Freie Improvisation wir benutzen diesen Begriff, als handle es sich dabei um ein musikalisches Genre. Doch geht es dabei nicht eher um ein Verhältnis des Ausführenden zu seiner Musik, das im Ohr zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen kann? Oder was haben die Improvisationen von Peter Brötzmann und Keith Jarrett sonst ge- meinsam? Die amerikanische Pianistin Marilyn Crispell unterscheidet sich von den meisten anderen Vertretern der freien Improvisation nicht nur durch ihren persönlichen Ton, sondern durch eine grundsätzlich entgegengesetzte Haltung.
Zu den Mythen der Improvisation gehört cs, den Moment zu spielen. Marilyr Crispell setzt diesem Prinzip das Spiel in der unendlichen
Ausdehnung entgegen. Ihr spielerischer Augenblick ist niemals Icsgelöst von einem Anfang, der lange zurückliegt, und einem Ziel in weiter Ferne. Und während sie spielt, dehnen sich diese beiden Pole immer weiter aus. Wie bei einem Farnblatt, dessen Mikrostrukturen stets eine Abbildung des Ganzen sind, bildet sich bei der Pianistin im spielerischen Punkt stets ihr Lebenswerk ab. Muskelspielereien, die in diesem musikalischen Umfeld leider zum unangerehmen Normalfall geworden sind, wird man bei ihr nicht finden. "Man kann das aber nicht planen", versucht die bescheidene Musikerin tiefzustapeln, "denn es hängt von so vielen Faktoren ab, wie dem Publikum, dem Raum, dem Piano, den Musikern, mit denen du spielst, nicht zuletzt meiner eigenen Verfassung an dem betreffenden Tag und meinem Leben als Ganzes. All das kommt in dem einen Moment zusammen."
Doch das allein ist es nicht. Marilyn Cris- pell erliegt niemals der Versuchung, sich über die Quantität ihrer Anschläge zu definieren. Es geht ihr nicht darum, den Raum mit so vielen Tören wie möglich vollzustopfen, sondern je der einzelne Ton wird bei ihr geboren, zogen und zu einem eigenständigen Leben in die Welt geschickt. Jede Note hat Bedeutung und all diese Bedeutungen ergeben im Kontext eine Geschichte. "Ich spiele stets mit Intention. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Kontrolle. Es ist viel mehr mit einer meditativen Komponente vor Anwesenheit vergleichbar. Als ich klassische Musik spielte. dachte ich während des Spiels zum Beispiel darüber nach, was es zum Abendessen geben wird. Das passiert mir nicht, wenn ich im- provisiere. Ich bin total präsent. Ich gebe den Dingen ihren Lauf, basierend auf all den Erfahrungen, die ich in der Musik bisher sam- mein konnte, seit ich sieben war. All das ist da, wenn ich spiele."
Womit wir boi Marilyn Crispolls Laufbahn wären. Ihre Anfänge sager viel über ihre Klang-kultur. Sie begann mit sieben Jahren Klavier zu spielen und fühlte sich zunächst der Klassik zugetan. 1968 schloss sie ihr Musikstudium ab, schlug aber erst einmal eine medizinische Laufbahn ein, bevor sie sich unter dem Einfluss von Karl Berger, Roscoe Mitchell und vor allem Anthony Braxton dem Jazz und der freien Improvisation öffnete. Alle drei Kompo- nenten haben sich bis heute in ihrem Spiel orhalten. Sic wirkt nic wic cinc Musikerin, dio spielen muss. Marilyn Crispell umweht die Aura einer Künstlerin, die spielen darf, weil sie sich jedes Mal wieder wie am Beginn ihrer Laufbahn aus freien Stücken dazu entscheidet. Die Klassik-Erfahrung hat sich bis heute auf ihre Tongebung nicdergeschlagen. Jodo Note wird formuliert und mocelliert, alles ist spontan und intuitiv, nichts jedoch zufällig, weil allem eine innere Notwendigkeit zugrunde liegt. Was nicht notwendig ist, kann weggelassen werden. Auf diese Weise fliessen bei der Pianistin Pragmatismus und Romantizismus auf eine sehr persönliche Weise zusammen.
Und schliesslich Arthony Braxton. Zehn Jahre lang hat sie seinem Quartett angehört. Braxton setzte sich mit seinem kammermu- sikalischen Zugang schon in den Hochzeiten des Free Jazz über den Männlichkeitskult vieler seiner Kollegen hinweg. Die Pianistin wirkte in seiner Umgebung teilweise fast wie ein maskulines Korrektiv zu dem Saxophonisten. Sie selbst gibt heute zu, es damals als Kompliment empfunden zu haben, wenn ihr bescheinigt wurde, wie ein Mann zu spielen. In den 1980er-Jahren bedeutete es für eine improvisierende Pianistin noch etwas anderes als heute, sich in der patriarchalischen Jazzwelt durchzusetzen. Jüngere Kolleginnen wie Myra Melford oder Kris Davis haben ihr viel zu verdanken. Es kostete sie viel Zeit, Überwindung und Selbstreflexion, ihre Weiblichkeit zuzulassen. Doch ihr Album "Hyperion" (1995) aufgezeigt, dass sie mit ihrer unaufdringlichen Art selbst einem Fundamentalisten wie Peter Brötz- mann eine gewisse Geschmeidigkeit abringen kann.
Marilyn Crispell hat die seltene Gabe, sich einzulasser, und dieses Einlassen geht über einzelne Produktionen und singuläre Konzerte hinaus. Das hat viel mehr mit Persönlichkeiten als mit musikalischen Auffassungen zutun. Ihr Album "Interference" zum Beispiel, das sie ebenfalls 1995 im Duc mit Tim Berne aufnahm, zeugt bereits von genau der gleichen Dialogkultur wie ihre jüngste Produktion 'Table of Changes" i...