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Woher kommt die Schweizer Liebe zum Jazz? | Die Zeit, Ulrich Stock, 2018

Woher kommt die Schweizer Liebe zum Jazz? | Die Zeit, Ulrich Stock, 2018

Nicht nur Schweizer reagieren verblüfft auf die Frage, auch Nichtschweizer. Denn unter den Jazzhörern gibt es viele, die sich ihrer Liebe zum Jazz erst bewusst werden, wenn sie Zeit haben, darüber nachzudenken. Die schönste Antwort gibt Patrik Landolt, der das Zürcher Label Intakt führt. Er zitiert den Schriftsteller Robert Walser: »Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas.« Die Schweizer arbeiten sich an der Musik ab. Eine Musik, die ihnen etwas gibt, müsste erst noch erfunden werden.

Dies erklärt den Innovationsdrang vieler Jazzmusiker. Niemand erwartet von ihnen, eine Tradition fortzusetzen. Es darf, es soll originell sein. Eigene Musik für ein Volk von Eigenbrötlern, Uhrenfummlern, Tunnelbohrern, denen auf einem topografisch anspruchsvollen Territorium alles Nichtschwierige als zu simpel erscheint.

Die Westschweizer Gitarristin und Sängerin Claire Huguenin denkt ähnlich: Der Einfallsreichtum der Tüftler, die Fantasie der Ingenieure, diese ewige Suche nach der nicht erstbesten Lösung finde im Jazz eine Entsprechung. Der in den Bergen fehlende Horizont wecke zudem den Wunsch nach Freiheit. Und freie Musik verwende oft Klänge, die an die Geräusche der Natur erinnerten. »Die Schweizer mögen Offenes, Sinnliches, weil sie einen starken Sinn für die Natur haben.«

Der Zürcher Pianist Nik Bärtsch, global unter-wegs, kommt noch mal auf die Tradition zurück: Nicht nur orientiere man sich wenig an ihr, es gebe kaum eine. Das sei anders in Norwegen oder Lettland mit ihren Chören oder beim Wiener Akkordeonschmäh, der sein Echo im Spiel von Joe Zawinul fand, dem Tastenmann von Miles Davis. Welchen Schweizer Klassik-Komponisten von Weltrang gebe es denn? »Keinen Mozart, keinen Beethoven, keinen Verdi, keinen Liszt.« Aber deren Musik sei immer da gewesen. Die Schweizer hätten immer alles hören und sehen können, schon Louis Armstrong sei hier aufgetreten.

»Der Amerikaner Duke Ellington hat den Südafrikaner Dollar Brand 1963 in der Schweiz entdeckt«, sekundiert ihm Patrik Landolt vom Intakt-Label. »Er hat ihn im Zürcher Café Africa-na gehört und nach Paris geholt. Da gibt es sogar eine Platte: Duke Ellington Presents the Dollar Brand Trio«.

Der Eigenbrötlerei stellt Landolt die Welthaltigkeit entgegen. »Wir sind ein Opfer der Tourismuswerbung. Von außen sieht man immer nur die ländliche Schweiz, die Milch, den Käse, die Schokolade. Man sieht nicht, wie difterenziert die Schweiz ist. Wir haben 32 Prozent Migranten in Zürich.« Welche Musik passe da besser als eine, die selbst aus der Migration entstand?

Im 19. Jahrhundert seien noch Schweizer ausgewandert, im 20. habe sich das umgekehrt. Heute gebe es die Agglomerationen von Zürich, Basel, Genf und Lausanne, die Chemie und die Banken, und die jungen Schweizer bewegten sich selbstverständlich in New York, China und Japan. »Das ist die Dichte der Globalisierung.«

Jetzt hat Fredy Studer aus Luzern das Wort. Er spielt ein Instrument, das als Schweizer Domäne gilt, gern abgeleitet von der Basler Fasnacht: »Ja«, seufzt er, »der Mythos Schlagzeug.«
Er selbst, inzwischen 70, kam als junger Mann weniger durch Mummenschanz auf den Geschmack als durch internationale Impulse. Elvis Presley, Bill Haley, die Existenzialisten: »Take Five von Dave Brubeck war ein Nummer-1-Hit.« Die Beatwelle, Jimi Hendrix, dessen Schlagzeuger Mitch Mitchell, »und dann ging man in den Laden und holte sich eine Coltrane-Platte. Es waren natürlich auch Drogen im Spiel, wir haben hochkomplexe Musik intuitiv erfahren.«
Studer hat gerade ein Lebenswerk vorgelegt, Now's the Time, erschienen in Bern bei Everest Records, ein imposanter Schuber mit einer 224-Seiten-Biografie und Doppel-Vinyl, darauf Solo-Schlagzeug von einer melodischen Raffinesse und Tariertheit, die ihresgleichen suchen; ein teinstofflicher Genuss, die Essenz aus fünf Dekaden.

Zwei Gründe noch, vielleicht die wichtigsten. »Selbst auf dem Land ist die Bevölkerung gebildet«, sagt der deutsche Posaunist Nils Wogram, der mit einer Schweizerin verheiratet ist. »Die Leute finden Zugang zu einer Musik, die nicht den üblichen Normen entspricht.« Und schließlich: »Es ist Geld da.« Viele Musiker könnten vom gut bezahlten Unterrichten leben statt von den schlechten Gagen. An den exzellenten Jazzschulen würden Lehrer aus aller Welt beschäftigt. Es gebe Stiftungen und Mäzene, wie sie Nik Bärtsch unterstützten, der seit Jahren mit seiner Band jeden Montag in Zürich spiele.

»In Berlin wäre das nicht denkbar.«

 

Ulrich Stock, bei der ZEIT zuständig für Jazz

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