Mit kollektivem Geist
Christoph Irniger
Das 2012 gegründete Trio des Schweizer Tenorsaxofonisten Christoph Irniger tritt bei „Open City" mit einer um Nils Wogram und Loren Stillman erweiterten Frontline auf. Nun spielen sie mit neuen Akzenten einen direkteren Stil, der nach Aufrichtigkeit strebt, und bieten so einen überzeugend strukturierten Jazz, der sehr gut ankommt.
sonic: Im Booklet steht, dass dich zum Titel deiner CD inspiriert beziehungsweise dass du dich in dem Protagonisten Coles Julius wiedererkannt hast.
Christoph Irniger: Die Komposition ist inspiriert von Jarm-Sessions, an denen ich 2015 in New York beteiligt war. Da sie keine Harmonien hat und in den Solos eigentlich alles möglich ist, passte für mich der Begriff Open City perfekt. Die Offenheit, welche diese Komposition zulässt, in Kombination mit der Inspirationsquelle und den Gedanken an New York sowie dem Kontext dieser Geschichte von Teju Cole führten dann zu dem Titel. Das Stück, dessen Form ein offener 11-Takt-Blues ist, sowie der Begriff Open City funktionieren für mich als Verbindung, als Kit der Geschichte. Dieser Gedanke der Bodenständigkeit des Blues und gedanklichen Offenheit bildet die Ausgangslage fur den Weg durch die verschiedenen Geschichten und Träume zu sich selbst, wobei eben das Abschweifen und Ungeplante Teil des Prozesses ist so wie bei Julius. Selber habe ich zuweilen Mühe zu fokussieren und schweife auch gerne mal ab im Gespräch, in meinen Gedanken oder beim Saxofonüben. In New York hatte ich aber einmal ein sehr interessantes Gespräch zu diesem Thema mit Mark Helias. Er erzählte mir, dass er selber im Abschweifen seine Kreativität gefunden habe. Daraufhin hörte ich auf, mich dauernd gegen das Abschweifen während des Übens zu wehren und begann damit, diesen Umstand für mich kreativ zu nutzen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, als Musiker oder vielleicht grundsätzlich als Mensch- zu merken, was der eigene Weg ist oder wie man selbst am besten übt, lernt und sich ausdrücken kann.
sonic: Sind Tagträumer lieber in der Fantasie unterwegs, weil man die selbst nach Belieben steuern kann?
Christoph Irniger: Nein, also zumindest in meinem Fall nicht. Die Tag- träumerei kann sowohl Segen wie Fluch sein, je nachdem, ob die Gedanken positiv oder negativ sind und ob man in der Lage ist, sie zu kontrollieren, also auch mal auszuschalten. Lebhafte Gedanken und eine ausgeprägte Vorstellungskraft können also Kreativität und den Erfindungsgeist begünstigen, jedoch ebenso den Schlaf rauben oder die Spirale abwärts fördern. Außerdem reden wir hier nicht von einem Zwang. Meine Tagträumerei und das Abschweifen sind im Maß und ich kann mich durchaus konzentrieren und etwas fokussiert zu Ende bringen, wenn ich will.
sonic: Spiegeln sich deine Tagträume in deiner Musik?
Christoph Irniger: „Open City", was, wie bereits beschrieben, für Bodenständigkeit und gleichzeitig Offenheit steht, ist ein geerdeter Zustand, wo jedoch alles jederzeit möglich ist. Er hält die verschiedenen Episoden einer Geschichte oder die Geschichten eines Lebens zusam- men. Die zehn Stücke dieses Albums stammen aus verschiedenen Jahren, drehen sich um vielfältige Themen und sind konzeptionell sehr unterschiedlich. Der Gedanke „Open City" aber hält sie zusammen und verschweißt sie zu einem gemeinsamen Statement.
sonic: Dein Trio hast du hier um den Saxofonisten Loren Stillman und Posaunist Nils Wogram erweitert. Wie bist du auf den New Yorker Stillman gekommen und was schätzt du an ihm als Saxofonist und als Mensch?
Christoph Irniger: Loren kannte ich vor unserer Zusammenarbeit nur flüchtig. Er war immer mein Traumkandidat für eine Erweiterung der Gruppe und als ich hörte, dass er nach Köln gezogen war, habe ich ihn angefragt. Als Mensch mag ich an ihm die Kombination aus Humor und Tiefgründigkeit, als Saxofonist seine Fähigkeit, Ideen klar zu formulieren und zu Ende zu bringen. Es ist unglaublich, wie er jede Phrase perfekt ausspielen kann, als wäre es komponiert, und dabei immer frisch und aus dem Moment heraus spielt, also im besten Sinne improvisiert.
sonic: Und wieso Nils Wogram, warum die Posaune?
Christoph Irniger: Im November 2019 spielten wir ein Konzert am Un- erhört Festival in Zürich bereits mit Loren Stillman. Irgendwie war ich allerdings danach noch nicht richtig zufrieden mit dem Bandsound, denn es ging mit den zwei Saxofonen und der Rhythmusgruppe in eine zu klischierte Richtung, und der Bandsound des ursprünglichen Trios ging völlig verloren. Als ich dann über Neujahr an die Planung der Aufnahme von „Open City" ging, kam mir auf die Antwort all meiner Fragen Nils in den Sinn. Ich suchte nach etwas, das Ruhe reinbrachte, das Klangspektrum erweiterte und ganz wichtig das Trio und dessen Bandsound stärkte. Durch die Dramaturgie und Orchestration der einzelnen Stücke denke ich, kommt nun das Trio wieder sehr stark zur Geltung, was mir vordringlich war, denn: Es ist keine neue Band!
sonic: Das Trio besteht nun schon einige Jahre mit Raffaele ...