner Heimatgemeinde Le Locle im Schweizer Jura. Dort ist er 1937 geboren. Vielleicht rührt aus der Kindheit sein Gespür für Schattierungen und Kontraste her, das seine Musik prägt: Zarte, ja fast romantische Sequenzen stehen dunklen Klangballungen gegenüber, wo es blitzt und kracht. Doch Favre spielt nicht den Donnergott, ihm geht es um etwas anderes: Er ist ein Klangmaler, der mit Trommelstöcken, Stricknadeln oder Reisigbesen expressive Tongemälde entwirft, von luftigen Linien durchzogen und harschen Schraffuren unterlegt.
Zum Schlagzeug kam er nicht freiwillig. „Mein Bruder spielte auf Tanzfesten Akkordeon", erinnert er sich an seine Jugend. „Er brauchte einen Schlagzeuger und sagte: 'Keine Diskussion! Du machst das!" Von Anfang an war der Teenager mit Begeisterung dabei: „Ich habe immer geklopft und getrommelt: mit den Händen, mit den Fingern - überall." Sein Talent sprach sich herum. Ein paar Monate später und schon frag- ten Amateurjazzgruppen auf der Suche nach einem Drummer bei ihm an. Favre hatte insgesamt nur eine einzige Unterrichtsstunde. „Der
Lehrer zeigte mir ein paar Grundrhythmen und was man damit machen kann", erinnert er sich. Dann sagte er: 'Wenn du mit einer Band „ spielst, muss du dich fragen: Kann ich dazu etwas spielen, was die Musik besser macht. Wenn nicht, lasse die Hände in den Hosentaschen.' Das war ein kiuger Ratschlag."
Ziemlich kometenhaft verlief danach seine Karriere. Schon als 19-Jähriger sorgte er in München in der Big Band von Max Greger für Swing und Drive. Doch volllkommen befriedigen konnte ihn das nicht. Wann immer es die Zeit erlaubte, jammte er in den Jazzclubs der bayerischen Landeshauptstadt mit Joe Haider, Don Menza oder Benny Bailey, manchmal auch mit Stars wie Chet Baker oder Bud Powell, die sein unbestechliches Zeitgefühl schätzten. Er blieb fünf Jahre an der Isar.
1966 kehrte Favre in die Schweiz zurück, um bei der Firma Paiste in Nottwil, bekannt durch ihre exzellenten Schlagzeugbecken, zu arbeiten. „Was heute der Drummer-Service ist, habe ich damals gegründet", erzählt Favre. „Ich habe den Job allerdings nur unter der Bedingung angenommen, dass ich für Auftritte jederzeit frei bekäme. Das war mir wichtig."
In dieser Zeit begann eine intensive Zusammenarbeit mit der Pianistin Irène Schweizer, der er ebenfalls bei Paiste einen Job verschaffte - als seine Sekretärin: Jetzt konnten die beiden selbst während der Arbeitszeit miteinander musizieren. Sie holten den deutschen Bassisten Peter Kowald ins Boot, der daraufhin in die Schweiz zog, später kam noch der englische Saxophonist Evan Parker dazu, was das Ensemble zu einer der Spitzengruppen des europäischen Free Jazz machte. „Wir wollten nicht mehr die Amerikaner kopieren, sondern unsere eigene Sprache finden", beschreibt Favre die Vision. Mit Irène Schweizer tritt er bis heute im...