Voyeuristisch begabt sind wir wahrscheinlich alle. Die Tendenz zum Zuschauen, heimlich oder offen, verstärkten die letzten Monate mit Stream und Daseins-Statik eher noch. Das ist mit, aber nicht der wesentliche Grund, warum wir das Foto auf dieser Seite groß drucken. Es ist schön und mehrdeutig. Und zeigt den Pianisten Cecil Taylor, wie er sich 1975 Irène Schweizer, der wir ein Cover sowie eine große Geschichte widmen, beim ersten Festival in Willisau unbeobachtet - abgesehen vom Voyeur hinter ihm - beguckt (und den John Tchicai neben ihr); ihrem Spiel vermutlich auch zuhört. Taylor, es ist nicht verkehrt, dies zu wissen, wirkte auf Schweizer stark ein - und man darf sich, schauen Sie genauer hin, fragen: Ging das eventuell auch vice versa? Wir leisten uns ein zweites Cover, weil: Die Musik des Stephan Micus ist eigen genug, um sie eigens herauszustellen. Seit Jahrzehnten macht er die und wird wahrgenom-men, aber zu wenig, scheint uns. Die Visite bei ihm auf Mallorca machte Micus klarer, zeigte ihn im Spannungsfeld, allerdings ohne ihn und seine Musik - Vorhang beiseite und: erkannt & fest fixiert - ganz freizulegen. Das darf sein. Warum auf Vollständigkeit pochen, die nicht zu haben ist; man täuscht doch nur vor. Nein. Ein Porträt ist stets ungelenke Skizze, jedweden Menschen packt man nie komplett ein, schon gar nicht mit Worten. Selbst wenn man sich drei Nachmittage/ Abende und toll bewirtet - vielen Dank, liebe Adela - beobachtet und intensiv über dies und das, auch jenseits der Musik, redet - to catch a ghost fast: der Mensch bleibt letztlich unfixierbar, bleibt spannende Vorläufigkeit, bleibt Bruchwerk. Erhellende Freude wünscht Adam Olschewski
Als junge Frau sprengte diese auch politisch engagierte Pianistin alle Fesseln; ihr späteres Werk verbindet vorbildlich Freiheit mit Form; erst vor kurzen ist sie Achtzig geworden: IRÈNE SCHWEIZER. Eine Würdigung.
FEIERLICHKEIT LIEGT IHR eigentlich nicht, und wenn sie gar selbst gefeiert werden soll, wirkt sie befangen und blickt so verlegen herum, als wollte sie fragen: »Wo ist hier der Notausgang?«. Am Ende aber hat sie sich doch gefreut, am 4. Juni, zwei Tage nach ihrem achtzigsten Geburtstag, im Kulturhaus Helferei, das zum Zürcher Grossmüns-ter gehört und einst der Wohnsitz des Reformators Ulrich Zwingli war. Patrik Landolt, der Gründer und langjährige Leiter des Labels Intakt, dazu ein langjähriger enger Freund von Irène Schweizer, hatte den Anlass organisiert und führte durch den Abend, der Jazzpublizist Bert Noglik hielt die Laudatio. Stadtpräsidentin Corine Mauch und Regierungsratspräsidentin Jaqueline Fehr, beide gestandene So-zialdemokratinnen, ließen es sich nicht nehmen, der Musikerin, die nicht nur für den Free Tazz, sondern auch für die Schweizer Frauen- und Lesbenbewegung von eminenter Bedeutung war, die Reverenz zu erweisen. Ihren Reden war anzumerken, dass es hier um mehr ging als um amtliche Pflichterfüllung. Musikalische Beiträge der Saxophonistin Co Streiff und der Sängerin La Lupa sowie eine hinreißende, zum Akkordeon vorgetragene Hommage der Free Jazz-Legende Rüdiger Carl, der schon von 1973 an viel mit Irène Schweizer zusammengearbeitet hatte, machten die intime Feier auch zu einem musikalischen Ereignis. Freunde aus aller Welt waren angereist, und es wären noch sehr viele mehr gekom-men, wenn die Corona-Bedingungen es erlaubt hätten. Dass Irène Schweizer eine der bedeutenden Figuren im Jazz der letzten fünfzig Jahre ist, eine Persönlichkeit, deren Namen man stets mit einer gewissen Ehrfurcht nennt, würde man nicht denken, wenn man sie besucht. Wenn ich sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten um ein Gespräch bat, erwiderte sie stets, am einfachsten träfen wir uns doch bei ihr zu Hause, und dann kam mir jeweils Bertolt Brechts Kurztext »Zwei Städte« in den Sinn, eine seiner Geschichten um Herrn Keuner, den listigen Niemand: Herr K. zog die Stadt B der Stadt A vor. ›In der Stadt A‹, sagte er, liebt man mich; aber in der Stadt B war man zu mir freundlich. In der Stadt A machte man sich mir nützlich, aber in der Stadt B
brauchte man mich. In der Stadt A bat man mich an den Tisch, aber in der Stadt B bat man mich in die Küche.«« Irène Schweizer bittet ihre Besucher in die Küche, und man sitzt in der stets penibel aufgeräumten Wohnung im Zürcher Stadtkreis 4 einem Menschen gegenüber, der lieber gebraucht als verehrt wird. Einer Person, die am liebsten mit dem Fahrrad zum Einkaufen fährt und der in dem dezent renovierten Altbau die ausgetretene Treppe zum obersten Stockwerk immer noch vertrauter ist als der später eingebaute Lift. Sie genießt den Blick auf Innenhöfe, auf das sprießende Grün, auf das Lochergut, eine in den 1960er-Jahren erbaute Hochhaus-Wohnsiedlung im Besitz der Stadt, aber auch auf den nahen Üetliberg. Hier lässt es sich leben! Zum Glück gehört das Haus keinem »Speki«, wie Irène Schweizer die Immobilienspekulanten nennt, sondern einem mieterfreundlichen Menschen. Deshalb kann sie hier seit langem wohnen. Im Wohnzimmer st...